Als die Vorstellung am Donnerstag, den 25. Januar 24, begann, war noch nicht abzusehen, dass sie schicksalhaft sein würde. Die Tragödie „Illusionen – wie Schwanensee“, eine szenisch genial modernisierte Version von Tschaikowskys „Schwanensee“ durch Deutschlands größten Ballettmacher John Neumeier, stand beim Hamburg Ballett nach längerer Zeit wieder auf dem Spielplan. Doch während der Aufführung ereignete sich ein folgenschwerer Unfall: Edvin Revazov, der die Hauptpartie des Königs an diesem Abend tanzte, verletzte sich. Vorhang. John Neumeier trat vors Publikum und erklärte, dass aufgrund dieses Vorkommnis ein anderer Tänzer in der Rolle des Königs die Vorstellung vollenden werde. Kein Problem: Der als Ballerino vielseitig begabte, zudem in Neumeier-Stücken versierte Christopher Evans sprang auch in den folgenden Vorstellungen, für die Revazov eingeteilt war, für ihn ein. Auch bei der kommenden Wiederaufnahme von Neumeiers Meisterwerk „Odyssee“ ist Christopher Evans gefragt: als Odysseus und Partner von Anna Laudere als Penelope. Der 1994 in den USA geborene Startänzer Evans macht seit 2012 eine rasante Karriere in Hamburg, seit 2018 als Erster Solist. Albert, Armand, Günther, Kostja, Basil hat er getanzt: den Ballettfans sind Evans Qualitäten bestens vertraut. Die premierenähnliche erste Vorstellung der „Odyssee“ in dieser Saison – punktgenau an Neumeiers 85. Geburtstag für den 24. Februar 24 angesetzt – wird allerdings der Publikumsliebling Alexandr Trusch tanzen, mit der zarten Charlotte Larzelere an seiner Seite. Larzelere, Jahrgang 1998, begeistert zurzeit als Prinzessin Natalia in „Illusionen – wie Schwanensee“. Mit der zierlichen, erotischen, braunäugigen Blondine aus Texas entwickelt sich, wenn mich mein Instinkt nicht trügt, ein kommender Weltstar in Hamburg.
Schauspielfreude, Präzision und Ausstrahlung: Diese drei Tugenden bewies Charlotte Larzelere bereits als Hermia in Neumeiers „Ein Sommernachtstraum“. Sie verlieh der teils umschwärmten, teils verschmähten Liebhaberin in der Shakespeare-Komödie mit ihren schönen Gliedmaßen und dem hingebungsvollen Gesichtsausdruck soviel psychologische Tiefe, dass man die Hermia glattweg als Hauptfigur wahrnahm.
Auch als Natalia kann Charlotte Larzelere mit Tiefgang punkten: Das historische Vorbild für die Partie ist Prinzessin Sophie in Bayern (nicht von Bayern), deren Schwester „Sisi“ den österreichischen Kaiser geheiratet hatte. Elisabeth, also Sisi, fehlt in Neumeiers vertanztem bayerischem Adelskompendium. Aber Sophie, die ebenso wie Sisi mit Ludwig II. seit Kindesbeinen befreundet war und für ihn mit begabtem Sopran oft Wagner-Arien sang, erscheint in „Illusionen – wie Schwanensee“ als Prinzessin Natalia: als die letztlich kreuzunglückliche und verstoßene Verlobte von Ludwig.
Der König ließ diese junge Frau, der er nur auf Drängen ihrer Mutter Ludovika überhaupt einen Heiratsantrag gemacht hatte, nicht wirklich an sich heran. Die Hochzeit verschob er zunächst, was für alle Beteiligten schon peinlich war. Schließlich schob er die Braut, die sich indes anderweitig, aber auch unglücklich – nämlich in einen Bürgerlichen – verliebt hatte, ganz ab. Zwar war sie zuvor jahrelang die „Gabi“, also die Busenfreundin, des Königs gewesen. Aber seine Homosexualität war so stark, dass sie die sexuelle Beziehung zu einer Frau ausschloss. Darüber war sich Ludwig wohl zunächst selbst nicht im Klaren.
