Die Stimmung ist gespannt. Das Staatsballett Berlin (SBB) befindet sich im Umbruch. Sein neuer Intendant, der Spanier Nacho Duato – 1957 als Juan Ignacio Duato Barcia in eine Seidenfabrikantenfamilie hinein geboren – ist alles andere als eine Bilderbuchbesetzung für seinen neuen Job. Er ist auch nicht gerade zu beneiden: Sein glamouröser Vorgänger, Vladimir Malakhov, vollbrachte in den zehn Jahren der Aufbauarbeit des SBB (das 2003 aus den drei Balletttruppen der Berliner Opernhäuser hervor ging) so Einiges, die Messlatte liegt hoch.
UND HIER GEHT’S ZUM GROSSEN BERICHT ÜBER „DORNRÖSCHEN“ VON NACHO DUATO IN BERLIN:
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Man kann tatsächlich vom Malakhov’schen Ballettwunder sprechen, das die damals rund 90-köpfige Compagnie nach nur wenigen Jahren in den internationalen Topbereich der Tanzszene torpedierte. Plötzlich konnte Berlin wieder mithalten mit Hamburg, Stuttgart, London. Sogar mit Paris, Moskau, New York. Seit vergangenen DDR-Zeiten hatte Berlin nicht mehr so viel ballettösen Glanz gesehen. Und dann?
Dann ließ sich Malakhov, geschwächt von der Aussicht, mit Mitte 40 als aktiver Ballerino aufhören zu müssen, willig von einem profilneurotischen Staatssekretär abschießen. André Schmitz, der Staatssekretär, wollte sich auf Biegen und Brechen in Berlin mit was Neuem profilieren, dabei womöglich auch noch Geld sparen. Er ignorierte die hohen Auslastungszahlen bei klassischen Ballettvorstellungen und das halbleere Parkett, wenn Stücke von Marco Goecke und Nacho Duato auf dem Plan standen.
Dabei ist „Arcangelo“ von Duato, das seit April 2012 vom SBB im Schiller Theater getanzt wurde, kein schlechtes Stück. Aber die Einstudierung durch den Gastballettmeister Thomas Klein schwächelte, und weil niemand den Tänzern das richtige Verständnis des dichotomisch, über die barocken Gegensätzlichkeiten funktionierenden Kammerstücks beizubringen vermochte, lief das Publikum davon – oder kam noch nicht mal gucken.
Duato und Berlin – da gibt es aber nicht nur Trennendes, sondern auch Vereinendes. Duato ist der große Melancholiker unter den zeitgenössischen Choreographen. Sein Temperament ist lyrisch, seine Aura disharmonisch – diese Mischung macht ihn modern. Seine Stücke sind von lamentierender Eleganz, sie schwelgen in sanften Stimmungsschwankungen, oft suggerieren sie eine Metaphysik des Leidens, auch des Selbstmitleids, auf hohem und höchsten Niveau. In gewisser Weise passt das zu den zerrissenen, sich wie wundgerieben fühlenden Berlinern, deren Stadt sich viel zu schnell und zu fremdbestimmt verändert hat, als dass die meisten Einwohner hätten mithalten können.
Zur spanischen Gemeinde in Berlin hat Nacho Duato übrigens schon Kontakt aufgenommen, das verriet er mir im Gespräch. Ansonsten bedeutet Berlin für ihn vor allem das Ballettzentrum mit den schönen, hellen Trainingssälen und einem Studio, das so groß wie die Bühne der Deutschen Oper Berlin ist. Dass er mal Ballettintendant wird, war in seiner Kindheit nicht abzusehen. Sein Vater war damals gegen den Tanz als Beruf, und obwohl sich bei dem Jungen Juan Ignacio, der acht Geschwister hat, früh sein Talent fürs Tanzen abzeichnete, war es schwer für ihn, an guten Unterricht zu kommen. Nur über Umwege und übers Ausland konnte er sich durchsetzen.
