Piratenlust, Passion und Pan Das Staatsballett Berlin tanzt den Abend „Maillot / Millepied“ in neuer Besetzung – mit Charme und erotischem Feuer

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

„Maillot / Millepied“ bezaubert mit einem furiosen Finale! Das Staatsballett Berlin zeigt, was es auch in modernen Balletten kann. Foto: Yan Revazov

Der ewige Sommer Arkadiens erhellt die Sinne! Dieses Motiv in „Daphnis et Chloé“ ist seit über tausendfünfhundert Jahren stimulierend, was die Kraft der Liebe angeht. Der griechische Dichter Longos von Lesbos schuf (um 300) sein groß angelegtes Werk, eigentlich einen Familienroman, dessen verkürzte Handlung sich seit 1912 als schwer ballettaffin erweist. Damals führte Mikhail Fokine zur Musik von Maurice Ravel erstmals ein gleichnamiges Handlungsballett auf. Heute – viele choreografische Versionen später – reüssiert das Staatsballett Berlin (SBB) in verschiedenen Besetzungen in der Fassung des Stücks von Benjamin Millepied. Und auch das dem voran gestellte abstrakte Ballett „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot ist in wechselnden Besetzungen immer wieder sehenswert. Ein Traum aus zwei Stimmungsfarben ist dieser Abend „Maillot / Millepied“ – und bevor der arkadische Sommer im zweiten Teil hellauf triumphiert, erotisiert im ersten ein heiliges Kerzenlicht verhaltene Barockfantasien, die in einer festlich geschmückten Höhle stattfinden könnten.

Im Gedächtnis verschmelzen die beiden Stücke gar zu einem Werk, wobei der letzte, besonders schmissige Teil, das Finale von „Daphnis et Chloé“, sich am stärksten ins Gemüt einfräst.

Welch Grand finale der Lust!

Doch bis dahin ist es ein relativ weiter Weg, der prickelnderweise mit heftiger Dramatik und großen Gefühlen ausgestattet ist.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Großer Jubel beim Schlussapplaus nach „Daphnis et Chloé“ im Rahmen des Abends „Maillot / Millepied“ in der Deutschen Oper Berlin. Links: Dinu Tamazlacaru, mittig Dirigent Marius Stravinsky, rechts von ihm Aurora Dickie. Foto: Gisela Sonnenburg

Daphnis et Chloé“ beginnt mit musikalischem Vorspiel zur Einstimmung nach der Pause, vor noch geschlossenem, aber psychedelisch schwarz-weiß gestreiftem und mit suggestiv wirkenden, geometrischen Projektionen von Daniel Buren versehenem Vorhang.

Marius Stravinsky dirigiert das Orchester der Deutschen Oper Berlin (und auch den so genannten Extrachor der Deutschen Oper Berlin) mit Fingerspitzengefühl und viel Sinn für den impressionistischen Rausch, in den einen diese Musik von Maurice Ravel hineinzureißen weiß.

So ist man geistig rasch angekommen im Land der unbedingten Sinnlichkeit, in diesem Arkadien aus Erotik und Natürlichkeit, ein Paradies, das Longos sich auf seiner idyllischen Mittelmeerinsel Lesbos einst ohne Schwierigkeiten ausdenken konnte.

Wenn der Vorhang den Blick auf die Bühne frei gibt, ist auch das dort tanzende Corps de ballet zweifelsohne im Reich der sommerlichen Freiheiten präsent. Ganz in Weiß gekleidet – die Damen in elegante Neckholder-Kleider, die Jungs in Shirts und Capri-Hosen – geben die Tänzerinnen und Tänzer ein Bild der fröhlichen, von Sorgen freien Schönheit ab. Die Choreografie von Benjamin Millepied unterstützt den Eindruck der Mühelosigkeit trotz technisch-stilistischer Raffinessen sowie der Freude am sinnlichen Ausdruck.

Millepied, Sohn einer Tänzerin und in Frankreich ausgebildet, war Primaballerino beim New York City Ballet war, bevor er in den Choreografenstand wechselte. Seinen „Daphnis“ schuf er 2014, zu diesem Zeitpunkt war er Ballettdirektor an der Pariser Opéra. Besondere Prominenz verschafft ihm übrigens seine Ehefrau, die Hollywood-Schauspielerin Natalie Portman. Gemeinsam waren sie auch an dem von vielen als skandalös klischeehaft empfundenen Kinofilm „Black Swan“ beteiligt.

Von derlei Klischees ist in der Deutschen Oper Berlin zum Glück nichts zu spüren.

Arshak Ghalumyan als Daphnis zeigt vielmehr in einem ersten Solo, dass er nicht nur geschmeidig und passioniert tanzen kann, sondern auch Sehnsüchten eine eindringliche wortlose Stimme verleiht, nur mit seiner Körperkunst.

