Sehnsucht bis in alle Ewigkeit Die Nijinsky-Gala XLI bezauberte in Hamburg: zum ersten Mal mit Svetlana Zakharova, zum letzten Mal mit Otto Bubeníček

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

Ein großer Abend ging am 12. Juli 2015 gegen 23.30 Uhr unter Standing Ovations zu Ende: John Neumeier und seine Künstler beim Schlussapplaus der Nijinsky-Gala XLI in Hamburg. Foto: Holger Badekow

Das Lieblingskind der Romantik ist die Sehnsucht. Wonach? Nach allem: nach Liebe, Nähe, Ferne, Abenteuer, Freiheit, Zukunft – aber auch nach Vergangenheit, Neuanfang, Unschuld, Jugend… der berühmte Griff nach den Sternen ist immer romantisch, ebenso wie das Leben im Konjunktiv. Es hätte so schön sein können oder auch nicht – Romantiker brauchen außer Tagträumen nur noch saubere Luft und viel Liebe zum Glücklichsein. „Heirate oder heirate nicht – du wirst beides bereuen“, diese Einsicht stammt zwar nicht von Novalis oder Friedrich Schlegel, immerhin aber von Sören Kierkegaard, der von 1813 bis 1855 lebte und zu den Romantikern schon dadurch eine enge Beziehung unterhielt. Der dänische Philosoph war zwar kein Ballettexperte, wohl aber John Neumeier, der Gründer und Chefchoreograf vom Hamburg Ballett. Er beschloss gestern mit der dem „Geist der Romantik“ gewidmeten „Nijinsky-Gala XLI“ die Hamburger Spielzeit.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

John Neumeier (mittig rechts vom Blumenbouquet) mit Alina Cojocaru (rechts von ihm in Weiß) und Svetlana Zakharoa (weiter links im Bild in Schwarz): Der Meister und seine Meisterinnen beim Schlussapplaus nach der Nijinsky-Gala XLI. Foto: Holger Badekow (hier ein Ausschnitt des ursprünglichen Bildes)

„Es spricht: John Neumeier“ heißt es alljährlich auf dem Programmzettel. Und tatsächlich sind die witzigen, informativen, subjektive Erfahrung und objektives Wissen vermischenden Moderationen des Hausherrn allein schon ein Grund, sich um eine Karte zu reißen. Aber auch vom Tänzerischen her ist die Nijinsky-Gala der Höhepunkt der Saison in Europa: fünf bis sechs Stunden mindestens dauert sie stets, und neben hochkarätigen Gästen, die zumeist aus dem Ausland anreisen, brilliert die Truppe der Hanseaten mit feinen Glanzstücken und ausgewählten Pretiosen.

In diesem Jahr begann der Abend mit einer bereits bekannten, aber immer wieder sehenswerten Darbietung des Bundesjugendballetts (BJB), dieser kleinen Hochbegabten-Truppe, die Neumeier seit 2011 in seinem Ballett-Zentrum beherbergt. „Französische Chansons“ in der Choreografie von Maša Kolar zeigt neckisch die Sehnsüchte der Jugend: Flirts, Liebkosungen, Verspieltheiten, kleine Kämpfe. Die kroatische Choreografin schuf das Stück 2014 für die vier Tänzerinnen und Tänzer des BJB, die Kostüme täuschen Oberkörper-Tatoos vor, und als Requisiten dienen Barhocker. Die Musiker, darunter die Sopranistin Estelle Béréau, sind auf der Bühne – aber das kleinkünstlerische Flair der Sache zeigt auch auf der großen Opernbühne Relevanz, wie sich bei der Gala erwies: ein gelungener Auftakt.

VOLKSPOESIE AUF TÄNZERISCH

Das Volkstümliche, das die Romantiker seit eh und je verehren – nicht umsonst suchten die Gebrüder Grimm nicht nur nach der blauen Blume als Symbol für utopische Lebensformen, sondern auch nach so genannter „Volkspoesie“ – spielt im Chanson ebenso eine Rolle wie die Rührigkeit, die vor allem in der Frühromantik federführend war.

John Neumeiers Gala-Konzept lebte indes dieses Jahr von bewusst abwechslungsreichen Gegensätzen: Auszüge aus „Verklungene Feste“, einem Ballett JNs von 2008 zur Musik von Richard Strauss, stellten die nostalgische Sehnsucht dar. Die Neumeier-Primaballerina Anna Laudere – in bordeauxrotem Abendkleid – und Edvin Revazov – endlich von langer Verletzungspause auf die Bühne zurückgekehrt – bilden darin in lindgrüner Lichtkulisse ein kompliziertes modernes Paar, das nicht ganz wahrhaben will, dass seine Partnerschaft Brüche und Risse hat. Intensiv und emotional vielgestaltig wurde das illustriert. Bis Alexandre Riabko die Bühne enterte und zu einem Solo anhub, das von Abschiednehmen und melancholischer Erinnerung zeugte. Silvia Azzoni, im mondänen korallroten Outfit, schlängelte sich daraufhin vor, verführte Riabko zu einem fast verruchten Paartanz: Obwohl die Musik während des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurde, „in schlimmster Zeit“, wie Neumeier anmerkte, schwelgt sie nur so vor Sinnlichkeit und Träumerei. Sie basiert übrigens auf einem Stück von François Couperin, der Hofkomponist beim „Sonnenkönig“ und Tänzer Ludwig XIV war.

