Ballettproben bedeuten selige Verzückungsarbeit. Wenn es gut läuft, haben die Ballettmeister Tränen der Rührung in den Augen, während an den Tänzern der Schweiß in kleinen, steten Rinnsalen herabfließt. Beim Stuttgarter Ballett gibt es in diesen Tagen an beidem keinen Mangel, am Schweiß nicht – und an Verzückung auch nicht.
Kurz vor der Premiere des Jubiläumsabends „Hommage à MacMillan“ wird der prägnante Stil des schottischen Choreografen Kenneth MacMillan wieder und wieder durchexerziert, zelebriert, auch genossen. MacMillan zu tanzen, heißt, einer Offenbarung zu folgen: Seine Figuren kennen hoch akrobatische Umarmungen (eine nur im Ballett mögliche Form der Innigkeit) sowie eine delikat eingesetzte Synchronizität – und dennoch herrscht immer auch eine gewisse würdevolle Distanz zwischen den tanzenden Personen. Das Individuum steht bei MacMillan stark und solitär für sich selbst ein, auch die Interaktionen betonen Individualität.
MacMillan würde am 11. Dezember 85 Jahre alt werden, wenn er nicht 1992 im Backstagebereich einer Vorstellung einen tödlichen Herzinfarkt erlitten hätte. Er starb zu früh, um weitere Werke zu schöpfen, aber er hinterließ ein umfassendes Konvolut bedeutender Ballette. So war er nicht nur einer der wichtigsten Tanzschöpfer des 20. Jahrhunderts, sondern auch einer der ersten, die zur sinfonisch-schwelgerischen Musik von Gustav Mahler kreierten. John Cranko, damals Chef vom Stuttgarter Ballett, war ein Freund und Choreografie-Kollege auf Augenhöhe von MacMillan; beide müssen zudem als Vorläufer von John Neumeier und anderen jüngeren Choreografen gelten.
Stuttgarts heutiger stellvertretender Ballettintendant, der ehemalige Erste Solist und weltbekannte Cranko- und MacMillan-Coach Tamas Detrich, sah MacMillans „Lied von der Erde“ erstmals, als er noch ganz jung war: Er war wegen der Kunst von John Cranko aus New York nach Stuttgart gekommen, vollendete an der Schule von Cranko seine Ausbildung. Aber auch zum Komponisten gibt es kurz etwas zu sagen: Das Stück wäre eigentlich Mahlers zehnte Sinfonie gewesen, und nur aus Aberglauben nannte Mahler es „Das Lied von der Erde“. Er befürchtete, während der Arbeit an einer zehnten Sinfonie zu sterben. Er starb übrigens tatsächlich, während er an seiner Zehnten komponierte – ein Schicksal, das er mit Brahms und Beethoven teilte.
Dass Mahlers Musik für Ballett mal eine große Rolle spielen würde, war zu Lebzeiten des Komponisten nicht abzusehen. Heute gibt es Dutzende hochkarätiger Mahler-Arbeiten, und man kann sagen, dass fast jeder jüngere Choreograf, der auf sich hält, irgendwann auch einen Mahler macht, so wie einen „Sacre“ oder eine „Giselle“. Die inbrünstig-romantische Stimmung in den Mahler-Sinfonien kommt der euphorischen Erhabenheit gerade des modernen Balletts sehr entgegen. Allerdings erkannten das vor Kenneth MacMillan nur wenige. Tamas Detrich erinnert sich genau an den Zeitgeist von Aufbruch und Neufindung, der auch in MacMillans 1965 uraufgeführtem Mahler-Stück zum Ausdruck kommt: „Ich war fasziniert von der Reinheit der Choreografie und auch davon, dass man zur Musik von Mahler überhaupt so etwas machen konnte.“
EIGENTLICH WOLLTE MACMILLAN DAS STÜCK IN LONDON KREIEREN…
Dabei wollte MacMillan das Stück ursprünglich für das Royal Ballet in London kreieren, er war damals dort Resident Choreographer. Aber den Londonern fehlte es an Fantasie und Vorbehaltlosigkeit: Man lehnte MacMillans Plan ab, mit der Begründung, zur Musik von Mahler könne man keinen Tanz gestalten. Man muss dazu sagen, dass Mahlers große Renaissance auch in den Konzertsälen noch bevor stand. Als Vorlage für Ballette wurden die Werke des zum Katholizismus konvertierten Juden Mahler erst in den 70er und 80er Jahren „comme il faut“.
