Er fliegt. Wenn ein typischer Béjart-Junge durch die Luft wirbelt, im aktiven Sprung oder weil er geworfen wird, sieht es aus, als würde er fliegen. Das Béjart Ballet Lausanne beweist es in jeder Vorstellung aufs Neue: Maurice Béjart (1927 – 2007) war derjenige Choreograf, der am entschiedensten den Mann als Tänzer emanzipierte. Gaben die Herren im Ballett bis dahin oft lediglich wandelnde Hebekräne für die Damen ab und durften sie nur dann in Soli glänzen, wenn sich die Primaballerina vorbereiten oder ausruhen musste, machte Béjart den männlichen Körper per se zur tänzerischen Sensation. Sein abendfüllendes „Ballet for Life“ ist zudem der sehr unterschiedlichen Musik von zwei Männern gewidmet, die jung starben, aber dennoch für Liebe, Power, Zukunft stehen: Freddie Mercury (1946 – 1991) und Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791). Zweihundert Jahre trennen die Todesjahre der beiden Musik-Titanen – aber in Béjarts Körperreflexionen finden sie zusammen, zu einem Triumph des Geistes über die Vergänglichkeit.
Die Musiken des Popidols und der Klassikikone verschmelzen in „Ballet for Life“ zu einer Collage von grandios-dramatischer Schönheit über nachgerade existenzialistische Angelegenheiten. Deren Themen: Liebe, Sterben, das Leben mit dem Tod – und stete Neugeburt von Hoffnungen von der Gegenwart für die Zukunft. Und obwohl die Tänzer in markanten Soli, liebevollen Pas de deux, diffizilen Pas de Quatre und in furiosen Ensembleszenen das Leben feiern, steht stets der Tod als großes Geheimnis im Hintergrund.
In Berlin und Köln zeigt die Tourneetruppe, die Béjart 1987 noch selbst im schweizerischen Lausanne als Nachfolge-Ensemble auf sein Brüsseler „Ballett des 20. Jahrhunderts“ gegründet hatte, diesen ausdrucksstarken Bilderzyklus, der aus zwanzig Einzelszenen besteht. Zu Beginn dominiert die Farbe Weiß – das hatte Béjart auch dem hier als Kostümbildner angeheuerten Modedesigner Gianni Versace zur Bedingung gemacht. Weiß als hehre Farbe des Todes, unter dessen Leichentüchern sich die Tänzer bewegen, als gebe es für die Künstler nur die buchstäbliche Unsterblichkeit.
Am Ende steht Freddie Mercurys Überlebensfanfare „The Show must go on“ – inszeniert als Finale mit einem überwältigenden, hübsch gruppierten Corpsgeist. Dazwischen mischen sich die Szenen, von burlesk und erotisch über familiär und liebevoll bis hin zu visionär und symbolistisch. Wie ein Schlüssel für die Zukunft entfächern sich darin die verschiedenen Lebensgefühle, die Maurice Béjart kannte und verinnerlicht hatte.
Identitäten stiften sich aus den Gruppenszenen heraus; im Spannungsgefühl zwischen den Solisten und der Gruppe stärken sich die Individuen.
Ursprünglich hatte Béjart das Werk so kryptisch wie absurd-witzig nach einer literarischen Vorlage benannt: „Le Presbytère n’a rien perdu de son charme, ni le jardin de son éclat“ („Das Pfarrhaus hat nichts von seinem Charme verloren, ebenso wenig wie der Garten seinen Glanz“). Dazu muss man wissen, dass der behaarte Unterleib im Erotik-Slang „Urwald“ oder „Garten“ und die sexuell konnotierte untere Leibesöffnung „Tempel“ oder „Kirche“, im analen Sinn eben auch „Pfarrhaus“ (im Sinne eines Nebengebäudes) genannt werden. Gemeint war, dass die (Homo-)Sexualität trotz Aids noch Freude bringe.
In seiner Kurzform wurde das Ballett bald nur noch „Le Presbytère“ („Das Pfarrhaus“) genannt. In einer Überarbeitung entstand dann der neue, bis heute gültige, weniger allein auf Sex ausgerichtete Titel: „Ballet for Life“.