Das dritte Stück der Nijinsky-Gala war hingegen – wie gesagt: Gegensätze waren Trumpf – dem Contemporary Dance entnommen: Das Houston Ballet, das auch auf den mit der Gala beendeten 41. Hamburger Ballett-Tagen auftrat, zeigte Passagen aus dem Ballett „Clear“ („Klar“) von Stanton Welch: Sehnsucht nach Klarheit konnte man in den geordneten Strukturen des Pas de trois erkennen. Zwei Männer und eine Frau (Aaron Robinson, Chun Wai Chan und Jessica Collado) boten leichthin akrobatisch inspirierte Kost – in Berlin war das Stück übrigens bis vor kurzem beim Staatsballett Berlin zu sehen, mit einer herausragenden Iana Salenko in der Frauenpartie.

„Clear“ ist sicher eines der besten Stücke von Welch. Er entwickelt hierin eine eigene Handschrift, mit relativ unspektakulären, geschmeidig fließenden Synchrontänzen, vielen Pliés und diagonalem Vorantanzen. Dennoch hätten „echt“ romantische Beiträge von einer der großen deutschen Compagnien hier vielleicht besser gepasst, wenn ich das anmerken darf. Auszüge aus David Dawsons moderner „Giselle“ vom Semperoper Ballett etwa oder etwas aus John Neumeiers „Sommernachtstraum“, den das Bayerische Staatsballett in der Einstudierung von Janusz Mazon ganz zauberhaft tanzt. Das Staatsballett Berlin hätte ebenfalls mit auf Weltniveau Gala-erfahrenen Kandidatinnen und Kandidaten und geeigneten Tanzstücken aufwarten können – moderne wie klassische Romantik wären da sicher besser zum Zuge gekommen als in den insgesamt nicht wirklich ausgegorenen Stücken von Stanton Welch.

Dafür gab es wirklich Erbauliches aus Fernost zu sehen. Dank seiner besonders guten Beziehungen nach China hatte John Neumeier die Direktorin vom National Ballet of China erfolgreich um zwei Beiträge bitten können. „Was stellt man sich in China unter Romantik vor?“ – So lautete dabei seine Leitfrage, erklärte er. Mit „Linen Braids“ kam dann zunächst ein rauschhafter Paartanz im Mondlicht von Zhang Disha, akkurat und technisch sehr versiert von Qui Yunting und Wu Sicong getanzt, mit einer raffinierten „Schnittmustertechnik“, die das Paar den Grundriss eines Zopfes abtanzen ließ. Frei übersetzt heißt der Titel soviel wie „Zöpfe aus Bettwäsche“, denn nächtliche Fantasien sind hier die inneren Leitmuster.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

„Linen Braids“ von Zhang Disha mit zwei wunderbar gefühlvoll-akkuraten Tänzern des National Ballet of China: ein Paar im Rausch einer Mondnacht. Foto. Holger Badekow

Gegen so viel Originalität wirkten die drei Pas de deux aus „Sons de l’ Âme“ („Geräusche der Seele“) von Stanton Welch dann doch etwas abgestanden: Zur lieblichen Andante- und Nocturne-Musik von Frédéric Chopin, laut Neumeier dem beliebtesten Komponisten für romantisierende Choreografien, kamen die drei 2013 uraufgeführten Paartänze wie eine preiswerte Nachdichtung von „In the Night“ des Choreografie-Tycoons Jerome Robbins einher. Robbins hatte 1970 für das New York City Ballet die drei Pas de deux zu Nocturnes von Chopin kreiert und darin drei ganz unterschiedliche Liebesbeziehungen mit zarter Hand skizziert. Welchs Werk nahm zwar darauf Bezug, setzte dem aber nicht genügend eigene Idealität entgegen. Karina Gonzalez, Connor Walsh, Jessica Collado und Ian Casady vom Houston Ballet tanzten dennoch voll Geschmeidigkeit und bemühten sich, der etwas inhaltsleeren Angelegenheit wenigstens formal einen festen Stand und eine gute Balance zu verleihen, was ihnen zweifelsfrei gelang.

Danach war es dann vorbei mit der Gemütlichkeit. Der Pas de six aus „La Vivandière“ („Die Marketenderin“), von Pierre Lacotte nach Arthur Saint-Léon rekonstruiert, ist ein fetziges Machwerk im romantisch-folkloristischen Sinn des 19. Jahrhunderts, ein technisches Bravourstück, ähnlich wie ein Grand Pas de deux aufgebaut, aber durchsetzt von zusätzlichen Tänzen von vier reizenden jungen Damen.

1844 uraufgeführt, ist die Titelfigur eine Händlerin, die militärische Truppen versorgt, während ihr Liebhaber ein Briefbote ist. Man könnte vermuten, dass die merkwürdigen Berufe der tanzenden Personen eine Metapher aufs damalige Theaterleben darstellen. Denn die Wandertheater, die man „fahrendes Volk“ nannte, waren auch nach Errichtung der großen Theatergebäude immer noch stark präsent, vor allem in ländlichen Gebieten.