Und als hätte sie das Sehnen des Jünglings gehört, taucht Chloé alias Aurora Dickie auf! Sie ist ein hoch elegantes Mädchen, kein linkisches Hirtenkind wie bei Longos. Im Ballett von Millepied darf sie nachgerade adlig und vornehm wirken, eine gut erzogene junge Dame, deren erwachende sexuelle Attraktivität sich in ihrem Begehren widerspiegelt.

Aurora Dickie, mit einem an Julie Kent erinnernden, strahlenden Lächeln begabt, gleitet gekonnt durch die schwierigen Dreh- und Hebepositionen; ihre Pas de deux mit Arshak Ghalumyan wirken organisch und sind voller Harmonie, die Verliebtheit und körperliche Anziehungskraft nimmt man beiden fraglos ab.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Applaus, Applaus: Aurora Dickie (Chloé) und Arshak Ghalumyan (Daphnis) nach „Maillot / Millepied“, also nach „Daphnis et Chloé“ von Benjamin Millepied beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Ein delikates Paar ergibt sich aber auch aus dem kräftigen Arshak Ghalumyan und der zarten, hervorragend geschmeidigen Iana Balova, welche mit unübertrefflicher Verführungskunst als gereifte Liebhaberin Lycéion glänzt.

Die Geschichte von „Daphnis et Chloé“ (was auf französisch nichts anderes als „Daphnis und Chloé“ heißt) hat nämlich ein paar Haken, und die liegen nicht nur darin, dass Piraten Chloé entführen. Prinzipiell haben die jungen Liebenden nämlich das Problem, sexuell nicht aufgeklärt zu sein – und Longos wie auch alle ihm nacheifernden Choreografen machen sich einen Spaß daraus, ganz ernsthaft das Streben junger Menschen zueinander zu zeigen, die nicht wissen, wie das mit der sexuellen Erfüllung zu bewerkstelligen sei.

Im spätantiken Roman unternehmen die beiden erfolglose Besteigungsversuche nach dem Vorbild der Tiere. Allerdings ohne zu wissen, was sich körperlich außer dem äußerlich Sichtbaren und also innerhalb der Lusthöhle der Dame abspielen sollte. Solche Probleme ganz junger Liebender sind wohl nicht ganz selten, wenn es keine kompetente Aufklärung gibt… Für erfahrene Frauen ist solch ein verliebt-hilfloser Jüngling dann wie ein Geschenk, und Lycéion kann ihren neuen Liebhaber sozusagen nachgerade wie eine reife Frucht pflücken. Sie umgarnt ihn, umtänzelt ihn, legt ihre Arme um seinen Hals, schaut ihm tief in die Augen – und flugs liegt er, nach einigen kunstvollen gemeinsamen Umdrehungen auf ihr am Boden.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Und noch ein Applaus für Solisten und Corps vom Staatsballett Berlin nach „Maillot / Millepied“. Foto: Gisela Sonnenburg

Diese Szene sexueller Untreue wird im Roman wie im Ballett aber nicht allzu sehr problematisiert, sondern vielmehr als hilfreich dargestellt. Endlich weiß der junge Mann, wie es gehen kann!

Doch bevor er seine Chloé mit dem neuen Wissen beglücken kann, wird sie entführt. Daphnis hat aber auch ein Pech!

Gegen seinen männlichen Rivalen Dorcon – der mit dynamischen Tanzgesten zu überzeugen weiß: Nikolay Korypaev – konnte Daphnis sich bei Chloé noch gut durchsetzen. Aber gegen die perfiden Piratentricks von Bryaxis und seiner coolen Gang hat der Jüngling keine Chance.

Ganz in Schwarz gekleidet, als hippe Liebesterroristen, also Piraten, begeistern: der fantastische, sprungmächtige Dinu Tamazlacaru nebst neun flotten, aggressiv-eleganten Gefährten.

Giacomo Bevilacqua, Paul Busch, Ty Gurfein, Cameron Hunter, Konstantin Lorenz, Sacha Males, Alexander Shpak, Wei Wang und Dominic Whitbrook bilden aber auch ein herrliches Piraterie-Corps!

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Dinu Tamazlacaru als Bryaxis in „Daphnis et Chloé“: Er bedrängt die weibliche Heldin, ist ein echt wilder Pirat, und zwar auf virtuoseste Art! Foto vom Staatsballett Berlin: Yan Revazov

Und Dinu Tamazlacaru tanzt diese Rolle des wilden Mannes, als habe er nie etwas anderes auf der Bühne dargestellt (dabei wissen wir ja, dass er auch ganz andere, lyrische Parts extrem schön tanzen kann). Die Piratenlust scheint hier aber auch wirklich etwas typisch Männliches zu sein!

