Ein Prinz der ersten Wahl Tamas Detrich ist der kommende Intendant beim Stuttgarter Ballett; er war auch der erste „Dornröschen“-Prinz von Marcia Haydée, deren Inszenierung jetzt erneut premiert

Dornröschen ist ein Ballett-Kunstmärchen auch für Erwachsene.

„Dornröschen“ – hier in der „Plakat-Besetzung“ mit Anna Osadcenko und Friedemann Vogel vom Stuttgarter Ballett in Marcia Haydées Version. Foto: Stuttgarter Ballett

Dieser Mann kennt die John-Cranko-Ballette wie aus dem Effeff: „Es ist in meinem Körper!“ Als Teenager kam er aus New York nach Stuttgart – und er kam, um zu bleiben. Tamas Detrich, mutmaßlich Jahrgang 1960, wird ab der Spielzeit 2018/2019 der neue Intendant vom Stuttgarter Ballett werden, in der Nachfolge von Reid Anderson, dem aktuell amtierenden Ballettchef. Der Verwaltungsrat der Staatstheater Stuttgart steht ebenso hinter Detrich wie der Oberbürgermeister – und wie die Tänzerinnen und Tänzer des Stuttgarter Balletts, für die Detrich nicht nur ein hoch begabter Ballettmeister und Leader ist, sondern auch, als ehemaliger Erster Solist, einer der ihren. Zudem kreierte er Rollen wie den Prinzen Desiré in der 1987er „Dornröschen“-Inszenierung von Marcia Haydée – diese wird ab dem 22. Juli in Stuttgart wieder gespielt.

Es ist eine besonders liebreizende und der Tradition entsprechende Interpretation von „Dornröschen“, die Haydée mit einer Ausstattung des legendären Bühnen- und Kostümbildners Jürgen Rose da erschuf. Die Farbe Rosé könnte man hier neu definieren – nicht als knalliges Pink, auch nicht als blässliches Babyrosa, sondern als zarte, aber prägnante, ins Flieder spielende Farbe von Festlichkeit. Auch Gelb und Rot sowie das Blau etwa eines Rittersporns sind vertreten: Opulenz und Prächtigkeit gehören zu jedem „Dornröschen“-Ballett wie der Sommer zu einem Garten.

Der Prinz hier ist stattlich und eine Spur männlicher als in den meisten anderen „Dornröschen“-Versionen. Er ist kein naiver Junge, sondern ein frühreifer, selbstbewusster Knabe, der schon sehr genau weiß, was er will: nämlich die beste junge Dame, die überhaupt zu haben ist. Marcia Haydée und Tamas Detrich haben ihren Desiré sozusagen entjungfert, haben ihm die Weihe der Ungewissheit genommen und ihn als dominant-männlichen Part mit der entsprechenden Zielgewissheit eingeführt.

Dornröschen ist ein Ballett-Kunstmärchen auch für Erwachsene.

Das Ensemble hat gut zu tun in „Dornröschen“ – Marcia Haydée und Jürgen Rose lassen es nicht nur festlich, sondern auch ausgelassen tanzen, Kinder von der Ballettschule inbegriffen. Foto: Stuttgarter Ballett

Das Mädchen, das schlafenderweise hinter hohen Rosenhecken auf ihn wartet, verkörpert die entsprechend passende, absolut feminine, biologisch wie menschlich reizvolle Jungweiblichkeit. Prinzessin Aurora, das „Dornröschen“, ist die Personifikation der Perfektion im klassischen Ballett! Sie ist die Beste ihres Jahrhunderts, gerade weil sie aus einer vergangenen Ära stammt. Diesen Mutterwitz gönnte sich Charles Perrault, dessen Märchenerzählung „La belle au bois dormant“ bereits 1696 in Frankreich erschien. Die Gebrüder Grimm konnten das zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur wiederholen, als sie „Dornröschen“ in ihre Hausmärchen-Sammlung aufnahmen. Obwohl es eigentlich ein Kunstmärchen, also ein von einem Dichter erfundenes ist – und keinesfalls der Vorstellung der Romantiker von „Volksdichtung“, „Volkspoesie“ und „Volksmärchen“ entspricht.