Ballett fürs Leben – damit meinte Béjart keineswegs irgendein oberflächliches Heilsversprechen. Sondern proklamierte mit dem positiv klingenden Titel die Dialektik von Leben und Tod anhand surrealer, mit Pathos präsentierter Vorkommnisse. Da werden zu lieblich-verspielten Mozart-Klängen vermeintlich Tote auf Bahren hereingefahren, die dann einen zarten Tanz im Liegen beginnen, dessen Ausdruck schlicht Liebe pur ist.
Oder das Flügelpaar eines Tänzers: Es wird zum Instrument der Sehnsucht, sich damit über den Tod zu erheben.
Viele Szenen sind vor allem rührend in diesem so bunt und auf den ersten Blick fröhlich daher kommenden Reigen.
Ein ganz bestimmtes tanzendes Individuum war 1997, bei der Kreation von „Le Presbytère“, für Maurice Béjart besonders wichtig: Der 1992 an Aids verstorbene Béjart-Star und Lebenspartner Jorge Donn. Der Argentinier hatte sich einst Geld geliehen, um seine Existenz als fest angestellter Balletttänzer in Buenes-Aires aufzugeben und bei Béjart in Brüssel zu beginnen – zunächst, weil keine Stelle im „Ballett des 20. Jahrhunderts“ frei war, ohne Einkommen. Bald jedoch war er der führende Solist, sozusagen das Gesicht der Truppe – und darüber hinaus Béjarts bedeutendste Muse.
Jorge Donn ist das „Ballet for Life“ bis heute gewidmet – mit Liebe und Trotz, denn dem Tod muss man trotzen wollen, wenn man in seinem Angesicht „I want to break free“ singen lässt
Sechzehn „Queen“-Songs aus der genialischen Komponistenfeder von Freddie Mercury stehen vier Auszügen aus Mozart-Werken (vom Klavierkonzert bis zum instrumentalen Opernauszug) entgegen. Natürlich ist es eher ein Ballett über den Pop-Tycoon Freddie als über das stilistische Chamäleon Wolferl. Aber Mozart ist hier die lyrische Negativfolie, vor der sich der rhythmisch betonte Popsong allerbest abhebt.
Mehrfach steht denn auch der Sänger und Bandleader Mercury erkennbar persönlich gemeint auf der Bühne: mal mit einem Mikrofon abhottend, mal in Plateausohlen höchst elegant mit Développés posierend, zudem in einen jener Strumpfhosenanzüge mit großem Dekolleté gewandet, wie sie Balletttänzer normalerweise unterm Kostüm tragen.
Freddie traute sich als Frontman der Band „Queen“ oft in diesem „Outlaw-but-sexy“-Aufzug auf die Pop-Bühne. Die Strumpfhosen waren sozusagen sein Markenzeichen bei seinen wilden Konzertauftritten – und obwohl er kein Profi-Tänzer war, sondern vielmehr vor seiner Musik-Karriere ein Grafikdiplom erworben hatte, gab seine ballettöse Kostümvorliebe bereits eine gewisse Verbindung zum Tanz vor.
Seinen Künstlernamen „Mercury“ hatte sich der auf Sansibar geborene, musikalisch früh geförderte Sohn eines englischen Regierungsbeamten in Anlehnung an den Götterboten Merkur selbst verpasst. Im Gegensatz zu Jorge Donn und Maurice Béjart gestand er seine Homosexualität zwar nie offen ein, trat dafür aber im Outfit und von den sonstigen optischen Signalen her demonstrativ so schwul wie möglich auf. Schnauzbart, Leder, Ketten als unverzichtbare Accessoires – Freddie Mercury wusste, wie er zugleich zu einer heimlichen Schwulen-Ikone und zu einem Star des weltweiten Mainstream werden konnte.
Für Maurice Béjart zählte vor allem das Herz, das Gefühl, das für ihn aus der Musik von „Queen“ sprach: „Einfallsreichtum, Gewalt, Humor, Liebe, alles ist da“, notierte Béjart über die Musik. Und als Ähnlichkeit zwischen Freddie und Jorge erkannte er „dieselbe Gier nach Leben und Selbstdarstellung“.