DER SCHÜCHTERNE BALLETTBOSS
Bei einem Termin der so genannten „Ballett-Universität“ im Ballettzentrum in der Deutschen Oper Berlin stellte Nacho Duato sich kürzlich rund 200 Tanzinteressierten vor – und schilderte anschaulich, mit sanft-melodischem Timbre in der Stimme, seinen Werdegang. Dabei verkörperte er – groß, schlank und kantig gebaut – den linkisch-unsicheren Künstlertyp, der stets bemüht ist, Normalität vorzugeben, der aber unübersehbar eine chaotisch-kreative Seele hat. Hoch nervös, ja fickerig, ließ er sich von Christiane Theobald, der ständigen Stellvertreterin der wechselnden Berliner Ballettintendanten, einführen, zwinkerte dann mit burschikosem Charme in eine imaginäre Ferne – und begann, sich und sein Werk zu erklären, soweit das ein Künstler eben so leichthin machen kann.
Das Thema der Veranstaltung lautete „Mode und Ballett“. Im Holzfällerhemd zur ausgebeulten Jeans, mit schweren Silberringen an den schlanken Fingern und der Münzmedaille an einer großgliedrigen Halskette – sehr trendy – gewann Nacho Duato, während Filme mit Auszügen aus seinen Stücken liefen, an Sicherheit. Sein erstes Stück, „Jardi tancat“ von 1983, gewann damals ja gleich einen wichtigen Choreografenpreis, in Köln, in Deutschland also, obwohl Nacho es fürs Nederlands Dans Theater in Den Haag kreiert hatte. Dort war er damals auch Tänzer – aber der Reihe nach.
„Meine Kindheit“, erzählte Nacho Duato, „war geprägt von einem ganz bestimmten Geruch.“ Der stehe seither für ihn für Schönheit und Wohlbefinden, sogar für die eigene Identität. Es ist der Geruch von Seide während der Fabrikation. Denn seine Eltern waren Fabrikanten, auf Produkte aus echter Seide spezialisiert, bereits in vierter Generation. Bis heute ziehen den Choreografen delikate Materialien an, und wenn er zu seinen Balletten auch die Kostüme designt, so rührt das an seine Kindheit.
Leider blieb Nachos Nase nicht sensibel genug, um eine olfaktorische Katastrophe beim SBB zu verhindern: Die aktuellen Flyer, Programmhefte und sonstigen Druckerzeugnisse stinken überdurchschnittlich stark nach Lösemitteln. Für Medien, die eigentlich Werbeträger fürs Ballett sein sollen, ist das denkbar ungünstig. Der Ballettchef hat damit aber womöglich nicht mal viel zu tun, denn die Wahl der Druckerei kann auch anderen Führungskräften unterstehen. Hier sollte nachgebessert werden. Damit man die Ästhetik des Understatement, die Nacho Duato im Staatsballett einführt, auch genießen kann (ohne zu niesen).
Duatos künstlerischer Stil steht derweil für eine zeitlos-noble Moderne, die der Androgynität und der Avantgarde verpflichtet ist. Bei der Außendarstellung zählt jetzt inszenierte Glaubwürdigkeit: So ließ Duato die im doppelten Sinne hübsch frisierten Portraitfotos der Tänzerinnen und Tänzer von der Homepage des Staatsballetts entfernen und durch verschwitzte Nahaufnahmen aus der Probenarbeit ersetzen. Jetzt atmet die – übrigens bereits preisgekrönte – Website jene hypermoderne Authentizität und ehrliche Schäbigkeit, mit der der neue Ballettintendant sehr gut ins heutige Berlin passt.
Der Choreograf in Nacho Duato ist allerdings weniger nachlässig, vielmehr könnte man vom branchenüblichen detailversessenen Pedantismus sprechen. Selbiges gilt für die von ihm entworfenen Kostüme: Schönheit und elegante Linien sind da ein Muss! Die von ihm bevorzugten flachbrüstigen Tänzerinnen – viele typische Duato-Bewegungen wie das schnelle Armschwingen vor dem Körper lassen sich mit Busen kaum ausführen – steckt er in eng anliegende, langärmelige Oberteile und knöchellange, mehrlagige Tellerröcke. Die Kleider sind, wie auch die Choreografien, von spanischer Folkore inspiriert, und dass Duato ausgerechnet in Holland damit anfing, sie zu kreieren, ist gar nicht mal unlogisch, sondern passt zur Geschichte: Der südliche Teil der Niederlande stand lange unter spanischer Vorherrschaft. Dafür finden sich auch modifzierte Elemente des holländischen Holzschuhtanzes in seinen Tanzstücken – ins Anmutig-Stilisierte erhoben.