Die Kostüme des Stücks – folkloristisch angehauchte, viellagige kurze Tellerröcke für die Damen und ein passendes Strumpfhosen-Outfit beim einzigen Herren – sollen denn auch vor allem das Auge erfreuen, indem sie den dargebotenen Tanz optisch unterstützen. Kathi und Hans (so die Namen der in Ungarn angesiedelten Hauptpersonen) tanzen verliebt in blitzschnellen, extrem kleinteiligen Schritten und Sprüngen; wie Neumeier vorab bereits gesagt hatte, ist die Choreografie schlicht „sauschwer“ zu tanzen.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

„Die Marketenderin“ – wow, das ist ein selten aufgeführtes, Gala-kultiges Gehüpfe im Akkordtempo. Leslie Heylmann, Alexandr Trusch und vier flotte Damen vom Hamburg Ballett ließen einen schon beim Zuschauen auf der Nijinsky-Gala XLI mitschwitzen. Toll – und historisch sehr interessant. Foto: Holger Badekow

Der Geist des 19. Jahrhunderts erfüllte aber sofort das Opernhaus, sowie das Gehüpfe losging. Es ist ja sagenhaft, wie stark die Sogwirkung solcher für ihre Zeit typischen „volkstümelnden“ Choreografien noch heute ist. Leslie Heylmann und Alexandr Trusch vom Hamburg Ballett als Kathi und Hans sprangen grandios und graziös quasi um die Wette, teils Arm in Arm. Trusch absolvierte Sprünge, Changements und Pirouetten à la seconde wie aus „Giselle“ und „La Bayadère“ zusammen, und in den weiteren Soli reüssierte vor allem Futaba Ishizaki, die mit einer bemerkenswerten Sicherheit Posen und schnelle Schritte einander abwechseln ließ.

Nach dieser Orgie in Rasanz wurde es wieder Zeit für etwas Nachhilfe in Ballettgeschichte. John Neumeier ist dafür stets genau der Richtige! So führte er charmant aus, dass es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beiden konkurrierenden Starballerinen Marie Taglioni und Fanny Elßler gab.

Die Taglioni wurde, wie Neumeier darlegte, die „christliche“ Tänzerin genannt, weil ihr Stil ätherisch und „überirdisch“ schwebend war, ihre Rollen entsprechend zumeist mit Flügeln ausgestattet waren.

Die Italienerin Taglioni (das darf ich ergänzen) war ja nach aktuellem Wissensstand zudem vermutlich die erste damit bekannt gewordene Spitzenschuhtänzerin: ab 1832 ist verbürgt, dass sie in „La Sylphide“ spezielle, mit zahlreichen Pappeinlagen verstärkte Schuhe trug – und in ihnen für Bruchteile von Sekunden auf den Zehenspitzen einhertrippelte. Der frühere Tänzer und spätere Rekonstrukteur Pierre Lacotte, der in Paris die Altlagerbestände im Opernhaus durchstöberte und den ich vor einigen Jahren interviewt habe, fand sogar mal Listen mit Stückwarenbestellungen der Taglioni, die auch diverse Pappsorten enthielten, die sie für ihre selbst gebastelten Schuhe brauchte. Ihr Vater Filippo, der Ballettmeister und Choreograf war, ging ihr beim Zuschneidern mutmaßlich gern zur Hand.

Die Wienerin Fanny Elßler hingegen galt als große Gegenspielerin zur Taglioni, nämlich als die „heidnische“ Tänzerin, die mit feurigem Temperament und stark sinnlich-erotischer Note die Leidenschaften anregte. Berühmt war sie für einen Tanz namens „La Cachucha“, der von andalusischem Volkstanz inspiriert war und im Ballett „Le Diable boiteux“ („Der hinkende Teufel“) eine Rolle spielte. Nun überraschte das Hamburg Ballett damit, dass keine Solistin, sondern die junge Ensembletänzerin Yaiza Coll der Elßler nacheiferte. Der Spanierin fällt möglicherweise das Klappern mit den Kastagnetten von Natur aus leichter als dem Rest der Welt – jedenfalls war sie mit starken, runden, ausladend-einladenden Armgesten und feiner Fußarbeit auf kleinen Absätzen eine Augenweide sondergleichen. Ehrlich gesagt, war ich sehr überrascht, mit welch großer persönlicher Präsenz und technischer Detailfreude sich Yaiza zeigte. Man wünscht sich nach diesem Auftritt nicht mehr, sie nur noch im Corps de ballet zu sehen, sondern hofft, im Gegenteil, auf Solopartien für sie.

Fleißig erklang zu ihrem Tanz das Rattern ihrer Kastagnetten, und mir war in der Tat ebenfalls neu, wie viele Facetten diese Handinstrumente haben können. Da das Kostüm dem Original sensibel nachgeschneidert war – mit heller, seidig schimmernder Büste und schwarzem Spitzenbesatz an den Ärmelchen und an den Volants – wirkte die ganze Figur wie der Vergangenheit kurzzeitig in unsere Gegenwart enschlüpft. Bezaubernd!