Zwar hatte Antony Tudor, choreografischer Mahler-Pionier, schon 1948 in New York „Das Lied von der Erde“ zu einem modernen Ballett gemacht. Aber die große internationale Welle von Mahler-Balletten schwappte erst in den 70er Jahren hoch. In Europa stand Kenneth MacMillan Miite der 60er Jahre mit seinem Wunsch, Mahler zu vertanzen, ziemlich allein da. Vielen galt Mahler sowieso noch als inakzeptabel, aufgrund seines komplizierten Anti-Programm-Musik-Konzepts auch als zu verkopft.
Glück für Stuttgart! John Cranko, dessen Lebenswerk seit 1961 das Stuttgarter Ballettwunder mit seiner dadurch weltberühmten Compagnie und der angesehenen Schule war, kannte MacMillan von früher: Die beiden waren gemeinsam in der Ausbildung der Schule des Sadler’s Wells in London gewesen. Cranko bot dem ehemaligen Studienfreund sofort an, das Mahler-Ballett in Stuttgart zu machen.
Prompt verlieh MacMillan den transzendierenden Gesängen von Mahler eine Geschichte, eine Art Handlungsverlauf: Ein junger Mann und eine Frau lieben sich, aber eine dritte Person, genannt „Der Ewige“ – im Englischen: „Messenger of Death“, also Todesbote – personifiziert den Tod. Der junge Mann stirbt… Diese Dreiecksgeschichte ist aufgeteilt und bebildert wie eine Collage, deren Einzelteile symbolisch den Kreislauf des Lebens darstellen. „Man denkt immer, das Wichtige sei wichtig, aber manchmal ist das gar nicht so“, dieses Bonmot von Marcia Haydée, die in der Uraufführung den Frauenpart tanzte, passt vorzüglich zu diesem Stück. Denn all die möglichen Nuancen von Beziehungen und ihren Werdegängen entfächern sich im Lauf der Choreografie, und da sind die Grundfesten nur noch die Voraussetzungen, aber nicht mehr das Wesentliche.
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Bei der Uraufführung reüssierte Egon Madsen in der Rolle des „Ewigen“, der eine Maske trägt und zugleich göttlich und menschlich wirkt. Tamas Detrich tanzte die Rolle ebenfalls, „sie ist noch in meinem Körper“ – und jetzt ist die Neuinterpretation des Parts das Abschiedsgeschenk von Marijn Rademaker ans Stuttgarter Publikum. Der blonde Superstar mit seiner besonderen jünglingshaft-erotischen Ausstrahlung, der vom Armand in John Neumeiers „Kameliendame“ bis zu Maurice Béjarts „Boléro“-Solo so ziemlich alles tanzte, was das Stuttgarter Repertoire an modernen Klassikern hergibt, will sich künftig auf seine bisher als Gast praktizierte Vorzugsrolle als Primoballerino beim Het Nationale Ballet in Amsterdam konzentrieren.
Es ist also vorerst die letzte Stuttgarter Premiere mit Marijn, und als ich mit Tamas Detrich spreche, kommt dieser gerade aus einer Probe mit Marijn für den letzten großen Pas de trois, das letzte große getanzte Trio im „Lied von der Erde“. Detrichs Zustand ist verzückt, natürlich, denn Rademaker und seine Kollegen Alicia Amatriain und Jason Reilly balancieren auf Mahlers Schwermutsgesängen mit der Grandezza des Wissens und der Erkenntnis. Immerhin geht es bei dieser Dreieckskonstellation ja nicht nur um eine Liebesgeschichte, sondern auch um die letzten Dinge, um den Zusammenhang von Liebe, Tod und Transzendenz, um Erneuerung in einem höheren Sinn.