Ob diesem der Schlichtheit verfallenen Schöngeist der aktuelle Berliner „Nussknacker“, ein Erbe aus der Malakhov-Ära, zusagt? Man kann ihn ja schlecht fragen. Als Ballettboss hat Duato das, was auf dem Spielplan steht, zu verteidigen. Wobei der vom Bolschoi geprägte „Nussknacker“, der erst letztes Jahr in Berlin premierte, Verteidigung gar nicht nötig hat. Aber niedlich und puppig, verspielt und protzig und auch ein kleines bisschen kitschig im liebenswerten Laura-Ashley-Sinn ist er schon…
Vasily Medvedev und Yuri Burlaka rekreierten die Urfassung des im Dezember 1892 uraufgeführten Balletts vom Choreographen Lew Iwanow. Oft firmiert das Stück ja als eines von Marius Petipa. Dieser war aber zur Probenzeit erkrankt und überließ die Ausführung seiner Pläne Iwanow. Seither entstanden weltweit viele variierende Versionen, aber Medvedev und Burlaka wollen möglichst nah ans Original. Vulgo: Naivität als ästhetische Kategorie.
Das Stück spielt unterm Weihnachtsbaum, kostümlastiger Gesellschaftstanz beherrscht die ersten Szenen. Bis Michael Banzhaf als faszinierend-dubioser Onkel Drosselmayer seine Arme ausbreitet: Trotz piratiger Augenklappe vermag er mit elegantem Tanz und schauspielerischem Ingenius einen schelmischen Magier darzustellen. Und beim hochkarätig geschlängelten „Danse orientale“ (Federico Spallitta mit vier Damen) kommt Stimmung wie im noblen Swingerclub auf: Eine sinnenfreudige Märchenwelt öffnet sich.
Darin wartet Iana Salenko als versponnenes Mädchen Clara auf die Liebe. Flugs wird ihr Nussknacker lebendig; Salenko und Marian Walter tanzen mit bewährter Anmut, brechen einem fast das Herz vor Charme. Bühnenbilder und Kostüme wirken hingegen ganz schön bunt, wurden sie doch der pompösen Uraufführung nachgebaut und nachgeschneidert. Die Schneeflocken-Mädchen allerdings sind eine Augenweide. Und: Wundersam frohlocken können die Ensemble-Tänzer, wenn sie in sattgelben Kostümen ein niedliches Butterblumen-Ballett bilden. Ihr Reihentanz mit und ohne Girlanden sowie mit graziösen Solistinnen ist so akkurat und herzlich, dass eigentlich der Corps de ballet hier der Hauptdarsteller ist.
Als Kind war Nacho Duato von solchen märchenhaften Ballettszenerien sicher eher fern. Aber seine Schwestern erhielten im elterlichen Haus Ballettunterricht. Die Ballettlehrerin – eine imposant-resolute Frau namens Lola – hatte sofort ein Auge für Nachos Talent. Der Vater wollte indes, dass sein Sohn Karate lernte. Unter dem faschistischen Franco-Regime war die Atmosphäre für tanzende Jungens, die womöglich auch noch homosexuell waren, alles andere als lustig.
Mit 18 Jahren trickste Nacho seine Eltern aus, reiste nach London, ohne der Familie zu sagen, dass er dort bleiben und tanzen lernen wolle. Die Schule des Ballet Rambert nahm ihn mit einem Stipendium in die Profi-Ausbildung, wegen seines Talents und wegen seiner guten Tänzerfigur, vielleicht auch wegen seines hübschen Gesichts, obwohl er altersmäßig für einen angehenden Ballerino recht spät dran war. Für Ballettverhältnisse ist Duato mit etwa 1,80 m zudem ziemlich groß – damals kam dieser Typ Körper, mit kantigen Formen vor allem für den Modern Dance geeignet, gerade in Mode.
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Als Londoner Student hatte er es aber nicht nur leicht: Nebenbei jobbte Duato in einer Fastfood-Kette für seinen Unterhalt. Bis ihn Maurice Béjart in seine Brüsseler Schule „Mudra“ („Handbewegung“) aufnahm. Es folgte New York als Stadt und Stätte des Lernens: im Alvin Ailey Dance Center holte Nacho Duato sich den letzten Schliff. 1980 trat er dann das erste Engagement an, in Europa, in Schweden: beim Cullberg-Ballett. Modern, expressiv, stark stilisierend – die Richtung Duatos war damit klar.