Am Ende las Yaiza alias Fanny alias La Cachucha (was übersetzt „Schirmmütze“ sowie etwas Obszönes bedeutet und also hier nur als unübersetzbarer Eigennamne tauglich ist) eine rote Rose vom Boden auf. Sie roch daran und warf sie dann mit neckischer Geste und spitzbübischem Lächeln über die Schulter, während sie eine Attitude piqué im Profil Richtung rechter Kulisse absolvierte. Wow! Man kann sich vorstellen, dass das Publikum im 19. Jahrhundert danach ebenso süchtig wurde wie nach den „schwebenden“ weißen Fräuleins etwa aus „Giselle“ und „La Sylphide“.

COJOCARU ALS „LA SYLPHIDE“ – WAS FÜR EIN SCHWEBENDES WEISSES WUNDER! 

Apropos! John Neumeier war so klug, auf dieses furiose Entrée in die Welt der großen, damals ganz Europa bereisenden Ballerinen des 19. Jahrhunderts sogleich auch die Rivalin der Elßler, also eine  Taglioni, ins Programm einzuflechten. Alina Cojocaru und ihr bewährter Partner Johan Kobborg, beide aus London sowie von Gastauftritten in Hamburg bekannt, tanzten hierzu das Waldstück aus „La Sylphide“, diesem Meilenstein der Tanzgeschichte. Die Choreografie von Auguste Bournonville ist die von dem Dänen Bournonville nach dem Gedächtnis hergestellte Kopie der Originalversion von Filippo Taglioni. Sie trägt allerdings normalerweise mehr Kennzeichen für typische Bournonville-Tänze als in der von Johan Kobborg überarbeiteten und hier gezeigten Fassung.

So waren nicht die Sprünge auf dem Platz, sondern die raumgreifenden Inbesitznahmen der Bühne durch die beiden Protagonisten angesagt. Die Sylphide, die Alina Cojocaru mit leichthin beflügelter Eleganz darstellte, hatte ihr Opfer James, einen jungen Mann im Schottenrock, soeben von seiner Hochzeitsfeier weg und in den Wald gelockt. Die aufgebaute Kulisse half, das märchenhafte Geschehen zu genießen: Cojocaru lockte Kobborg hierhin, dann dorthin, brach seinen anfänglichen, zauderlichen Widerstand – und nötigte ihm synchron geleistete pantomimische wie tänzerische Liebesschwüre ab. Entzückend, wie die beiden dieses Spielchen der Liebe vollzogen und wie es der Sylphide gelang, den armen James ganz närrisch und weltentrückt werden zu lassen. Kobborg tanzte seine Partie mit hinreißener Sehnsucht im Leib: Hier schimmerte sie in allen Farben, die spätromantische, etwas dekadente, nicht selten todbringende Liebessehnsucht!

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

Otto Bubenicek in einer Paraderolle, zum letzten Mal war er darin auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper bei der Nijinsky-Gala XLI zu sehen – als anrührender Nijinsky in „Le Pavillon d’Armide“ von John Neumeier. Foto: Holger Badekow

Eine erste Pause war alsdann von allen Beteiligten wohl verdient. Der mittlere Teil des Abends gehörte dann dem scheidenden Hamburger Tanzstar Otto Bubeníček (siehe Portrait hier im Ballett-Journal). „Le Pavillon d’Armide“ ist ein Ballett über den verrückt gewordenen legendären Tänzer Vaslav Nijinsky, der mit den Ballets Russes ab 1909 weltberühmt geworden war. Bubeníček tanzte mit viel Sensibiliät von den Fußspitzen bis zum Wimpernschlag die Rolle des sich verzweifelt der Erinnerung an gute Tanztage hingebenden Patienten einer Nervenklinik. Auf einer Parkbank sitzend, hinter sich die gemalte Kulisse des Sanatoriumsparks, imaginiert er ein weißes Damencorps sowie seine früheren Kolleginnen und Kollegen wie Tamara Karsawina (in eine andere Zeit entführend: Carolina Agüero) und Alexandra Baldina (feinfühlig bis in die Fingerspitzen: Leslie Heylmann).

Otto Bubeníček genoss sichtlich das noch einmal hier Auftanzen – besonders in seinem Pas de deux mit Serge Diaghilew. Dieser Männerpaartanz mit Ivan Urban geriet faszinierend ambivalent, er zeigte die Hilfe und Unterstützung, die Nijinsky sich stets vom Impresario der Ballets Russes erhoffte, aber auch die Beklemmung und Überforderung, in die das Tanzgenie durch die homosexuelle Beziehung zu seinem Chef hinein glitt. Da vollführt Nijinsky eine Art Kopfstand, den ganzen Körper an den seines Bosses anlehnend – und wenn Urban als Diaghilew sein Gegenüber packte und auf die Beine stellte, so war das nicht immer nur Ausdruck von tätiger Zuneigung. Hassliebe und gegenseitige Abhängigkeit – all dies spielt da mit hinein, und die beiden erfahrenen Ersten Solisten vom Hamburg Ballett zeigten das mit allem, was sie in die Waagschale ihres Könnens zu werfen hatten.