Aber: „Musikalisch gesehen, ist diese Arbeit für die Tänzer sehr schwierig“, sagt Detrich, der gern bereit ist, das zu erklären: „Das ist ja nicht wie bei Tschaikowsky, bei dem die Takteinheiten klar und deutlich sind.“ Das „Lied von der Erde“ könne man nicht so einfach durchzählen, im Gegenteil: „Da vergisst man ganz schnell mal das Zählen.“ Das darf nun nicht sein im Ballett, denn dann wird’s ungenau und taktunsicher. Viele Auftakte und die häufige Gegenbewegung der Orchestermusik zu den jeweiligen Sängerstimmen bei Mahler wirken jedoch verwirrend. Da stellt sich oft die Frage: Muss man nun „eins“ zählen oder „fünf“? Und wieso kommt diese oder jene Bewegung schon jetzt und nicht einen Schlag später? Aber Tänzer können beim Tanzen nicht erst darüber nachdenken, was sie machen werden, sie müssen ihre Bewegungen punktgenau und zügig platzieren. So harmonisch-organisch das dann aussieht, wenn es fertig ist – der Weg dorthin kann voller Versuche sein.
„Man muss die Musik verstehen“, sagt Tamas. „Mal geht es schneller und dann geht es wieder langsamer, daran muss man sich halten, es ist alles aufgeschrieben.“ Notiert wurden die Schritte und Gestiken von Georgette Tsinguirides – John Crankos Choreologin – die heute 86 Jahre alt und putzmunter präsent ist. Zusammen mit ihr studiert Detrich das „Lied von der Erde“ ein. Denn wenn jemand von sich behaupten kann, die reine Stuttgarter Lehre zu verkörpern, dann ist es diese nette alte Dame, die schon viele Tänzer in aller Welt mit den originalen Versionen von Choreografien beglückt hat. Schließlich kam das Video als praktisches Dokumentationsmittel erst verhältnismäßig spät in den Ballettsaal. Und: Filmaufzeichnungen zeichnen immer auch die Abweichungen von der Originalchoreografie mit auf, seien es kleine Fehler oder absichtliche Uminterpretationen. Insofern ist der Beruf der Choreologie auch in Multimediazeiten unersetzlich.
Beim „Lied von der Erde“ gibt es zudem dieses komplizierte Zusammenspiel zwischen der Optik – dem Tanz – und dem Timing, also dem Klang. „Da ist sehr viel Atem drin in der Musik“, sagt Detrich, „es ist nicht alles Takt-für-Takt oder isoliert voneinander zu verstehen.“ Dem entspricht das Libretto, auf eine metaphorische Art. Zwei Männer, eine Frau: Da ist eine bestimmte Spannung in der MacMillan’schen Choreografie, da sind bestimmte Posen, die erreicht und gehalten und auch wieder elegant aufgelöst werden müssen. Sie sind von den Bögen der Mahler’schen Musik inspiriert, aber keineswegs simpel oder illustrativ drüber gelegt. Sie stehen als etwas Eigenes im Raum, bilden zum Klangteppich der Musik eine selbständige Einheit.
Dabei ist eines zu bemerken: Das Tragisch-Pathetische in seiner gerade eben noch figurativen, aber bereits abstrahierenden Form ist eine wirkliche Spezialität von Kenneth MacMillan. Da ist nichts leichthin plätschernd, sondern alles hat eine gewisse Bedeutungsschwere. Auch MacMillans historische Handlungsballette wie „Mayerling“ (das zeitweise in Wien zu sehen ist und das am 7.12.2014 dort als Live-Stream online lief) oder „Manon“ sind am stärksten, wenn die symbolhaft-skulpturalen Momente eintreten. Der Ausdruck ist dann dramatisch und lyrisch zugleich, niemals lapidar oder ironisch, auch nicht episch-erzählend. Sondern es ist, als würden viele Highlights aneinander gereiht. Wie faszinierende Surrogate eines Films, wie eingebrannte Schattenrisse auf einer Metallplatte bleiben diese Passagen im Gedächtnis.
