Kürzlich wurde er 74 Jahre alt. Das hält William „Billy“ Forsythe aber nicht davon ab, international zu arbeiten. Der Choreograf, schon seit über 50 Jahren in diesem Metier tätig und zudem als bildender Künstler mit Installationen in Museen vertreten, wirbelt mitunter viel Staub auf. „Der ewige Avantgardist“ habe ich ihn hier im Ballett-Journal schon genannt; mit seinen Arbeiten wie „Herman Schmerman“ und „In the Middle, Somewhat Elevated“ ist er aber auch oft auf Galas und mit weiteren Stücken im Repertoire bedeutender Compagnien vertreten. Das Semperoper Ballett tanzte seine Werke vor einigen Jahren auf Weltklasse-Niveau, etwa sein hintergründig-witziges abendfüllendes Stück „Impressing the Czar“. Und erst vor wenigen Tagen premierten seine „Blake Works I“ beim Stuttgarter Ballett (hier geht es zur Rezension). Just dieses Stück wird nun – am 16. Februar 24 – auch das Finale der kommenden Premiere „William Forsythe“ beim Staatsballett Berlin sein. Hausherr Christian Spuck (Ballettintendant) und seine Dramaturgin Katja Wiegend luden Forsythe heute vormittag zur „Einführungsmatinee: William Forsythe“: Das bestuhlte Foyer der Deutschen Oper Berlin war mit Neugierigen sozusagen prall gefüllt.
Forsythe studierte nicht nur praktischen Tanz, sondern auch Tanzwissenschaft in den USA, und obwohl er Tänzer war – zufällig auch der letzte, den der Stuttgarter Ballettvater John Cranko kurz vor seinem Tod noch selbst unter Vertrag nahm – liegt sein eigentliches Talent im Schöpferischen.
Sein Großvater war ein österreichischer Konzertmeister. Als er „Willi“, wie Forsythe damals noch genannt wurde, vergeblich fürs Geigenspiel zu begeistern suchte, stellte er fest: „Du wirst nie gut Geige spielen, aber du wärst ein fabelhafter Dirigent.“
Heute weiß man: „Billy“ (oder auch „Bill“), wie Forsythe mittlerweise genannt wird, hat vor allem mit Tanz und Körpern, aber auch mit Dingen im Raum zu tun.
Sein akrobatisch-zackiger Stil verlangt den Tänzern oft Höchstleistungen ab, aber zum Glück für Forsythe lieben viele professionelle Tänzerinnen und Tänzer solche Herausforderungen. Wenn er feststellt, die Tänzer würden das Theater ausmachen, nicht der Choreograf, ist das sachlich zwar nicht ganz richtig. Aber er betont immer wieder, dass er die Tänzer liebe, man sie bewundern solle und sie auch Verantwortung tragen würden.
Es ist Forsythes Spezialität, seine fertigen Stücke keineswegs so zu belassen, wie sie einmal sind. Ziemlich häufig arbeitet William Forsythe, wenn er eines seiner Stücke nach einiger Zeit wieder einstudiert, sogar so heftig an dem Tanz, dass ein Wiedererkennen später manchmal erschwert wird. Wenn für ihn neue Tänzerinnen und Tänzer an der Einstudierung und Kreation beteiligt sind, ist ihm das oftmals eine besonders willkommene Inspiration.
Die berühmtesten Werke ändert er allerdings wohl deutlich weniger und seltener als jene Stücke, die noch nicht in aller Munde sind. Aber für Tiler Peck, eine hoch begabte, privat jedoch zeitweise vom Unglück verfolgte Primaballerina vom New York City Ballet, änderte er, das verrät er auf Nachfrage hintergründig lächelnd, sogar seinen „Herman Schmerman“.
Wenn tolle Tänzerinnen und Tänzer im Studio stehen, so scheint es, kann und will sich der Tanzschöpfer nicht zurückhalten. Auch das Staatsballett Berlin lobt Forsythe als Inspirationsquelle sehr, verknüpft mit der Mitteilung, dass er an den Choreografien für die Berliner Premiere richtig viel ändere. Triumphierend kommt das, ganz so, als verkünde ein kleines Kind, dass es den Sandkasten völlig neu gestalten werde.
Auf seine eigene Handlungsmacht („agency“) ist Forsythe, der durchaus auch Deutsch beherrscht, besonders stolz. Er ist Herr seiner Zeit, seiner Engagements, Herr seiner Schöpfungen und auch Herr über die Tänzer, die für ihn arbeiten müssen oder wollen. Jedenfalls in bestimmten Zeiträumen.