Und nicht nur der äußere Plot ist sagenhaft.

Es ist das eigentlich Märchenhafte am 1890 uraufgeführten Tanzstück mit der überwältigend schönen Musik von Peter I. Tschaikowski, dass Aurora trotz ihres Teenageralters und ihrer eigentlich mangelhaften Welterfahrung die beste aller möglichen Prinzessinnen ist. Die traditionelle Choreografie von Marius Petipa, die auch in der Fassung von Marcia Haydée die Grundlagen des Abends liefert, gibt es aber bereits vor: Aurora kann tanzen, als wäre sie als Primaballerina geboren und auch genau dazu erzogen worden.

Sie ist anmutig, hübsch und präzise. Sie kann virtuos drehen, sich graziös verneigen und ist zudem noch überaus freundlich. Wäre sie nicht so offenherzig und lieb, würde sie sich nicht stechen und so der bösen Fee Carabosse in die Fallen gehen. Aber noch im Schlaf funkelt sie wie ein Diamant, ein Morganit oder auch Kunzit – irgendwie ist ihr Flair wie eine lachs- oder roséfarbene Nuance, eine rötliche Farbe mit viel Weiß: ein unschuldiges, dennoch in sich gereiftes Wesen von höchster Tugend und allerhöchsten Talenten.

Dornröschen ist ein Ballett-Kunstmärchen auch für Erwachsene.

Crankos Muse und „Dornröschen“-Choreografin Marcia Haydée. die auch lange nach ihrem Bühnenabschied gelegentlich noch in „Altersrollen“ zu sehen war, so wie hier in „Das Fräulein von S.“ von Christian Spuck beim Stuttgarter Ballett. Foto: Stuttgarter Ballett

Marcia Haydée, die bedeutendste Muse des Gründers vom Stuttgarter Ballett, John Cranko, übertraf sich mit ihrem ersten abendfüllenden Werk im Mai 1987 selbst. Sie stammt aus Rio de Janeiro und übernahm nach ihrer Ballerinenkarriere 1976 von Glen Tetley die Direktion des Stuttgarter Balletts. Der frühe Tod Crankos 1973 war ihr besonders nahe gegangen – zumal Cranko sie in viele Entscheidungen, in personelle wie in solche, die den Spielplan betrafen, mit einbezogen hatte.

Dass das Cranko-Erbe bis heute in Stuttgart an erster Stelle gepflegt werden kann, ist auch Marcia Haydée, die allgemein nur „Marcia“ genannt wird, zu verdanken. Auch Tamas Detrich ist mit ihrer Ära eng verbunden. Aber wie kam der einstige brillante Startänzer, der sich seinen guten Ruf auch als internationaler Gast erwarb, überhaupt zum Ballett?

Dornröschen ist ein Ballett-Kunstmärchen auch für Erwachsene.

Tamas Detrich: einst ein brillanter Erster Solist in Stuttgart und international gastierender Startänzer, dann ein hoch begabter Ballettmeister und Coach – und jetzt der avisierte kommende Chef vom Stuttgarter Ballett. Eine Stuttgarter Karriere wie aus dem Märchenbuch – und ein Zeugnis der Multinationalität von Tanz. Foto: Roman Novitzky

„Meine Mutter hat meine Schwester zu einer Privatschule in New York geschickt“, erzählte mir der in New York mit ungarischer Abstammung geborene Amerikaner mal in einem Interview. Dort, an der National Academy of Ballet and Theater Art, wurden Ballett, Musik und Schauspiel gleichermaßen unterrichtet. Aber: „Man fragte meine Mutter gleich, ob sie nicht zufällig einen Jungen hätte.“ Für diesen würde es dann unbesehen ein Ballett-Stipendium geben. Tamas Detrich kam also zum Tanzen wie die Jungfrau zum Kind, zugleich aber war sein Weg in die Ausbildung seinem Talent so angemessen wie die Verheiratung Dornröschens mit dem tapfersten, mutigsten aller Prinzen. Den er 1987 mit Marcia Haydée für ihr „Dornröschen“ in Stuttgart kreierte.