MacMillans Werk lebt außerdem vom Kontrast des Vertikalen mit dem Horizontalen; Männer werfen sich Frauen zu Füßen oder umklammern sie von hinten; kopfüber machen die Damen in der Hebung einen waagerechten Spagat, und wenn zwei oder drei Tänzer mit Bodenhaftung involviert sind, ergeben sich Muster und Winkel, die an die raffinierte Akkuratesse, aber auch an die wilde Kreativität von Wassily Kandinsky, dem großen synästhetischen bildenden Künstler, erinnern.
Auch für die 1976 entstandene Arbeit „Requiem“ – nach Musik von Gabriel Fauré – ließ sich Kenneth MacMillan von den bildenden Künsten inspirieren. Aber stand beim Schöpfen vom „Lied von der Erde“ die Ballerina Marcia Haydée im Zentrum, wurde die „Requiem“-Kreation vor allem von einer Startänzerin beseelt, die auch heute noch, mit 70 Jahren, in Deutschland für Furore sorgt, und zwar als Leiterin der Akademie des Tanzes in Mannheim sowie als Direktorin vom Staatsballett Karlsruhe: Birgit Keil.
„Ich erinnere mich noch gut, wie 1976 die Arbeit am ‚Requiem’ begann“, sagt sie: „Es war nämlich für mich wie 1963. Damals war ich Tänzerin in London, als Kenneth MacMillan mich zurück nach Stuttgart kommen ließ, um mit mir zu kreieren. Er stand – genau wie dann 1976 – an der Tür zum Ballettsaal, in den Türrahmen gelehnt, und er sagte zu mir, die ich gerade ankam: ‚I am waiting for you, Birgit!“
Was für ein motivierender Empfang für die Ballerina! Und 1976 war es zugleich die Reprise einer Erfahrung, die für sie prägend war. Denn 1963 war Birgit Keil ja mehr oder weniger noch Berufsanfängerin und noch nicht die gefeierte Primaballerina. Und: „Wir waren dazu erzogen, großen Respekt vor den Choreografen zu haben“, sagt Keil. „Dass dann jemand, den ich so verehrte, mir sagte, er würde auf mich warten, das hat mich ungeheuer beeindruckt.“ 1976 wiederholte sich die Szene unter anderen Vorzeichen, Birgit Keil kam gerade von einer Gastarbeit aus New York zurück nach Stuttgart – und die Arbeitslust der beiden war erneut geweckt.
MacMillan wird, als er da so im Türrahmen stand, diesen verträumten Gesichtsausdruck gehabt haben, den die Ballettleute meistens haben, wenn sie mit Birgit – angloamerikanisch ausgeprochen: „Böhrget“ – arbeiten oder von ihr sprechen. Denn Birgit Keil hat diese außerordentliche Persönlichkeit, die man so nur im Ballett findet: eine harmonisch-freundliche Kraft; sanft, aber stringent, dabei außerordentlich weiblich. Nichts kann diese positive Energie aufhalten, denkt man, wenn man mit ihr zu tun hat. Sie ist eine Künstlerin, die mit der Seele wie mit ihrer tief empfundenen Liebe arbeitet, und als solche wussten Choreografen wie John Cranko und Kenneth MacMillan sie auch hoch zu schätzen. MacMillan hatte nicht gescherzt, als er sagte, er warte auf sie. Er wartete wirklich!
„Das war wie eine Befreiung für uns Tänzer, dass es solche Choreografen gab, die uns nicht die fertigen Schritte aufzwängten, sondern uns mitmachen ließen“, erzählt Keil: „Das setzt natürlich auch ein totales menschliches Vertrauen voraus, sonst geht so etwas gar nicht.“ Zur Inspiration fürs „Requiem“ zeigte MacMillan den Tänzern zudem vorab Fotos von Kunstwerken – von Gemälden und Skulpturen von alten Meistern, etwa von Michelangelo: Hände und bestimmte Posen standen da im Mittelpunkt. Die Inspirationsquelle fruchtete, wurde wiederum Inspiration der Choreografie, und das „Requium“ entstand fast wie eine Kollektivarbeit. Es geht ja auch um ein kollektives Erleben darin, und zwar um Trauerarbeit.