Er will ihnen mit Rücksicht begegnen, nicht mit Drill. Statt zu sagen „Mach es schneller!“ würde er lieber fragen: „Wie kannst du es schneller machen?“ Unterm Strich dürfte das einen nicht so sehr großen Unterschied machen, aber es kommt schon rüber, dass Forsythe Respekt vor den oft folterartig hart Trainierenden und nicht selten wie besessen intensiv Probenden hat.
„I like your choice“ (“Ich mag deine Wahl”) ist eines der höchsten Lobsprüche, die ein William Forsythe während der Probenzeit für seine Tänzer übrig hat. Die Anerkennung der sonst oftmals nur als Instrument Gesehenen als agierende Subjekte gefällt diesen offenbar: Billy Forsythe ist überdurchschnittlich beliebt bei Profi-Tänzern.
Das erste Stück, das er ab Mitte Februar in Berlin präsentiert, heißt „Approximate Sonata 2016“. Katja Wiegend fragt mit berechtigtem Staunen, was der Titel bedeute. „Annähernd eine Sonate 2016“, eine „Fast-Sonate 2016“ oder eine „Beinahe-Sonate 2016“ sind die möglichen Übersetzungen.
Entstanden ist die erste Fassung dieses Stücks übrigens 1996. Und in seiner Zeit als Stuttgarter Tänzer tanzte Christian Spuck, heute Ballettintendant, die dritte Besetzung eines männlichen Parts darin, beim Stuttgarter Ballett. Aber warum heißt das Stück nun so kryptisch?
Nach einem Witz („Ich dachte, das klingt gut!“) erklärt der Meister, es solle in diesem Stück ein Thema übertragen werden und auch diese Übertragung solle auch sichtbar weiter übertragen werden. Daher der komplizierte Titel. Die Jahreszahl zeigt die letzte Überarbeitung an. Was Forsythe nicht sagt: Absurd-witzige Titel, die neugierig machen sollen, sind sein Markenzeichen.
Faktisch tanzen im Stück lauter Paare, die modernen Pas de deux sind hier die wichtigsten Ausdrucksmittel. Christian Spuck kennt die Entstehungsgeschichte noch genauer: „Sie wurden ursprünglich auf die neunte Sinfonie von Ludwig van Beethoven komponiert.“ Diese Neunte ist erstens sehr beliebt – und wurde zweitens von Maurice Béjart, dem 2007 verstorbenen großen modernen Weltchoreografen aus Frankreich, zur Grundlage für ein mit Spannung aufgeladenes Tanzstück genommen. Derzeit ist es noch online in der arte mediathek zu sehen.
Dass zu anderer Musik choreografiert wird als zu der, mit der dann die Vorstellungen stattfinden, ist nicht ganz selten. Schon eine frühe Aufführung von Sergej Prokofjews „Romeo und Julia“ am Kirow-Theater in Leningrad wurde zu anderer Musik geprobt, weil die damals junge Starballerina Galina Ulanowa die Klangwelten Prokofjews nicht mochte.
Viele Choreografen haben aber nicht wegen der Tänzer, sondern zur Inspiration schon Musiken für die Kreationsphase ausgetauscht, von John Neumeier mindestens bis eben zu William Forsythe, der da auch nicht der letzte sein wird. Er wollte für sein Stück „Approximate Sonata 2016“ die „Energie“, die „wunderbaren Drives“ von Beethoven haben und ihren „Geist“ einfangen.
Bei der Beinahe-Sonate, die 2016 entstand, kommt die Bühnenmusik dann von Thom Willems, der seit 1995 für Forsythe arbeitet. Elektronische Musik, in der er ein Pionier ist, und Computer-gestützte Musik sind seine Welt. Da quietscht, knarzt und knurrt es, und manchmal klingt es, als würde der Computer hecheln oder sich bald übergeben wollen.
Abwechslungsreich ist diese Musik sicher, aber auch das Argument, dass sie im Ausdruck zu kalt ist, muss man gelten lassen. In der E-Musik sind eben alle Geräusche, die rhythmisch aufgefahren werden, erkennbar künstlich. Sie kommen alle sozusagen aus der Konserve, auch wenn manche Stücke gerade für die Forsythe-Tänze, bei jeder Vorstellung live neu abgemischt werden.
Den warmen Klang einer Violine, einer Viola, eines Klaviers, einer Oboe, einer Posaune oder Querflöte können sie vielen Musikliebenden nicht ersetzen.
