Gestörte Körpergefühle Manchmal hat man es schwer mit seinem Körper. Der Bildhauer Georg Herold weiß das – und zeigt entsprechende Arbeiten in Berlin bei Contemporary Fine Arts

Kunst aus Schaum

Georg Herold weiß genau, was er tut – auch wenn er nicht hinguckt, wenn sich der Kunststoffschaum zu Kunst formiert. Courtesy: cfa Berin Foto: Jens Ziehe

Wenn ein Künstler neue Materialien entdeckt, ist das Ergebnis normalerweise zunächst als Experiment zu begreifen. Georg Herold, 1947 geborener Bildhauer und gelernter Schmied, entdeckte mit Polyurethan-Schaum (PUR-Schaum) einen Kunststoff, der zwar mit den üblichen Vorstellungen von Natur nicht mehr viel zu tun hat, dafür aber zu Herolds Anforderungen an einen neuen Kreativstoff passt. In der Berliner Galerie Contemporary Fine Arts zeigt Herold, wie glänzend ihm der neue Arbeitskram geriet.

Zusammen mit Wachs und Holzlatten sowie mit Leinwänden, die wie Textilien verwendet und vernäht wurden, ergeben sich aus dem PUR-Schaum menschliche Figuren. Es sind betont zeitgenössische Figuren: heutige Abbilder heutiger Menschen. Wie zufällig zurecht gepfriemelt, mit lässigen Unregelmäßigkeiten, liegen oder stehen sie, kriechen oder verbiegen sich die Glieder. Mit etwas Fantasie könnte man sagen: Sie tanzen, trainieren, proben, führen auf, sie sind – ganz heimlich – Tänzer aus Berufung.

Da streckt eine Kreatur ihr Bein von sich, als solle dieses im Hinblick auf Kurvigkeit und Muskulösität begutachtet werden. Dabei ist es bei weitem nicht perfekt! Wie zerfasert, zerfusselt, zergliedert fühlt es sich an. Von innen wie von außen. Subkutanes Fettgewebe hin oder her, dehnbare Bänder und Sehnen hin oder her, fein geschmiertes Gelenk hin oder her – dieses Tanzbein ist mühsam hoch geschwungen!

Aber es gibt nun mal Tage, an denen selbst hervorragende Tänzer vor ihrer eigenen körperlichen Hülle am liebsten weglaufen würden. Mein Körper? Grrr… iiiiiih… uuuuuuuh! Dabei stört im Grunde nichts Konkretes, keine Zerrung, kein verstauchter Knöchel, kein Zipperlein jedweder Art. Und doch ist da eine gewisse Steifheit oder Versteifung, eine mangelhafte Koordinationsbefähigung, eine Lustlosigkeit, die wörtlich in jeder Körperzelle zu stecken scheint und sich bei genauerer Kontrolle auch noch auszudehnen scheint.

Schaum zu Bein

Volle Dehnung: Herolds Figuren sind heimliche Tänzer(innen)… Courtesy: cfa Berlin. Foto: Jens Ziehe

Doch gegen das gestörte Körpergefühl hilft was. Anfassen! Angucken! Arbeiten! Wer klug ist, überwindet alle Fremdgefühle sich selbst gegenüber und lernt sich eben einfach neu kennen. Die Entdeckung der eigenen Fähigkeiten mit den Augen des Pioniers, der Neuland erobert, ist sowieso nicht die schlechteste Art, mit sich selbst ins Reine zu kommen.

Jedenfalls ist das besser, als sich selbstmitleidig zu fühlen wie ein ausrangiertes Möbelstück. Aber auch solche befinden sich in der Ausstellung: Barhocker und Tische, aufeinander getürmt und in Leinwand eingewickelt, sie sind abgenutzt und nagelneu zugleich. Möbel aus dem Lager, Möbel auf der Halde, aufgearbeitete Möbel, die vorerst ausgemustert wurden oder – noch nie in einen Job vermittelt – wie auf Abruf auf einen Einsatz warten. Sind sie verzauberte Menschen, die in dieser Überflussgesellschaft aus Menschenmaterial noch nicht einmal die traute Zweisamkeit als taugliche Überlebensstrategie probieren durften?

Quietschbunt lackierte Boxhandschuhe aus Aluminium, logischerweise gut nutzbar im Kampf gegen Rivalen und andere Unwegbarkeiten, ragen im letzten Raum der Ausstellung aus den Wänden. Hau zu!, rufen sie, schlag dich durch! Zwischen ihnen ist eine Tischplatte mit einem seltsam nackigen, auch fehlerhaften Paar darauf platziert. Er kriecht anscheinend über sie hinweg. Oder? Kopulieren hier Mann und Frau? Treiben sie ein bestimmtes Vorspiel? Tun sie es in echt oder üben sie für eine Aufführung? Für ein Rollenspiel? Für die Bühne? Für einen Auftritt im echten Leben?