1976. John Cranko war schon seit drei Jahren verstorben. Er starb unerwartet, während eines Rückflugs aus den USA. Die Compagnie hatte zusammen gehalten und weiter gemacht, um die Kunst, die wichtigste Errungenschaft des Stuttgart Balletts, am Leben zu halten. Und, wie Tamas Detrich betont, es war auch keiner der Stars für einen schnöden, einfach zu bekommenden Erfolg an irgendeinem anderen führenden Haus einfach abgehauen. Alle versuchten, das Schiff, also das Stuttgarter Ballett, auch ohne den wichtigsten Kapitän weiterhin sicher durch alle Meere zu bewegen. Weiter zu machen, unbedingt, in Crankos Sinn, das war die Devise! Sie war auch selbst im Sinne Crankos.
Der erste Schock über seinen Verlust war nach drei Jahren teilweise abgeklungen, nicht aber die Trauer um Cranko. Es war ja kaum Zeit gewesen für eine ausgiebige Betrauerung. Jetzt war der Zeitpunkt da, etwas in dieser Richtung zu tun, Kenneth MacMillan gab die tänzerisch angemessene Gelegenheit. Er wählte Faurés „Requiem“, um eine Hommage an seinen verstorbenen Freund Cranko zu kreieren. Für das ganze Ensemble war das eine Möglichkeit, künstlerische Trauerarbeit zu leisten. So stehen am Anfang des Stücks stumm schreiende Münder für die Wut und Ohnmacht, mit der man den Tod eines bedeutenden Menschen erfährt. Ganz konkret ist es die Stuttgarter Compagnie, die mit ihren Körpern über den Tod ihres „Häuptlings“ weint. Birgit Keil weiß, wie man dazu zu tanzen hat: „Da ist soviel Gefühl, nicht nur im Körper, sondern auch im Gesicht. Das kommt natürlich von innen, vom Herzen, von der Seele, die Hingabe ist wichtig.“
Das Licht, das sonst auf der Ballettbühne für Stimmungen wichtig ist und natürlich auch, um die Tänzerkörper optimal zu sehen, hat hier den Stellenwert einer immateriellen Skulptur. Man mag an James Turrell denken, der mit Licht statt mit Farbe arbeitet. Wie ein heiliger Gral ist es hier auf der Bühne, die Tanzkünstler treten in Aktion mit ihm. Am Ende gehen sie dem Licht entgegen, auf das Licht zu, und dieses Ins-Licht-Gehen hat im Kontext die erleichternd-erleuchtende Bedeutung von Hoffnung.
Allerdings birgt das „Requiem“ auch eine künstlerische Gefahr: „Man muss aufpassen, dass man nicht die ganze Zeit auf der Bühne nur leidet“, sagt Tomas Detrich. Faurés Stück ist ja eine gesungene Totenmesse, und schon die Musik trägt die Themen Tod und Bestattung in sich. Immerhin ist sie vom tänzerischen Standpunkt her nicht so schwer zu handhaben wie das „Lied der Erde“. Birgit Keil erzählt, dass Kenneths Tochter, damals noch ein kleines Kind, vor dem Spiegel stand und zur Musik von Faurés „Requiem“ tanzte. Auch das inspirierte MacMillan: Die unbefangenen Bewegungen des Kindes flossen in die choreografische Arbeit mit ein. Kinder haben ja oftmals eine „Antenne“ für telepathische Vorgänge, weshalb manche nativen Kulturen Kinder auch zu Heiligen erklären und ihnen mit Orakelei schamanistische Rollen zusprechen.