Ein Trailer, also ein zusammengeschnittenes Video, zeigt einige Momente aus „Approximate Sonata 2016“. Blitzschnell drehen und verbiegen sich die Tänzerinnen und Tänzer in Paar- und Soloposen, Ästhetik entsteht und verrinnt, neue Muster werden ausprobiert, und das Tempo ist meistens atemberaubend.
Christian Spuck, der ein ganz vorzüglicher Interviewer ist, befragt Forsythe dann nach dem Épaulement, das im klassischen Tanz eine bestimmte Ausrichtung des Körpers im Raum bezeichnet. Ursprünglich, so erläutert Spuck, steht der Tanzende dazu auf der Raumdiagonalen, er hat den Oberkörper und das Gesicht dabei aber nach vorn, zum Publikum („en face“) gedreht.
Bei Forsythe erfahren wir dann, dass ihm die Diagonale egal ist, denn bei ihm findet das Épaulement im Körper des Tanzenden statt. Ob dessen Oberkörper und Gesicht ins Publikum oder sonstwohin zeigen, ist im modernen Ballett der künstlerischen Freiheit des Choreografen unterstellt. Ein schönes Beispiel, um den Unterschied zwischen Klassik und Moderne im Ballett zu illustrieren.
Christian Spuck hat außerdem ein gutes Gedächtnis. Vor über 20 Jahren lief ein Stück von Forsythe beim Stuttgarter Ballett, wo er damals auch arbeitete. Eric Gauthier, Nobelpreis-Söhnchen und heute Leiter der von der Daimler-Bank finanzierten zeitgenössischen Tanztruppe im „Theaterhaus Stuttgart“, war damals als Tänzer beim Stuttgarter Ballett engagiert. Und durfte im Forsythe-Stück jeden Vorstellungsabend live zu Beginn improvisieren. Allerdings nicht ganz frei: Eine im Zuschauerraum sitzende Ballettmeisterin flüsterte ihm über Funk Anweisungen ins Ohr.
Forsythe und Willems haben auch schon selbst bei jeder Vorstellung – damals in Forsythes Company in Frankfurt am Main – Abendregie geführt. Mit Kopfhörer und Mikrofon saßen sie ganz hinten im Parkett. Christian Spuck, der damals seinen Zivildienst in einer Frankfurter Psychiatrie ableistete, erkannte die Künstler. Forsythe sagt, er habe es genossen, solchermaßen Teil der Aufführung zu sein – statt hilflos abzuwarten, was die Künstler und Techniker live machen würden.
Aber Kontrollsucht gehört natürlich gar nicht zu den Generaltugenden eines Choreografen, nein, gar nicht… und das ist jetzt mal ironisch gemeint.
Dass es ohne Tänzer keinen Tanz gibt, darin sind sich aber alle einig, auch Spuck und Forsythe.
Und das auch, wenn sich eine Ballerina aus Angst um ihre Schädelbasis bei den Proben einen Fahrradhelm aufschnallt.
So mal geschehen bei der Kreation von „One flat Thing, reproduced“, dem Mittelstück der kommenden Premiere. In seiner Arbeitssprache nennt Forsythe das Stück meist „Table Dance“, denn 20 kantige Tische füllen hierin die Bühne. Die Tanzenden bewegen sich blitzschnell dazwischen, darunter und darauf, sind mal synchron, mal einander widersprechend mit der Körpersprache. Kein Chaos, sondern eine gefährliche räumliche Situation entsteht – mit solchen Verletzungsgefahren müssen die Profis umgehen können.
Ein paar elektrische Tonkleckse werden eingespielt, die wie ein in seine Einzelteile zerlegter Akkord klingen. „Das ist ‚Over the Rainbow’”, sagt, wie erleuchtet, William Forsythe dazu. Vor allem aber ist es ein Ausschnitt aus der Klangcollage, die Thom Willems für das Stück entwickelte.
Willems bewarb sich bei Forsythe übrigens in den 90er-Jahren mit einem gefühlt 35.000-fach wiederholten und aufeinanderkopierten, solchermaßen auf sechs Stunden gebrachten b-moll-Akkord. Damit traf er den Nerv des Choreografen, der selbst auch gern mal nervt: in dem Sinn, dass er das Publikum herausfordert.
Die Kreation dieses „einen flachen Dings, das reproduziert wird“ (so der wörtlich übersetzte Titel) fand in New York, fürs New York City Ballet, statt. Willems, der oft mit bestellter Musik erst auf den letzten Drücker kommt, überreichte die Kassette mit der Musik dem Choreografen am Flughafen, kurz vor Abflug.
Und Forsythe erschrak. Die Klänge erschienen ihm beim ersten Hören viel zu kompliziert, zu undurchsichtig – und er hatte am nächsten Tag bereits Probenbeginn. Aber, alles wird gut in der Welt der Profis, ihm fiel für die Kreation dann doch genügend ein.