Als er begann, selbst zu schöpfen, hatte er als Tänzer bereits Einiges erreicht: Jiří Kylián hatte ihn zum Nederlands Dans Theater (NDT) geholt, das seit den ausgehenden 70ern Weltruhm erlangte. Die internationale Tanzwelt war hungrig, nein: gierig nach dem neuartigen Stil, den der in Prag ausgebildete Kylián von Holland aus verbreitete. Was war das für ein Unterschied zum oftmals süßlich-aufgebrezelt einher kommenden klassischen Tanz! NDT, das hieß: gerade Linien, gleitende Figuren, sichtbare ethnologische Einflüsse; entspannte Gesichter ohne verkrampftes Grinsen; weit ausholende Armbewegungen, die ständig nach Freiheit zu rudern schienen; die Fallhöhe der Körper wurde ständig neu definiert, da sie von Luftsprüngen rasch auf den Boden und zurück wechselten. Das NDT revolutionierte das Ballett, keine Frage, und diese Erneuerung ist zu vergleichen mit dem Einzug der konkreten Malerei, die die figürliche und abstrakte Kunst ergänzt.
1984, Den Haag. Nacho Duato tanzt. „Stamping Ground“ ( „Revier“, „Stampfender Grund“) heißt das Stück von Kylían, das Ethno-Einflüsse aus Australien aufgreift. Nur mit goldfarbenen Hotpants bekleidet, schlängelt Nacho Duato sich hier a cappella elastisch über die Bühne. Es gibt eine Video-Aufnahme davon. Er umfasst einen Fuß, geht mit dem Bein in eine moderne Attitüde. Er klatscht in die Hände, gleitet sanft über den Boden, er springt. Wellen des Verlangens gehen durch seinen schönen Leib. Er umschlingt diesen rückwärts, platziert die Hände auf den Nieren, dann bei den Lenden. Er klatscht sich auf den Rücken, springt wieder hoch, zappelt, landet sachte. Ein ergreifendes Solo für einen einsamen Kämpfer. Bis Trommeln einsetzen und mehrere andere Tänzer auf die Bühne stürmen.
Neun Jahre blieb Duato beim NDT, das er noch heute sein „künstlerisches Zuhause“ nennt. Obwohl Béjartes „Le Sacre du Printemps“ – vor zwei Monaten in Berlin als Gastspiel aus Lausanne zu sehen – für Duato wie ein Erweckungserlebnis war, ist sein choreografischer Stil vor allem von Kylián geprägt. Das mag auch am Zeitgeist der 80er Jahre liegen. Angebot und Nachfrage: Arbeiten im Stil Kyliáns galten damals als Nonplusultra des zeitgenössischen Tanzes. Nacho Duato fing, karrierestrategisch gesehen, genau zum richtigen Zeitpunkt an zu choreografieren.
Er entwarf entbehrungsreiche, aber wunderschöne Interieurs, in denen er Paare, Dreier- und Vierergruppen sinnträchtig-symbolbehaftet trauern und nach Freude lechzen ließ. „Arenal“ von 1988 benutzt, wie sein Erstling „Jardi tancat“, die jaulenden, vom Flamenco beeinflussten Songs der Liedermacherin María del Mar Bonet. Zehn Tänzerinnen und Tänzer üben hier das Überleben in einer harten Welt, und nur ihre eigene, ab und an unbändig aufblitzende Lebenslust kann ihnen den Kampf gegen die Armut und die Strenge auf dem Land versüßen. Arte povera ist das nun allerdings nicht. Kostüme und Lichtdesign sind von erlesener Ästhetik, es obsiegt die edle Schlichtheit, bei der jede Linie, jede Kurve bis ins allerkleinste Detail stimmig ist.
