Lieben Sie „Manon“? Umso besser! Dann haben Sie ja heute Abend ja etwas Tolles vor! Wie, Sie kennen „Manon“ noch nicht? Dann wird es jetzt höchste Zeit, das zu ändern! Um 20.15 Uhr startet in ausgewählten internationalen Kinos – auch in Deutschland – die atemberaubende Live-Übertragung aus London: Natalia Osipova tanzt „Manon“ von Kenneth MacMillan mit dem Royal Ballet, und wer die Liebe liebt, die Musik liebt, das Handlungsballett liebt, alle wahrhaft menschlichen Gefühle liebt, hat keine andere Wahl: Man muss hingehen und es live sehen, hören und genießen! Buchen Sie Ihre Tickets online vorab oder finden Sie spontan noch Ihre Plätze: Dabeisein ist alles, denn niemand weiß, wann das Leben wieder so schön sein wird wie heute. Vielleicht erst wieder am 25. Februar 24, denn dann, einen Tag nach seinem 85. Geburtstag, wird John Neumeier beim Hamburg Ballett einen ausgeben: Um 11 Uhr vormittags wird der neue arte-Dokumentarfilm „John Neumeier – ein Leben für den Tanz“ von Andreas Morell im Opernhaus gezeigt, und zwar bei freiem Eintritt. Zuvor aber bitte mit etwas Kleingeld in den Taschen auf zu „Manon“, dieser verruchten, eleganten, bildschönen jungen Dame, die trotz oder wegen ihrer großen Liebe zu dem Studenten Des Grieux auf die schiefe Bahn des luxuriösen Kurtisanenlebens gerät…
Als das Stück von MacMillan 1974 mit der aufwühlenden Musik von Jules Massenet uraufgeführt wurde, war noch nicht abzusehen, dass die Welt somit um einen ihrer ganz großen modernen Ballettklassiker reicher würde. Im Rückblick auf die Kulturgeschichte weiß man mehr: Zusammen mit „Onegin“ von John Cranko und „Die Kameliendame“ von John Neumeier bildet „Manon“ von Kenneth MacMillan das grandioseste Trio westlicher Tanzkunst nach dem Zweiten Weltkrieg. International gesehen, kommt „Spartacus“ von Yuri Grigorovich als viertes herausragend Werk dieser Zeit aus Moskau hinzu. Vulgo: Wer diese vier Stücke nicht kennt, hat die moderne Ballettwelt glatt verpennt.
Daran können auch die „Jewels“ von George Balanchine nichts ändern, die gegebenenfalls ein fünftes Meisterwerk von dieser Hochkarätigkeit aus derselben Epoche bedeuten, die aber leider kein Handlungsballett sind.
Und die Krönung der Bühnentanzkunst bilden zweifelsohne nach wie vor die großen Handlungsstücke. Daran ist nicht zu rütteln. Was erschüttert uns am stärksten, belehrt uns am meisten, läutert uns und beglückt uns in eins in höchstem Maße? Eben. Nur das Handlungsballett vermag solche Spitzen der Kunstrezeption hervorzubringen.
Und es gab ja auch Zeiten des vorurteilsfreien Austauschs, als die Kulturen der Welt sich im Ballett trafen. Etwa als das Royal Ballet im Juni 2011 zu Gast in Moskau war und im Bolschoi Theater „Manon“ zeigte: mal mit Natalia Osipova in der Titelrolle, aber auch mit Marianela Nunez.
Nunez tanzt auch diese Saison die Partie, in London, im Covent Garden, mit – man halte sich fest – Roberto Bolle als Des Grieux. Das ist schon eine absolute weitere Sensation, denn Bolle tanzt aufgrund seines fortgeschrittenen Alters nur noch selten ganze Abende durch. Die Rolle des Des Grieux eignet sich mit ihren lyrisch zu zelebrierenden Adagio-Soli allerdings vorzüglich für Tänzer, die nicht mehr ganz jung, aber noch wunderbar geschmeidig sind. Balancen und edle Haltungen gehen hier vor Schnelligkeit und Sprunghöhe, was den Tanz gewissermaßen zu sich selbst führt.
Also wird Roberto Bolle auch ein ganz besonderes Erlebnis sein. Und auch er ist, wie John Neumeier, Kenneth MacMillan, Natalia Osipova, Marianela Nunez und die ganze Manon-Geschichte, bereits eine lebende Legende. Eine geliebte Legende!
