Das Eis schmilzt: John Neumeier, scheidender Ballettintendant vom Hamburg Ballett, gab heute bekannt, dass er dem Bolschoi-Theater erlaubt, seine dreistündige Kreation „Anna Karenina“ im März in Moskau aufzuführen. Das ist insofern bedeutsam, als die meisten bekannten Choreografen aus dem Westen ihre Lizenzen in Russland zurückzogen oder gar nicht erst erteilten. Jetzt keimt Hoffnung, dass auch andere Tanzkünstler Neumeiers Beispiel folgen. Er begründet seine offizielle Lizenzerteilung mit genau jenen „humanen Werten“, um die es auch in seiner Kunst gehe. Von der russischen Politik distanziert Neumeier sich. Aber Kunst und Kultur sieht er als wichtige Verbindung zwischen den Menschen. Ex-Bolschoi-Chef Wladimir Urin, der das Haus über zehn Jahre ab 2013 leitete und Neumeier ganz gut kennt, dürfte ihm darin zustimmen. Und Neumeier gibt sich nochmals gnädig: Seine Moskauer Tantiemen will er symbolträchtig spenden (leider wohl nicht ans Ballett-Journal). Am 2. und am 3. März 24 gibt es nun drei Vorstellungen – in drei Star-Besetzungen – am Bolschoi in Moskau, welche im übrigen bereits sämtlich ausverkauft sind.
Am glamourösesten dürfte die Abendvorstellung am 2. März werden: Svetlana Zakharova tanzt dann in der Titelpartie mit Artemy Belyakov – als ihrem Geliebten Graf Wronsky – vom Lieben und Sterben der Politikergattin Karenina. Maria Vinogradova und Vladislav Lantratov tanzen diese Hauptrollen in der Mittagsvorstellung desselben Tages, und Yulia Stepanova und Denis Rodkin stellen sie am Nachmittag des 2. März dar. In Hamburg wird das Werk am 26. und 27. April 24 sowie am 8. und 10. Mai 24 wieder zu sehen sein – mit der Besetzung vom Hamburg Ballett.
Die Uraufführung des Stücks 2017 war bereits stark international geprägt und bildete durch die dafür bestehenden Kooperationen des Bolschoi-Theaters und des National Ballet of Canada mit dem Hamburg Ballett eine übernationale Allianz der schönen Künste.
John Neumeier zeichnet für Libretto, Choreografie, Bühnenbild, Lichtdesign und Kostüme verantwortlich. Nur die Aufsehen erregenden Kleider der Anna Karenina wurden vom Modeschöpfer Alfred Kriemler (AKRIS) designt.
Die ausgesuchten Klänge von Peter Tschaikowsky, Alfred Schnittke und Cat Stevens alias Yusuf Islam wirken hier wie maßgeschneidert für die Szenenabfolge, die nicht nur das Schicksal von Anna, sondern auch die Lebenswege von etlichen Mitgliedern ihres gesellschaftlichen Umfelds detailfreudig schildert.
Mit Szenen, die sowohl sexuellen als auch nervlichen Overkill darstellen, aber auch das gesellschaftliche Leben der Oberschicht im 21. Jahrhundert zeigen und zudem hintergründig demokratisch-politische Vorgänge schildern, schrieb und choreografierte sich John Neumeier einmal mehr in die allererste Liga des Weltballetts.
Für sein Stück verlegte Neumeier die Handlung aus dem Roman „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi in unsere Gegenwart.
Thomas Mann schrieb über „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi, es handle sich um den „bedeutendsten Gesellschaftsroman der Weltliteratur“.
Von Neumeiers Ballett kann man sagen, dass es neben „Liliom“ von John Neumeier zu den bedeutendsten Handlungsballetten des 21. Jahrhunderts zählt.
Spirituelle Ebenen haben beide Ballette, was typisch ist für Neumeiers Auffassung von modernem Tanz.
Für die Visionen, die das ehemalige Mannequin Anna Karenina im Tanzstück ereilen, führte Neumeier sogar die Figur des Muschik ein, der im abgetakelten Bauarbeiter-Outfit den Geist eines verunglückten Handwerkers verkörpert.
Kontrastierend dazu ist die Welt von Kitty und Lewin: Hier kommt ein Traktor auf die Bühne, um das Landleben und die Befriedigung der Selbstversorgung zu illustrieren.
Zeitgeist findet sich also reichlich im Stück, aber ebenso der Kampf um ihre Freiheit von Frauen, die im immer noch patriarchal geprägten gesellschaftlichen Gefüge nur wenige Chancen haben. Dass gerade dieses Stück den ersten getanzten Brückenschlag von West nach Ost im Jahre 3 der neuen Zeitrechnung bildet, mag Frauen ganz besonders erfreuen. Bravo, John Neumeier!
Gisela Sonnenburg