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Irgend etwas scheint befremdlich. Irgendetwas fehlt. Die Liebe? Das wahre Gefühl? Welches Gefühl, welche Wahrheit?

Die Fragen erschöpfen sich, die Antworten kommen langsam beim Hinausspazieren. Da geht man dann doch noch einmal hin, zu diesem Torso mit den dicken Nähten am Schaumleib im ersten Raum, eine geflickte, alte Haut scheint er zu haben – und reckt und streckt und dehnt dennoch die Beine, als ginge es darum, morgen als Primaballerina anzutreten. Was erzählt diese Ruine, die zugleich abstoßend hässlich und doch von einzigartiger Schönheit ist?

Sie spricht von Schmerz und Scham, von Überwindung und Selbsthass, von Ekelgefühlen am Morgen und Sexhunger am Abend. Die Verwitterung dieser Figur ist trotz ihrer kopflosen Vitalität unübersehbar und nicht nur vorgetäuscht: Schaumreste quillen aus den Nahtstellen, Folie ist notdürftig darauf verklebt wie Trostpflaster. Ein Trümmermensch!

Aber sind wir das nicht alle, ab und an, unter der mehr oder weniger gepflegten Fassade unserer selbst? Irgendwie sind diese rudimentären, absurd langgliedrigen, dennoch so hilflosen Wesen sympathisch, und das muss an ihrer inneren Ähnlichkeit mit jedermann und jedwedefrau liegen.

Dabei ist die Trauer um den Verlust der Jugend – und dabei handelt es sich zweifelsohne bei diesen skulpturalen Halbkreaturen – in eine bodenlose Leichtigkeit gefasst. Der Titel der Ausstellung deutet schon darauf hin: „1,012 kg“ ironisiert die Sehnsucht nach Leichtigkeit und Magerkeit, nach Leichtgewichten und Diäten. Und so heißt eine sehnige Hand, die im Riesenformat knochig-skelettös wirkt, auch schlichtweg: „Hungerharke“.

Herold, der bei Sigmar Polke in Hamburg studierte, wurde in Jena geboren. Von der charmanten, alten, kleinen Hauptstadt der romantischen Epoche in Deutschland hat er das Gruseln und das Erschauern. Diese, für die literarische Spätromantik prägend, nahm Georg Herold in sich mit hinaus, weit hinaus, ins wilde internationale Künsterleben. Er ist ein Seelenverwandter von Werner Büttner und Martin Kippenberger, und dass er heute auch Professor für Bildhauerei der Kunstakademie Düsseldorf ist, widerspricht keinesfalls seiner hemmungslosen Kreativität.

Herold kaputte Kreatur

Wir wissen nicht, was diese Halbkreatur denkt. Betet sie? Fühlt sie sich missverstanden? Hadert sie mit dem Schicksal des Alterns? Courtesy: cfa Berlin Foto: Jens Ziehe

Das Haus, in dem diese Ausstellung präsentiert wird, wurde übrigens vom Stararchitekten David Chipperfield so gestaltet, dass es speziell für die Ausstellung von zeitgenössischer Kunst geeignet ist. Mein Insidertipp betrifft die Nutzung des Fahrstuhls der Galerie hinauf in den ersten Stock, in dem Herolds Schaum-Schau residiert: Von den Proportionen her ist der geräumige Lift ein echtes Kunstwerk, das jeden noch so ehrwürdigen Paternoster in den Schatten stellt. Frohes Hochfahren!
Gisela Sonnenburg

Bis 20. Dezember bei Contemporary Fine Arts, Am Kupfergraben 10, 10117 Berlin

www.cfa-berlin.com

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Und noch was:

Die deutsche Mutti“ heißt dieses Werk von Georg Herold. Es steht – ohne zeitliches Limit – im Foyer vom Stage Theater in Hamburg. Wer sich gern provozieren lässt, schaut sich das an: Ein Skandal ohne Kinder, mit dem Stabhochsprungstab im Anschlag, als sei es ein Speer… und doch autark und autonom und ganz gewiss nicht männerfeindlich, oder?

Eine deutsche Mami

„Die deutsche Mutti“, wie der wilde Künstler Georg Herold sie sieht. Diskussionsbedarf? Aber bitte! Foto: Gisela Sonnenburg

 

 

 

 

 

 

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