Heute Abend aber bezaubert erst einmal Reece Clarke an der Seite von Superstar Osipova – und mit dem kecken Alexander Campbell als Manons Bruder Lescaut und dem hintergründigen Gary Avis als schmierigem Monsieur G. M. tanzen weitere Publikumslieblinge auf.
Koen Kessels wird mit bewährter ruhiger Hand das Orchester des Royal Opera House dirigieren, und sein Gespür für die Bedürfnisse der Tänzerinnen und Tänzer auf der Bühne ist ja auch schon fast legendär.
Legendär, um dieses Wort noch einmal mit neuem Sinn zu füllen, sind auch die Coachs, die all diese wunderbaren Manons und Des Grieux für die Bühne präparieren: Alessandra Ferri (designierte Chefin vom Wiener Staatsballett), Edward Watson und Zenaida Yanowsky gehören dazu. Die beiden Letzteren sind ehemalige Stars vom Royal Ballet, die man zu loben nicht müde wird. Und auch Ferri hat die Rolle der Manon getanzt, manchmal sogar mit Roberto Bolle.
Wer die vielen verschiedenen aktuellen Star-Besetzungen, die das Royal Ballet zu bieten hat, miteinander vergleichen möchte, muss allerdings hinfliegen. Sarah Lamb etwa tanzt am 26. Februar die Manon, an ihrer Seite der Newcomer Ryoichi Hirano. Fumi Kaneko als Manon mit Vadim Muntagirov als Des Grieux folgen dann am 27. Februar 24.
Schließlich gibt sich auch Francesca Hayward mit Alexander Campbell als Des Grieux die Ehre: am 17. Februar sowie am 8. März 24, womit die Aufführungsserie der „Manon“ in London zunächst auch endet.
Heute Abend aber am Start: die unvergessliche Natalia Osipova, deren Tanzkunst Ost und West dadurch verbindet, dass sie in Moskau geboren und ausgebildet und auch zum Star gemacht wurde, aber seit 2013 fest als Principal Dancer beim Royal Ballet in London engagiert ist. In ihrer Kindheit trainierte ihr Vater sie in rhythmischer Sportgymnastik, und wer ihre Sportivität bei Sprüngen und großen Schritten bewundert, wird sich Natalia gern auch als kleine Turnerin vorstellen.
Ihr Bühnenpartner Reece Clarke ist gebürtiger Schotte, schlank und hoch gewachsen und profiliert für die klassischen Prinzenrollen. Mit feinem Lächeln weiß er seine Partnerinnen wie schwerelos emporzuheben, und es wird heute Abend spannend sein, zu sehen, wie sehr dieser Des Grieux in seine Manon verliebt ist. Schießlich durchleben die beiden ein ganzes gesellschaftliches Panorama aus barocker Lebensfreude und tragischer Verfolgung.
Die Grundlage für das Ballett bildet der berühmte Roman „Manon Lescaut“ von Abbé Prévost. Als Teenager las ich ihn auf französisch als Ergänzung zur „Kameliendame“ von Alexandre Dumas d. J., da Dumas sich ausdrücklich auf Prévost bezieht. Aber ganz ehrlich: Die beiden Ballette sind um Längen schöner, beeindruckender, mitreißender.
Davon wird man wohl auch in der arte-Doku – deren Ausstrahlungstermine im Fernsehen und im Internet noch nicht feststehen – am 25. Februar in Hamburg etwas mitbekommen. Denn „Die Kameliendame“ ist ein zentraler Kern in Neumeiers Werk. Zudem folgte Filmemacher Morell, der für seine brillanten Ballettaufzeichnungen bekannt und darin überaus versiert ist, dem Hamburg Ballett auf Gastspielreisen in die USA. Der Arbeitsalltag des international geadelten Genies Neumeier wird fasslich, und sogar manches vom Privatleben soll das filmische Portrait enthalten.
Ich darf mich übrigens rühmen, dieses angeregt zu haben, als ich vor über zehn Jahren sowohl mit dem Redakteur für Tanz bei arte, Olaf Rosenberg, als auch mit Andreas Morell am Telefon darüber sprach: Morell sei der Richtige, um sich Neumeier und dem Hamburg Ballett filmisch zu nähern.
Jetzt aber schnell herumtelefoniert und gefragt, wer heute Abend alles mitkommt zu „Manon“! Und: Genießen Sie es wirklich. Das ist ein Befehl!
Gisela Sonnenburg
https://www.roh.org.uk/tickets-and-events/manon-in-cinemas-details