Kein Wunder, dass es jubelnde Standing Ovations für Otto gab – und etliche Kollegen, angeführt von Ottos Zwillingsbruder Jiří, kamen auf die Bühne und überreichten dem seinen Abschied vom regulären Tänzerdasein nehmenden Bubeníček Blumen. So viele, dass er sie am Ende kaum noch im Arm halten konnte, er, der so viele Ballerinen und auch Ballerinos in seinem Tänzerdasein empor gehoben hat!

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

John Neumeier verabschiedet Otto Bubenicek – da flossen im Zuschauerraum schon ein paar Tränen… Hamburg verlor einen Startänzer, weiß aber, dass es für alle Beteiligten eine Zukunft gibt. Foto: Holger Badekow

John Neumeier würdigte den scheidenden Zwilling mit lobenden Worten: Otto Bubeníček habe „eine emotionale Tiefe und eine virtuose Technik“ in diese Rolle des Nijinsky gebracht; selbstverständlich vergaß der Chef vom Hamburg Ballett es nicht, seinem nun bald ehemaligen Star „alle besten Wünsche für seine Zukunft“ mit auf den Weg zu geben. Es war schon zum Weinen rührend!

Die zweite Pause war also auch durchaus für eine kleine Erholung nützlich – und dann gab es mit Auszügen aus John Neumeiers „Winterreise“ ganz besonders tiefsinnige tänzerische Delikatessen zu sehen. Bereits während der 41. Hamburger Ballett-Tage brillierten in diesem modern-stillen, wenig vordergründig, dafür aber umso hintergründig sensationellen Tanzabend einige Tänzerinnen und Tänzer mit Innigkeit und bezeichnender Modernität. Die Probleme und vor allem die emotionalen Schmerzen, die Neumeier in der „Winterreise“ thematisiert – wie Migration, Sehnsucht nach Partnerschaft, Einsamkeit, menschliches Versagen, aber auch Nächstenliebe, Hilfe und Heilung von Mensch zu Mensch – betreffen im zeitgenössischen Dasein nun mal jede und jeden.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

DIe „Winterreise“ – eines der stillsten, tiefsten, ergreifendsten Meisterwerke von John Neumeier. Hier eine Szene, die das Mitmenschliche ohne Zugeständnis in den Mittelpunkt rückt. Foto: Marcus Renner

Die Musik von Hans Zender ist eine Neuversion von Franz Schuberts urromantischer, wie Neumeier aber zu Recht betonte ursprünglich auch „schauerlich“ gemeinter „Winterreise“. Tenor Rainer Trost sang einfühlsam und mit schmeichelndem, buttrig eingängigem Tenor. Vor allem Hayley Page und Aleix Martínez lieferten hier, wie schon während den „normalen“ Aufführungen der „Winterreise“ Glanzstücke von zeitgenössischer Paartanzkunst; in ihrer Interpretation gewinnt das 2001 uraufgeführte Stück nochmals an Tiefenschärfe. Später bibbert sich Martínez mit nacktem Oberkörper am Boden sitzen die Seele aus dem Leib, als sei er ein gestrandeter Reisender oder obdachlos Gewordener – bis Lloyd Riggins ihm mildtätig seinen Mantel umlegt und zärtlich die Hand auf den Kopf auflegt. Da versteht sich fast von selbst, dass der im Text besungene Lindenbaum – ein unersetzliches Requisit der romantischen Naturauffassung, das im Gegensatz zur „ehernen“ Eiche nicht für Standfestigkeit, sondern für Sinnlichkeit steht – kopfüber aus dem Schnürboden hängt. So hängte man die ersten Weihnachtsbäume auf, und so kann man sich auch Samuel Becketts letzten Baum der Weltgeschichte in seinem Drama „Endspiel“ vorstellen.

Nach soviel Ausdruckskraft war es für die chinesischen Tänzer Qui Yunting und Wu Sicong nicht leicht, die Stimmung weiter ins Romantische voran zu treiben. Aber es gelang ihnen! Das Stück „How Beautiful is Heaven“, ebenfalls von Zhang Disha (von dem oder der leider nicht mal das Geschlecht bekannt ist), ist eine fast makabre, so radikale Absage an ein Leben mit Kummer – der Tod erscheint hier als Erlösung, was indes als eindeutige Einzelfalllösung und keinesfalls als nachahmenswert präsentiert wird.

„How Beautiful is Heaven“ („Wie schön ist der Himmel“) ist ein beklemmend-spätromantischer Beitrag, ein mondlüsternes, aber eben auch todessehnsüchtiges Stück, in dem ein Paar miteinander tanzt, während die Frau sich vom irdischen Dasein bereits entfernt. Ein großes Kissen ist ihr eigentlicher Partner, sie hält es sich wie ein Lebenssymbol an den Kopf, vor den Bauch, an die Brust, bis sie schließlich darauf balanciert, bereits in andere Welten entschwebend.