Ebenfalls kein Kind von Traurigkeit war der kultige Modedesigner Gianni Versace (1946 – 1997). Er wurde auf den Stufen seiner strandnahen Villa in Miami von einem Callboy erschossen – und war doch all die Jahre zuvor eines der beliebtesten Sujets der Regenbogenpresse wie der gehobenen Prominenz, wenn es um Chic und Style zu seiner Zeit ging.
Seine Kostüme bringen denn auch den Esprit der 80ies mit einer Prise 60ies und 70ies-Nostalgie auf den Punkt: Geometrische Muster wechseln mit Asymmetrien, unifarbene Trikots mit knallbunten Applikationen.
Béjart kannte Versace seit den 80er Jahren, seit 1984 erstellten sie gemeinsam Ballette. Maurice über Gianni: „Ich liebe es, mit ihm zu arbeiten, weil sein Enthusiasmus, seine Inbrunst sich übertragen.“ Und: „Sobald wir mit der Arbeit beginnen, wird Gianni so ängstlich und pedantisch wie eine Anfänger. Ich auch. Das ist eines der Geheimnisse unserer Freundschaft.“
Der Pedantismus hat sich gelohnt. Obwohl oder gerade weil „Ballet for Life“ ein emotionales Ballett ist, das keineswegs leichthin durchschaubaren dramaturgischen Regeln folgt, ergreift es einen und trägt einen mit innigem, teils auch ziemlich schwarzem Humor durch den Abend.
Was bei anderen Bühnenkünstlern vielleicht aufgeblasen, übertrieben, zu dick aufgetragen wirken würde, ist bei Maurice Béjart genau die richtige Dosis an Pathos. Sein Bereich ist nicht das Zurückhaltende, Stille, Sanfte, sondern das Populäre, das Nicht-zu-Übersehende, das Plakative, wenn man so will. Zwischen den dennoch oft rätselhaften Höhepunkten des Balletts findet sich indes viel Spielraum für Details, für Momente der Wiederholung und der Variation, für Zärtlichkeit und Anmut zwischen den Zeilen.
Es ist ein Meisterwerk, typisch für den kreativen Béjart und typisch für seine Ära. „Ballet for Life“ erinnert auch an andere „Großarbeiten“ des Choreografen. Mit seinen „Spectacles totales“ wagte Béjart neuartige Verbindungen zwischen den Genres Tanz, Musik, Pop, Klassik, bildnerische Kunst und Lichtdesign. Nicht selten wurden seine Ballette als Massenspektakel vor Zehntausenden von Zuschauern open air aufgeführt – eine Erfolgsmarke, die bislang kein anderer Ballettmacher erreichen konnte.
Heute leitet Gil Roman das Béjart Ballet Lausanne. Derzeit sind es 41 Tänzerinnen und Tänzer, die er betreut – und mit denen er vor allem das Erbe Béjarts lebendig erhält.
Gil Roman stammt aus Marseille und begann im Alter von sieben Jahren mit Tanzen. Der heute 54-Jährige war ab 1993 stellvertretender Direktor des Béjart Ballet Lausanne und folgte nach dem Tod Béjarts diesem gut vorbereitet an die Spitze der Truppe. Roman war in Monaco in Ballett ausgebildet worden und tanzte seit 1979 bei Béjart. Auch im „Ring um den Ring“, der 1990 in Berlin uraufgeführt worden war, tanzte und kreierte er – und hat seither zu Deutschland eine besondere künstlerische Beziehung.
„Maurice Béjart war mein Meister“, sagt Gil Roman mit seiner tollen, tiefen, guturalen Stimme. Er hat selbst in „Le Presbytère“ getanzt, es als Tänzer sozusagen mit erschaffen, und zwar zu einem Zeitpunkt, als er so einen Energieschub dringend benötigte, weil er mit dem Gedanken spielte, mit dem Tanzen aufzuhören. Doch die Kreation riss ihn aus seinem Tief – und die emotionale Power, die er aus der Arbeit bezieht, hält bis heute an.