Und wie kam Detrich von New York nach Deutschland? Nach Stuttgart kam er über die Theaterpraxis. Denn beim New Yorker Gastspiel des in den USA umjubelten Stuttgarter Balletts stand er als Komparse in Crankos „Romeo und Julia“ mit auf der Brücke. Dann gab es ein Vortanzen für die John-Cranko-Schule in New York. Tamas bestand es mit Bravour, seine Eltern erlaubten die Ausbildung in Europa, und innerhalb von drei Wochen begann für den Teenager in Stuttgart sein neues Leben.

Glen Tetley war damals noch Ballettdirektor in Stuttgart, aber Marcia Haydée, seine Nachfolgerin, hatte den markant-sprungsicheren, zudem extrem geschmeidig tanzenden Jungen Tamas bereits ins Visier genommen. Mit nur 17 Jahren wurde er dann von Haydée in die Compagnie übernommen. Es folgte eine der konsequentesten Karrieren der deutschen Ballettwelt: 1980 wurde Detrich Solist, 1990 Erster Solist. Er tanzte alle Hauptrollen, die das Repertoire zu bieten hatte und kreierte mit Choreografen wie Jiri Kylián und Uwe Scholz. Seit 2001/02 arbeitet er auch als Coach und Ballettmeister, seit 2002 /03 ohne Doppelbelastung, also nach dem Bühnenabschied.

Für Reid Anderson ist er seit langem eine unentbehrliche Hilfe im ballettösen Betrieb: Seit 2004 ist Tamas Detrich stellvertretender Künstlerischer Leiter, seit 2009 der stellvertretende Ballettintendant. Sein weiterer Aufstieg ist also langjährig inhaltlich vorbereitet – und wenn er sagt, dass er sich darauf freut, das Stuttgarter Ballett in eine neue Ära zu führen, dann ist das ganz wörtlich zu nehmen. Übrigens sagt Tomas Detrich das in einer angenehmen Baritontonlage auf deutsch, das er ganz ausgezeichnet spricht.

Die „Dornröschen“-Premiere der Wiederaufnahme ist die erste seit Bekanntwerden der offiziellen Entscheidung, ihn zum Nachfolger Andersons zu wählen. Als „Prinzenflüsterer“, also als Ballettmeister, ist er maßgeblich an der Einstudierung mit gleich vier verschiedenen Besetzungen beteiligt.

Dornröschen ist ein Ballett-Kunstmärchen auch für Erwachsene.

„Dornröschen“ – das steht für Pracht und Festlichkeit, für Perfektion und Virtuosität. Lang lebe das klassische Ballett! Unten: Das Prinzenpaar mit dem lustig aufgelegten Hofstaat. Im Hintergrund oben: die Fliederfee, eine heimliche Herrscherin des Guten und somit eine nicht unmaßgebliche Partie… Foto: Stuttgarter Ballett

Alicia Amatriain, Elisa Badenes, Anna Osadcenko und Hyo-Jung Kang tanzen alternierend die beste aller Prinzessinnen. Friedemann Vogel, Daniel Camargo, Constantine Allen und Alexander Jones sind ihre besten aller Prinzen. Besonders gespannt darf man zudem auf das proppere Mannsbild Jason Reilly in der Rolle der bösen Fee Carabosse sein. Letztlich steht aber auch seine Gegenspielerin, die Fliederfee – in wechselnden Besetzungen von den Ersten Solistinnen getanzt – für das Gute, Wahre, Schöne und Unterhaltsame.

Irgendwie ist Tamas Detrich eben immer eine erste Wahl – früher als Tänzer, dann als Coach, heute als avisierter Ballettintendant. Glückwunsch! Und: Toitoitoi!
Gisela Sonnenburg

„Dornröschen“ in den vier verschiedenen glanzvollen Besetzungen vom 22. Juli täglich en suite bis zum 29. Juli im Opernhaus in Stuttgart

Zum Debüt von Elisa Badenes in der Titelrolle (erstens) und ein Portrait von Marcia Haydée (mit Interview, zweitens) hier mehr:

www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-dornroeschen-elisa-badenes/

www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-marcia-haydee-portrait/

 www.stuttgart-ballett.de (www.stuttgarter-ballett.de)

ballett journal