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MacMillan war indessen ganz konkret ein väterlicher Typ. „Er war immer so besorgt, wollte wissen, ob es mir auch gut geht“, erzählt Birgit Keil. Sie ist im Sudetenland geboren, in Stuttgart aufgewachsen und eine der ganz wenigen geborenen bundesdeutschen Ballettlegenden. Das „Requiem“ wurde hingegen nicht nur in Stuttgart geprobt, sondern auch während eines Gastspiels in Madrid. Dort fand vor der Uraufführung sogar eine Bühnenprobe mit MacMillan statt. „Das war nichts Ungewöhnliches, man war zeitlich ja immer so knapp“, erinnert sich Keil, „und so wurde auch auf Tourneen noch kreiert.“
Sie reist von Berufs wegen auch heutzutage noch viel. So war sie zufällig während der Endproben zur „Hommage à MacMillan“ in Stuttgart, weil ihre Akademie des Tanzes alljährlich mit einem neuen Programm auf Tournee geht und gerade in Stuttgart auftrat. Keil schaute kurz beim Staatstheater Stuttgart vorbei, und wer lief ihr in die Arme? Erst Anna Osadcenko und dann Alicia Amatriain, die Keils erste Stipendiatin war. Beide tanzen demnächst in „Requiem“.
Früher war es so: Die Besetzungen der weiblichen Hauptpartien vom „Lied von der Erde“ und „Requiem“ waren – in beiden Stücken alternierend – die Musen Marcia Haydée und Birgit Keil. Auch bei den Männern gab es jeweils eine hochkarätige zweite Besetzung, und so ist es auch heute. Aktuell ist dann Constantine Allen, der sonst im „Requiem“ den von Richard Cragun kreierten Part tanzt, „Der Ewige“ mit der Maske. Außerdem brilliert die junge Ballerina Myriam „Mimi“ Simon, mal im „Lied von der Erde“, mal im „Requiem“. In der A-Besetzung vom „Lied von der Erde“ ist auch der Shooting Star Elisa Badenes zu sehen, während im „Requiem“ David Moore einen zweiten Bick wert ist. Sie alle wird die Erfahrung, diese Stücke zu tanzen, prägen. Für Birgit Keil war es essentiell wichtig, die modernen Choreografen etwa von MacMillan, aber auch von Cranko und anderen durchzuarbeiten: „Natürlich tanzt man danach sogar ‚Schwanensee’ anders, weil man eine andere Innenansicht hat!“
Aber auch andere Künstler, nicht nur die Tänzer, machen den Abend zu einem erhebenden Event. Das Licht stammt in „Requiem“, wo es so überaus wichtig ist, von Mark Pritchard, im „Lied von der Erde“ von John B. Read. Die Ausstattungen besorgten Yolanda Sonnabend („Requiem“) und Nicholas Georgiadis („Lied von der Erde“).
Außerdem hat der Dirigent James Tuggle, der aktuell in Stuttgart beide Stücke musikalisch leitet, als Musikdirektor des Stuttgarter Balletts einen ausgezeichneten Ruf. Aber das Gewinnspiel, in dem es rund um MacMillan geht, hat bereits am 1. Dezember Einsendeschluss – darum nix wie ab auf die Homepage des Stuttgart Balletts!
Wer dann die Premiere oder eine der folgenden Aufführungen besucht, wird wohl spüren, wie sehr sich das Stuttgarter Ballett bemüht, den Geist der kreativen 60er und 70er Jahre dynamisch auferstehen zu lassen. Keine ganz leichte Aufgabe, aber das Team unter Ballettintendant Reid Anderson bringt die besten Voraussetzungen mit. Vielleicht versüßt es die Vorstellungen zusätzlich, wenn man sich vor Augen hält, dass es hierin – auf einer Metaebene – auch um eine großartige Künstler- und Männerfreundschaft geht: Cranko und MacMillan ehrten sich gegenseitig, eine negativ verstandene Rivalität ist bei ihnen kategorisch auszuschließen. Schon das allein ist etwas, das Mut macht!
Gisela Sonnenburg
Wieder am 3., 5., 10. und 18. April im Opernhaus Stuttgart
Siehe auch den Premieren-Nachbericht: www.ballett-journal.de/erhabene-euphorie/
Buchtipp: Wiebke Hüster, „Birgit Keil – Ballerina. Glück ist, wenn auch die Seele tanzt“, 176 S., etwa 100 Abbildungen, Henschel Verlag, Leipzig, 2014, 29,95 Euro.
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