Transzendierend ist hingegen „Duende“ von 1991. „Elfen“ bezeichnet das spanische Titelwort, und so losgelöst von allen Sorgen verhalten sich denn auch die zwölf Tänzerinnen und Tänzer. Als Duato „Duende“ premieren ließ, hatte er bereits seine eigene Company. Weil sein Stil so „in“ und zudem unübersehbar spanisch geprägt ist, hatten ihm die Spanier ihr Nationalballett in Madrid anvertraut. Die Truppe war keineswegs hochkarätig, aber Duato verstand es, innerhalb weniger Jahre ein international gefeiertes Ensemble daraus zu schmieden. Hauptanlass für ihn, sich reinzuhängen: seine eigenen modernen Choreografien, die das zuvor klassisch-neoklassische Image der Madrider Tänzer nachhaltig veränderten.
Einen ähnlichen Umbau einer Compagnie muss Duato auch jetzt durchziehen, wenn er sich treu bleiben will. Denn nicht nur er passt nicht zum SBB – auch das SBB passt so, wie es ist, nicht zu ihm. Gentian Doda, der von Duato neu eingesetzte Erste Ballettmeister, wird bei der Findung des neuen Tanzstils helfen. Man muss hoffen, dass dabei nicht allzu viel an Können zertrümmert wird. Doda, 1978 in Tirana (Albanien) geboren, ist schon seit 2003 Duatos Tänzer. Zudem choreografierte er, für die Juniorcompany des Spanischen Nationalballetts wie für die Haupttruppe. Als Coach für Duato-Ballette hat Doda reichhaltig Erfahrung. Nur: Als Ballettmeister eines großen Ensembles, das fit gehalten und tagtäglich kontrolliert werden will, ist er auf die vorhandenen Kräfte angewiesen. Eine erste Feuerprobe der neuen Leitung wird die „Giselle“-Premiere – mit Polina Semionova in der Titelrolle – am 11. Dezember 2014 sein.
Die Jungballettmeisterin Alessandra Pasquali, die ein besonderes Gespür für die Tagesform ihrer „Schäfchen“ hatte, wurde indes gekündigt. Das verbliebene Team aus drei Ballettmeistern und zwei Choreologinnen leistete aber in genau dieser Formation in der Vergangenheit bereits hervorragende Arbeit: als reibungslos agierende „Motivationsmaschinerie“.
Ob Soloparts, Pas de deux oder Ensemble-Konstellationen – wenn die Probenzeit ausreichte, stellten die Ballettmeister Tomas Karlborg, Barbara Schroeder und Christine Camillo superbe Vorstellungen auf die schönen Tänzerbeine. Dabei beherrschten sie und das SBB, vom Klassischen ausgehend, durchaus auch moderne Stile und choreografische Handschriften: von Angelin Preljocaj und Giorgio Madia, von Mauro Bigonzetti und Tim Plegge. Werden sie jetzt mit Duatos Stilistik zurecht kommen?
Duatos Stil ist deutlich weniger schwebend, weniger schwerelos als das Klassische, weniger noch als der Stil seines choreografischen Ziehvaters Kylián. Man strebt zur Erde, in die Erde hinein, wenn man Duato tanzt, aber was in seinen Stücken schön und elegant aussieht, könnte in anderen Choreografien, vor allem in klassischen, eher nach hinten losgehen. Das ist die Gefahr für eine Company, wenn sie sowohl Duatos elegische Moderne als auch klassisches Ballett möglichst hervorragend bringen soll.
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So war die letzte Station von Nacho Duato, bevor er nach Berlin kam, nicht nur von künstlerischem Erfolg, sondern auch gerade von diesem Zwiespalt eines Ensembles geprägt. Der megareiche Oligarch Vladimir Kekhman hatte das Mikhailovsky-Theater in Sankt Petersburg gekauft und mit vielen Rubeln zu einer veritablen Konkurrenz zum Kirov Theater ausgebaut. Viele Kirov Stars wechselten zu Kekhman, neben der Oper ist das Ballett eine Sparte mit monumentaler russischer Größe: etwa 150 Tänzerinnen und Tänzer umfassend.
Duato als dortiger Ballettchef seit 2011 inszenierte überraschenderweise auch Tschaikowsky-Ballette, so ein klassisches „Dornröschen“. Dieses fiel als Gastspiel in Westeuropa – so in Baden-Baden – allerdings durch: zu viel Pomp, zu wenig Seele, wurde moniert. Eben dieses „Dornröschen“ wird Duato nun ab Februar 2015 in Berlin mit dem SBB zeigen – immerhin mit dem Petersburger Superstar Leonid Sarafanov als Gasttänzer.