„I can see heaven“ („Ich kann den Himmel sehen“), heißt es im immer wieder eingesprochenen Text, der auch von einem Versagen erzählt. Da habe man alles versucht, alles einer Sache geopfert, dafür sogar die Freunde aufgegeben, aber es habe nicht gereicht. Vermutlich geht es um die Beziehung zum Partner, der hier zunächst die wie im Alptraum wild zuckende Frau zu halten versucht, bis sie sich immer weiter von ihm entfernt. Am Ende bleibt er bestürzt allein im weißen Lichtkreis zurück, während sie geht – Liebe kann, auch wenn sie erwidert oder erfüllt ist, in ihrer alles vereinnahmenden Radikalität in die Depression und bis in den Tod führen, nicht nur die Leser der Gothic-romantischen Literatur wissen das.

Ebenfalls kompliziert und alles andere als glücklich erfüllt ist die Liebe des weltbekannten norwegischen Literaturpaares Peer Gynt und Solveig. John Neumeier schuf – nach extra dafür komponierter Musik von Afred Schnittke – seinen eigenen „Peer Gynt“, den er kürzlich erneuerte und mit Carsten Jung in der Titelrolle zur erfolgreichen zweiten Uraufführung brachte. Alina Cojocaru ist die Partie der Solveig darin zugeeignet – mit Hingabe tanzt sie die junge Frau, die bereit ist, ein Leben lang auf den Mann zu warten, den sie liebt, der aber in seiner Jugend zu unreif, zu ungeduldig, zu abenteuerlustig war, um den Wert ihrer Liebe anzuerkennen.

Carsten Jung is wonderful "Peer Gynt".

Alina Cojocaru als Solveig mit Carsten Jung als „Peer Gynt“ in John Neumeiers jüngster Kreation. Premieren-Foto: Holger Badekow

Carsten Jung brillierte auf der Gala zunächst in einem zappelnd mit sich selbst ringenden Solo, bis er Solveig oberhalb einer Treppe entdeckt. Langsam streckt sie ihm die Hand entgegen, langsam nähert er sich ihr an – und legt den Kopf in ihre Handfläche, eine Geste, die indes nicht darüber hinwegtäuscht, dass es sich hier auch um einen Traum, um einen Wunschtraum Solveigs handeln könnte. Denn eigentlich ist dieser Peer schon ganz weit weg von ihr und kommt erst am Ende seines Lebens zu ihr zurück. Umso intensiver der Paartanz hier: Jung trägt die stehende Cojocaru wie eine lebende Statue, die er im Gehen eingefangen hat, über die Bühne. Eine solche Kraft kann nur die Liebe geben!

Um Liebe und Erotik ging es auch beim unbestrittenen Superstargast dieses Abends: Svetlana Zakharova, die russische Ikone des Balletts und die größte derzeit lebende Ballerina, tanzte mit dem Hamburger Edvin Revazov den Herbstspaziergang und den Schwarzen Pas de deux aus John Neumeiers Meisterstück „Die Kameliendame“.

„Unser“ Edvin hatte, wie John Neumeier auch mit Stolz berichtete, mit Svetlana bereits ab März 2014 dieses Stück am Bolschoi-Theater in Moskau bejubelt getanzt. Jetzt, nach seiner langwierigen Verletzung, hielt er sich tänzerisch etwas zurück und ließ seiner Bühnenpartnerin den Vorrang beim Brillieren: Svetlana nutzte die Gelegenheit mit professioneller, äußerst faszinierender Hingabe an ihre Partie. Ich bezeichne sie ja nicht ohne Grund gelegentlich als „Jahrhundertballerina der Präzision“ – und was die 36-Jährige technisch alles draufhat, muss man hier angesichts ihres immensen Rollenrepertoires nicht einzeln aufzählen.

Als „Kameliendame“ im dritten Akt zeigt sie die melancholische, düstere Seite der Liebe einer tuberkuloserkanken Luxus-Kurtisane zu einem gutbürgerlichen, ansonsten mittellosen jungen Mann. Aus Liebe zu ihm hat sie auf ihn verzichtet – damit er ohne den Makel des Zusammenlebens mit ihr in ein „normales“ familiäres Dasein gleiten könne. Als sie sich bei einem Herbstspaziergang in Paris – vom Hamburg Ballett sehr feinsinnig mit tanzenden Passanten bestückt – zufällig treffen, versucht er, sie mit der Bekanntschaft einer anderen Kurtisane zu kränken.

Doch sein Beischlaf mit der konkurrierenden Edelnutte Olympia (kühl, dennoch verlockend: Carolina Agüero) endet am rechten Rampenrand als deprimierender Koitus interruptus, und als ihn dann überraschend die Kameliendame seines Herzens besucht, schmilzt der jugendliche Liebhaber dahin.

Die dann folgende, weltberühmte Szene mit dem „Black Pas de deux“ („Schwarzer Pas de deux“ oder auch „Black Ballade“ genannt) zur Musik von Chopin hat schon einige atemberaubende tänzerische Interpretationen gezeitigt. Lucia Lacarra und Marlon Dino vom Bayerischen Staatsballett sind da an erster Stelle zu nennen: von Tokio bis Berlin, von den USA bis in den Orient haben sie das Ballettpublikum in den bedeutendsten Opernhäusern der Welt damit zum Brodeln gebracht. Zwischen ihnen passiert etwas Unglaubliches, das man einfach gesehen haben muss, um die Tiefe solcher Paartänze wie des Black Pas de deux überhaupt ausloten zu können.