Gleitende Bewegungen kontrastieren hier mit fallenden, aufprallenden, abrupten Körpergesten. „Es ist nicht nur Entertainment“, sagt Forsythe, einen konkreten Inhalt kann er aber auch nicht benennen. Spuck findet das Stück immerhin „spannend wie einen Krimi“.
24 Musikschleifen legte Willems Forsythe dafür vor. Diese sollen jeden Abend neu abgemischt, sozusagen dirigiert werden. Niels Lanz wird das in Berlin erledigen. Wie die Live-Mixtur jeweils auf die Tanzenden wirkt, bleibt abzuwarten.
Atonalität, lautes Knistern – es sind alarmierende Klänge, die hier gleichzeitig locken und abschrecken. „Ein kompositorisches Erlebnis, kein musikalisches“, kommentiert William Forsythe. Spuck ergänzt: Im Ausdruck habe diese Collage „etwas Drängendes, unter Druck Setzendes“. Als müssten die von der Tisch-Situation in Engpässe gebrachten Tanzenden rasch noch etwas erledigen.
Andere, nämlich viel smartere Musik, kommt für die „Blake Works I“ vom studierten Songwriter James Blake. Wie sein Namensvetter, der Dichter William Blake, ist der Musiker Brite. Forsythe ist fasziniert von dessen manchmal mit schrägen Verschiebungen arbeitenden Liedern und befasst sich auch schon mal jahrelang mit ihnen, bevor er sie vertanzt.
„Blake Works I“, das dritte und letzte Stück im kommenden Berliner Programm, entstand 2016 in Paris: kurz nach der Entscheidung dort, dass Benjamin Millepied als Ballettdirektor gehen werde. Die Company-Mitglieder, so Forsythe, hätten auf ihn gewirkt wie Scheidungskinder. Und da kam er dann daher – und wollte ein Stück über den französischen klassischen Stil machen.
Elisabeth Platel herself, heute Schuldirektorin der Ballettschule der Pariser Opéra und außerdem bei den aktuellen Prix-de-Lausanne-Trainings auch online höchst aktiv, führte Forsythe in die typische französische Klassik ein. Die Battements, das Beinwechseln im Sprung mit aneinanderschlagenden Waden, spielt darin eine große Rolle. Die Fouetté-Pirouetten beginnen mit dem nach vorn geführten Spielbein (in der russischen Klassik geht das Spielbein in der Luft gleich zur Seite). Und die Armhaltungen sind delikat, aber nicht so verspielt wie zum Beispiel bei den Engländern.
Beim Stuttgarter Ballett, das sei vermerkt, geht es bei „Blake Works I“ um die Klassik und Neoklassik allgemein, keineswegs um den typischen französischen Stil. Aber offenkundig hatte Forsythe damals die Nachhilfe von Platel explizit angefordert.
Forsythe hatte seit 1976 keinen Tanz kreiert, den er selbst als „Ballett“ identifizieren würde. Darum war Paris 2016 für ihn etwas ganz Besonderes.
Die Musik allerdings ist weder französisch assoziiert noch klassisch. Blakes Songs werben vielmehr mit cineastischen Klangeffekten für sich. Da bellt ein Computerhund, so scheint es, und in minimalistischer Manier wogen orchestrale Wellen auf und ab. Könnte man nicht Familienfilme damit untermalen?
Das Staatsballett Berlin probt dieses Stück in drei verschiedenen Besetzungen, und Chef Spuck beteuert, dass es ein wunderbarer Anblick der Seligen sei, wenn alle zugleich, hingebungsvoll lächelnd, das Stück tanzen.
Dass der Tänzerberuf trotz dieser Beglückungen bei der Arbeit mittlerweile trotzdem fast zu hart geworden ist und insgesamt übermenschlich viel Fitness, Kondition, Gelenkigkeit, Muskelkoordination und Flexibilität verlangt werde, spricht William Forsythe von sich aus an.
Das ist natürlich eine gute Überleitung für die Einladung zum nächsten Talk namens „Forum“ beim Staatsballett Berlin, am 21. Februar 24, bei dem es um berufsbedingte Verletzungen geht. Ein mit den steigenden akrobatisch-gymnastischen Leistungen im Bühnentanz immer wichtiger werdendes Thema.
Aber jetzt konzentrieren sich alle Kräfte erstmal auf die Premiere, die ein sehr spezielles Vergnügen verspricht. Am Montag gehen die Bühnenproben los.
Gisela Sonnenburg