Ab März 2015 kann man mit „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ ein abendfüllendes modernes Ballett Duatos sehen. Es entstand 1999 zu Musik von Bach, und eine barbusige Frau mit Maske im Gesicht verkörpert darin den schönen, aber unerbittlichen Tod. Personifizierung ist ohnehin die Stärke dieses Stücks: So spielt ein Tänzer, der den Komponisten Bach darstellt, mit einer Tänzerin, als sei sie ein Cello. Entzückend ist das anzusehen, die Szene hat Witz und Erotik und wird nur noch getoppt von einer ähnlichen Konstellation, in der sich zwei Geigen – also zwei Tänzerinnen – gegenseitig befiedeln.
Für „Vielfältigkeit…“ entwarf Duato die Kostüme selbst, und auch, wenn er im Mai eine neue Kreation für die Berliner präsentiert, werden die Outfits von ihm sein. Die Neigung zu schönen Stoffen ist ihm ja sozusagen in die Wiege gelegt. Allerdings zeichnet er seine Modelle nicht, sondern geht direkt in die Ateliers, wo pro Tutu rund 60 Arbeitsstunden berechnet werden. Mit Nacho Duato werden es vielleicht noch mehr sein, denn der neue Berliner Ballettchef bespricht sich mit den Schneidermeister(inne)n ohne vorherige schriftliche Entwurfvorlage. Zuerst wird anhand von Ankleidepuppen ausprobiert, dann am lebenden Objekt: am Körper der Tänzer. Die dadurch ein deutlich erhöhtes „Kostümanproben-Aufkommen“ haben werden. Dazu passt der avisierte Titel der Uraufführung: „Static Time“ (frei übersetzt: „Stillstand der Zeit“) soll Duatos ballettöse Kreation heißen.
Ob das Staatsballett Berlin sein hohes Niveau in Zukunft halten kann, ist nicht sicher zu sagen. Die bereits verkleinerte Truppe wird gerade umtrainiert – aber dass eine moderne Gewichtung beim Training die Befähigung zu Präzision und Anmut im Klassischen beschädigen kann, ist bekannt und bleibt eine abzuwehrende Gefahr.
Noch einmal zurück zum Berliner „Nussknacker“: In Claras Traum bricht Krieg aus. Die Mäuse-Armee ist zwar überlegen, aber töten kann sie den Nussknacker nicht, nur verletzen. Er überlebt als Verletzter: mit Streifschüssen, die in den Kulissen wundersam rasch ausheilen. Glückliche Verwirrung bewirkt dann vor allem die berüchtigt-melodiöse Musik von Peter I. Tschaikowski. Robert Reimer, Dirigent der Premiere, drehte nach der Pause voll auf.
Clara reist zu Walzertakten ins süße „Konfitürenburg“, tanzt dort das berühmte „Zuckerfee“-Solo gleich selbst. Der Grand Pas de deux mit Prinz Nussknacker bewirkte bei der Premiere im Oktober 2013 herzhafte Bravo-Stürme. Rund 60 Kinder der Staatlichen Ballettschule Berlin gaben ebenfalls ihr Bestes, was mitunter wirklich gut ist. Exotische Folklore und eine märchenhafte Krönung des Liebespaares lassen das Libretto, das auf einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann beruht, dann endgültig ins Reich glänzender Jugendträume abdriften… Ballett als Rausch aus Farben, Fröhlichkeit, Finesse. Aber Nacho Duato hätte diesen „Nussknacker“ womöglich nie nach Berlin geholt. Er ist zu kunterbunt für einen Melancholiker.
Staatssekretär André Schmitz wurde mittlerweile übrigens zurückgetreten, wegen Steuervergehens. Sein Nachfolger Tim Renner erklärte, wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Vladimir Malakhov ruhig bleiben können. Bis zu 45 Minuten Standing Ovations hatte der bei seinen Berliner Abschiedsvorstellungen erzielt. Eine hohe Messlatte an Beliebtheit…
Gisela Sonnenburg
„Der Nussknacker“ wieder am 27. und 30.11. (2 x) sowie am 5., 10., 15., 26. (2 x) und 27.12. in der Deutschen Oper Berlin
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