Und auch Sue Jin Kang und Marijn Rademaker – damals beide vom Stuttgarter Ballett – haben bis letzte Saison immer wieder auf internationalen Galas mit diesem Stück Tanzlust unvergessliche Erinnerungen beschwert. Rademaker ist übrigens der einzige Tänzer, der nach dem lüstern-hastigen Entkleiden seiner Liebhaberin ihre schwarze Robe küsst, bevor er sie an den Bühnenrand legt. Seine Partnerin war vor allem ebenso „notgeil“, wenn man das mal deutlich sagen darf – die Schärfe dieser Interpretation konnte niemanden kalt lassen.

Lucia Lacarra hingegen legt hier stets gleichviel Schmerz und Sehnsucht in ihren Tanz, während Marlon Dino sie mit entschiedener, geradezu erwartender Stärke aufzufangen weiß. Es handelt sich ja um einen „Versöhnungsfick“, wenn man so will, dessen Brisanz dadurch, dass die beiden Ballettprotagonisten sich nicht wirklich zerstritten, sondern sich einseitig und scheinbar grundlos getrennt wurde, noch gesteigert ist.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

Atemberaubend schön und traurig zugleich, eine fatale Liebe, die dem Tod geweiht ist: Svetlana Zakharova und Edvin Revazov im „Black Pas de deux“ aus John Neumeiers „Die Kameliendame“ auf der Nijinsky-Gala XLI. Foto: Holger Badekow

Svetlana Zakharova vermag diese vielschichtige psychologische Situation ihrem Genie gemäß voll auszureizen. Was für eine Allrounderin! Sie ist am Anfang ganz zart, ganz still, steht reglos da, sie ist verschleiert, zudem aber auch zurückhaltend. Erst als der Blick des Geliebten sie trifft, scheint sie lebendig zu werden – und dann, als er auf sie zugeht, beschleunigt sich das Tempo, eine große Liebe entfächert sich, ihre Gefühle übermannen sie, sie fällt in seine Arme. Dabei verströmt sie nie jene Vergessensseligkeit, die in den meisten Pas de deux und auch in den meisten Interpretationen dieses Stücks so typisch sind. Vielmehr bleibt bei Zakharova das Wissen um das nahende Lebensende der Figur stark präsent und verleiht dem Liebestanz eine unvergleichliche, wenn man so will typisch russische Melancholie und Stärke.

Das „Wiederaufwärmen“ einer Beziehung wird derweil en detail von der Choreografie vorgegeben. Man erinnert die Gemeinsamkeiten, die kleinen Gewohnheiten miteinander. Man geht einige Schritte synchron, tanzt noch einmal die Überlegung, miteinander durchs Leben zu gehen. Man träumt von gemeinsamer Freiheit, vom großen Glück unter widrigen Umständen – vom Vergessen aller Probleme und vom Finden einer alles andere in den Hintergrund rückenden Erlösung in den Armen des jeweils anderen.

Svetlana Zakharova kostet das aus, und Edvin Revazov gibt sich ihr hin, er lässt sich ganz von ihr und ihrem Rhythmus leiten. Hier ist die Dame der dominantere Part – durchaus reizvoll und für die Black-Pas-de-deux-Sache absolut originell, wenngleich keineswegs zwingend.

Zakharova exerziert all dies aber zudem aus dem Leid als Grundton heraus.

Sie vergisst – anders als Lacarra Lacarra und Sue Jin Kang – in dieser Szene niemals all den Schmerz, den ihr der Geliebte schon zufügte und den sie ihm um seinetwillen zufügte. Sie ist wie der Schnee, der die Traurigkeit des Winters mit blendendem Weiß bedeckt, ohne die Melancholie des graubedeckten Himmelsgewölbes zu durchbrechen.

Was für ein Tag! Hier hält die Liebe ewig, die Sehnsucht nach ihr auch – und dass es nicht für immer ist, dieses kleine Glück, beim geliebten Menschen zu sein, ahnt man in Svetlanas Interpretation nur allzu schmerzlich. Aber es ist ein köstlicher Schmerz, den man mit empfindet, und die Unvereinbarkeit wirklich großartiger erotischer Leidenschaft mit dem Alltag der Moderne (wie auch immer sie sich im Detail gestaltet) hat soviel Erkenntniswert, dass man es zutiefst bedauert, als dieser Pas de deux nach über zehn Minuten in einer Apotheose am Boden, die beiden Liebenden aufeinander liegend, endet.

Bis dahin sind es Hebungen und Flips, Drehungen und Unterwerfungen, aus denen nichts als Liebe und Hingabe sprechen.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

Eine schöne Handschrift von noch schöneren zarten Fingern: Autogramm von Svetlana Zakharova, eingeholt nach der Nijinsky-Gala XLI in Hamburg. Foto. Gisela Sonnenburg

Auch die Paare vom Hamburg Ballett, die dieser Szene schon zu ihrer Unsterblichkeit verhalfen, fallen einem wieder ein, wenn man „Sveta“ und Edvin Revazov tanzen sieht – es ist, als sei ein Surrogat aus allen früheren Interpretationen in sie gefahren, um möglichst auf den Punkt genau zu tanzen. Denn im Grunde ist es egal, wer die Führung im Paartanz übernimmt, solange die Partner sich so eng und intim miteinander im Raum bewegen können wie diese zwei.