Im Neumeier-Ballett gibt es einen anrührenden, sehr intimen Pas de deux, in dem Natalia sich im schwaneninspirierten Kostüm nach einem Maskenball um die Liebe des Königs bemüht. Vergebens. Sie sinkt traurig zu Boden, erniedrigt von der geplatzten Illusion, den ziemlich offenkundig schwulen König nach jahrelanger Freundschaft doch noch verliebt zu machen.
Charlotte Larzelere nach dieser Rollen-Erfahrung als Penelope zu sehen, wird wohl ein großes Erlebnis werden. Denn auch Penelope hat es nicht leicht mit ihrem Partner. Odysseus ist zwar nicht schwul, aber von zügelloser Abenteuerlust beseelt. Und so muss Penelope in seiner Abwesenheit allein regieren und sich dabei auch gegen fast gewalttätig aufdringliche Freier wehren. Das gelingt ihr nur mit einer List: Sie gibt vor, noch ein Totentuch für den schwachen Schwiegervater weben zu wollen, bevor sie sich neu verheiratet. Odysseus war ja bereits für tot erklärt. Aber dann vernichtet Penelope nachts heimlich alles, was sie tagsüber am Webstuhl vollbracht hat, sodass ihre Webarbeit nie fertig werden konnte. Als Odysseus endlich wieder auftaucht, muss er als erstes die unverschämten Freier niedermachen und die eigene Gattin von den Belagerern befreien.
Der antike Held Odysseus verbrachte den Großteil seines Lebens auf gefährlichen Reisen über See, verweilte auch mal unehelich jahrelang bei einer anderen schönen Frau und kehrte zwar schließlich zu seiner Gattin Penelope nach Ithaka zurück, allerdings nur, um alsbald erneut aufzubrechen. In einer Version des antiken Mythos sehen sich die Eheleute danach nie wieder, in einer anderen gelingt eine dauerhafte, fast bürgerliche Nähe.
Das Miteinander der beiden Ehepartner steht jedoch stets auf dem Prüfstein.
Bei John Neumeier wird das Leben von Odysseus in Dekaden eingeteilt: zehn Jahren Irrfahrt und zehn Jahren Rückkehr werden zehn Jahre Heilung nach zehn Jahren Krieg entgegengesetzt.
Odysseus, so Neumeier, muss nach einer langen Zeit des Kampfes und kriegerischen Daseins zurück zu seiner weiblichen Seite finden, die hier nicht nur in ihm selbst besteht, sondern auch in seiner liebenden und lange tapfer auf ihn wartenden Gattin Penelope.
Zur Musik von George Couroupos – einem Auftragswerk – wurde das knapp dreistündige Werk 1995 in Athen uraufgeführt. Ivan Liska und Anna Polikarpova tanzten Odysseus und Penelope – und sie taten das zuletzt in einem groß angelegten Pas de deux aus der „Odyssee“ bei der „Nijinsky-Gala“ von John Neumeier 2013. Unglaublich schön, wie die nicht mehr jungen Körper der beiden Stars sich den schwierigen Hebungen und tänzerischen Verwicklungen stellen konnten.
Wenn man eine Odyssee hinter sich gebracht hat, weiß man ja, wovon man spricht. Eine Odyssee bezeichnet eine lange, abenteuerliche Irrfahrt: Der Held Odysseus ging damit in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.
Hoffen wir, dass dem Hamburg Ballett keine solche Ära bevorsteht, denn kommende Spielzeit gibt Neumeier das Ruder seines Flaggschiffs bekanntlich ab und übergibt die Leitung vom Hamburg Ballett an den jungen Deutsch-Argentinier Demis Volpi. Zumindest offiziell…
Gisela Sonnenburg