Für Gil ist Maurice stets präsent, er erinnert sich an seine Blicke, seine Gesten, seine Worte – „und natürlich daran, wie er mit mir gearbeitet hat.“ Als Künstlerischer Leiter gibt Gil Roman nun vieles davon weiter, achtet auf die richtigen Linien, Rhythmen, Tempi.
Wenn er selbst als Choreograf arbeitet, dann geht er dabei stets von den Tänzern aus, sagt er mir im Interview: „Die genauere Richtung entwickelt sich dann erst im Studio beim Arbeiten.“ Roman ist also alles andere als ein Reißbrettchoreograf. Seine Ideen rühren von der Erfahrung und der Prägung durch die Béjart-Ballette; seine Arbeiten sind als Ergänzungen zu Béjarts Stil zu interpretieren, als interessante und passende Anfügungen an die unumstrittenen Meisterwerke.
In Köln gibt es auch ein solches Stück von Gil Roman zu sehen, im „Programm B“, auf das die Berliner leider verzichten müssen: Das nach einem Festival benannte, abstrakt gehaltene „Impromptu pour Peralada“ („Vorspiel für Peralada“) von Gil Roman entstand überwiegend zu Musik von Erik Satie. Vor allem aber kommt mit „Bhakti III“ am selben Abend eines der laut Roman wichtigsten Ballette Béjarts nach Köln, es ist zugleich eines der am häufigsten auch auf Galas von internationalen Compagnien getanzten Béjart-Stücke. Es entstand unter indisch-asiatischem, hinduistischen Einfluss, denn Bhakti-Yoga bezeichnet den Weg der liebenden Hingabe – die kreative Ekstase des Sexus ist darin das Thema.
Außerdem steht die „Suite Barocco“ auf dem Programm, was ihre Deutschlandpremiere ist: „ein leichtes Stück“, sagt Gil Roman, sei es, und laut Béjart werden darin Träume, Gegenwart und Zukunft eins.
Die „7 Danses Grecques“, die „sieben griechischen Tänze“, die sich Béjart zu Musik von Mikis Theodorakis einfallen ließ, sind hingegen alles andere als leicht fasslich. Ganz und gar untypisch und gegen jedes Klischee von Zirthaki-Reigen finden hierin ein Mann und eine Frau ihre Seelen im tänzerischen Austausch, während Soli und Gruppenszenen sozusagen Folklore ohne Folklore praktizieren. Eine Referenz an Griechenland, nicht an seinen Kitsch – ganz à la Béjart!
Und dann ist da noch ein Kleinod, das, wie die „Suite Barocco“ und das „Impromptu pour Peralada“ seine Deutschlandpremiere in Köln erlebt: „Etude pour une Dame aux Camélias“. Diese „Übung für eine Kameliendame“ ist nun allerdings keine Hommage an John Neumeier und sein Ballett „Die Kameliendame“, wie man vermuten könnte, zumal wenn man weiß, dass die beiden Choreografen Neumeier und Béjart befreundet waren und beide Ballette Musik von Frédéric Chopin betanzen. Aber Gil Roman winkt gleich ab, als ich ihm damit komme: „Nein, dieses Solo hier hat eine ganz andere Bedeutung.“
Tatsächlich notierte Béjart 2001, dass es ihm um die Seele der Pflanze ging und er sich die ideale Frau als Blume, als Kamelie, vorstelle. Er, der Choreograf und Schöpfer, werde eines Tages sterben, aber sie, die schöne Seele des Tanzes und der Natur, solle ihn überleben. So suchte Béjart, der die Männer im Ballett emanzipierte, auch nach der alles überragenden Femme fatale, nach der perfekten, symbolisch werthaltigen Weiblichkeit – und fand sie, wo sonst, in seinem eigenen Werk: indem er sie sich erschuf. Ah!
Gisela Sonnenburg
Ballet for Life: vom 21. Juli en suite bis zum 26. Juli in der Deutschen Oper Berlin; vom 28. Juli en suite bis zum 2. August in der Kölner Philharmonie
Programm B: vom 5. August en suite bis zum 9. August in der Kölner Philharmonie
Hotline Deutsche Oper: 030 – 34 38 43 43
Philharmonie Hotline: 0203 – 940 7777