Dennoch eine kleine Reminiszenz: Die anmutige Silvia Azzoni und ihr geschmeidiger Partner Alexandre Riabko, die hoch moderne Anna Laudere und der männlich-starke Edvin Revazov, die grazile Hélène Bouchet und der liebenswürdige Thiago Bordin, die zarte Leslie Heylmann und der jugendlich-schwärmerische Alexandr Trusch (die diesen Schwarzen Pas de deux noch gar nicht tanzten, jedenfalls nicht öffentlich) – man könnte die Liste der edlen Kameliendamenpaare allein in Hamburg schier unendlich verlängern, was aber niemandem wirklich gut tun würde. 1999, fällt mir ein, gab Chantal Lefèvre zum Beispiel ihre Abschiedsvorstellung mit dem Stück – und 2011 tanzte die Neumeier-Megäre Joelle Boulogne, die gestern Abend im Publikum zu Gast war, einen anderen Pas de deux aus der „Kameliendame“, auch als Bühnenabschied auf der Nijinsky-Gala.

Fakt ist, dass man zwar eine gelungene internationale Gala ohne „Schwanensee“, ohne „Don Quixote“ und ohne „Coppélia“ machen kann, aber ein Stück aus der „Kameliendame“ gehört eigentlich schon hinein, wenn man thematisch etwas von den Freuden und Leiden der Liebe erzählen lassen will. Das 1978 von Neumeier für Marcia Haydée in Stuttgart kreierte, 1981 in Hamburg überarbeitete Stück ist nun mal das vermutlich bedeutendste Ballett seit Ende des Zweiten Weltkriegs – in Konkurrenz und Korrespondenz mit John Crankos „Onegin“, bei dessen Entstehung in den 60er Jahren Neumeier im übrigen im Ballettsaal anwesend war.

Später, beim Verlassen des Theaters, huschte Svetlana Zakharova mit diszipliniert gesenktem Gesicht und zahlreichen Gepäckstücken auf dem Trolley durch die Reihen der wartenden Fans. Nur eine Nacht würde sie in Hamburg zum Entspannen haben, zirpte sie freundlich auf Englisch – daheim in Moskau warteten ihr Ehemann (ein Violinist) und ihre Tochter auf sie – sowie weitere spannende Aufgaben, der Tanzkunst in Vollendung zu dienen. La Zakharova in Hamburg – seit sie in „La Bayadère“ von Natalia Makarova gastierte, war sie nicht mehr hier. Auf der Nijinsky-Gala war sie meines Wissens nach ohnehin erstmals zu sehen. Wer wissen will, was russisches Ballett heute ist, muss sich mit dieser Frau beschäftigen! Was für ein Erlebnis sie doch war! Ihre Aura wirkt noch nach, und ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich an ihre berührende, um den nahenden Tod so deutlich wissende Kameliendame denke… großartig.

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

„Napoli“, dritter Akt, hier mit Silvia Azzoni und Alexandre Riabko, der Premierenbesetzung vom Dezember 2014: ein feuriges Abschlusswerk für die Gala, von Lloyd Riggins nach Auguste Bournonville ganz im Geist der dänischen Romantik choreografiert. Foto: Holger Badekow

Nach diesem Feuerwerk aus Passion kam, Neumeiers Konzeption der Konstraste angemessen, noch einmal etwas Heiteres auf den Plan. „Napoli“, von Lloyd Riggins nach Auguste Bournonville choreografiert, hat ein Funken sprühendes Finale, in dem das Heldenpärchen und all seine Freundinnen und Freunde sich ein munteres Stelldichein geben. Im Namen der Folklore: Silvia Azzoni und Karen Azatyan, Yuka Oishi und Orkan Dann (die beide das Hamburg Ballett zu Gunsten choreografischer Karrieren verlassen – alles Gute!) sowie weitere Solisten und das Corps de ballet rasten hier vor Lebenslust förmlich aus. Sie hüpfen auf dem Platz und in kleinen, zierlichen Sprüngen, Yuka Oishi und Thomas Stuhrmann brillieren mit dem Tambourin in den Händen – und alle Röcke fliegen hoch, die Herzen des Publikums derweil den Tänzern zu!

Und auch dieser anmutig-muntere Tanz passt ins Motto der Romantik von der ewigen Sehnsucht: Das Hoffen auf Glück und Gesundheit, auf eine lebenswerte Zukunft für alle und jeden ist und bleibt, jenseits des alltäglichen egoistischen Bereicherungsstrebens, ein ganz wichtiger Menschheitstraum. Man sollte daran festhalten – nicht nur im Theater. John Neumeier hat uns das ein weiteres Mal auf anschaulichste Art und Weise gelehrt. Danke!
Gisela Sonnenburg

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