Doch Chloé würde sich niemals freiwillig dieser entfesselten Manneslust ergeben, zu sehr ist sie in den schelmisch-naiven Daphnis verknallt. Ihr droht Gewalttätigkeit. Der Gott Pan höchstselbst muss helfen, um sie aus der Gewalt der Piraten zu befreien, in höchster Not geschieht das, unter der Sonnenhitze der Abendglut… knallrot ist die Bühne da, als Bryaxis und seine Kerle über die feine Schönheit herfallen wollen. Göttliches Wirken lässt sie auf der Stelle umfallen – Tiefschlaf statt Massenvergewaltigung.

Es ist bemerkenswert und ein durchaus komödiantisches Element, dass Longos ausgerechnet den sonst selbst als wilden Triebtäter in der Mythologie bekannten bocksfüßigen Naturgott Pan zum Deus ex machina werden lässt. Er, der sonst jeden, der seiner ansichtig wird, in panischen Schrecken versetzt und Namensgeber der Panik ist, bleibt im Ballett zwar unsichtbar, aber unendlich gütig in seinem Tun.

So kann Daphnis rasch herbei eilen und seine Angebetete aus den Fängen der Piratenmannschaft befreien. Flugs eilen sie davon…

Das Finale dann wird von fröhlicher Buntheit eingeläutet. Die Kostüme von Holly Hynes sahen bisher kontraststarkes Schwarz und Weiß vor; jetzt aber kommt Chloé in knalligem Grün auf die Bühne geweht, und ihr Daphnis darf ein ebenso leuchtendes Gelb (eine helle Senfnote) dazu tragen.

Das ganze Corps trägt nun ebenso wie die Solisten dem Erfahrungsreichtum eines Sommers der Liebe Rechnung. In den Farben des paradiesischen Strandes – Grün für die Wald- und Hainbüsche, Gelb für die Strandzone, Orange für die Sonnenauf- und -untergänge und Blau für das Meer und den Horizont – tanzen sie nunmehr, als wollten sie mit jeder Geste, jedem Schritt die Liebesgöttin Aphrodite anbeten.

Paare bilden sich, und unter ihnen sind Luciana Voltolini und Alexander Shpak besonders erwähnens- und lobenswert. Leichthin und doch galant, form- und liniensicher und doch wie spontan, so frohgemut, erfreuen sie die Sinne: ein unvermutet hochkarätiges Pärchen, das indes vor allem durch die abwechslungsreiche feminin-erotische Note von Luciana Voltolini immer wieder neuen Auftrieb während des Tanzes erhält.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Die Solostars vom Staatsballett Berlin vorne beim Schlussapplaus nach „Maillot / Millepied“ in der Deutschen Oper Berlin. Von links: Dinu Tamazlacaru, Aurora Dickie, Arshak Ghalumyan, Iana Balova und Nikolay Korypaev. Foto: Gisela Sonnenburg

Man muss wirklich hoffen, dass sie, derzeit als Halbsolistin engagiert, bald die Möglichkeiten für eine große Karriere in Berlin erhält. Denn nicht zum ersten Mal fällt Luciana Voltolini auf, und zwar sogar ohne dass man sie sofort identifiziert (was mit wechselnden Make-ups, Frisuren und Outfits eben nur noch anhand ihres Tanzes oder beim Studieren des Programmzettels möglich ist). Ola, Staatsballett Berlin, Du trägst da eine Perle in Dir, deren Glanz allerbest zu Dir passt!

Insgesamt ist das Niveau vom SBB derzeit ohnehin überhaupt nicht zu bemäkeln! Natürlich fehlt Solisten wie Arshak Ghalumyan noch ein wenig die Erfahrung in großen Liebhaber-Rollen, um darin so sehr gut zur Geltung zu kommen wie etwa der brillante Mikhail Kaniskin, der die Berliner Premiere als Daphnis tanzte. Aber die Feinheiten kommen, und Übung macht auch und gerade im Ballett den Meister!

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Ein toller, temperamentvoller Tanz am Ende von „Daphnis et Chloé“, sich steigernd bis zur eleganten Raserei: das Staatsballett Berlin in „Maillot / Millepied“. Foto: Yan Revazov

Die stringente Linie vom SBB – die auch den Ballettmeistern unter Gentian Doda, also Barbara Schroeder, Tomas Karlborg, Thomas Klein, Christine Camillo und neuerdings auch der ehemaligen Weltballerina Nadja Saidakova zu verdanken ist – zeitigt ein sensibles, aufgewecktes, ästhetisch äußerst ansprechendes Ensemble mit absolut interessanten Solokräften.

Hier sieht man keine nachlässig ungestreckten Füße, und Posen wie die Arabesken sind sowohl synchron als auch solistisch in hohem Ausmaß erbaulich. Wechselnde Gasttrainer tun sichtlich ein Übriges, um die anstrengende Kraft, die Ballett nun mal kostet, stetig zu erneuern. Kurz: Diese Truppe ist ein Augenschmaus!

Ganz nebenbei erbringt Millepieds „Daphnis et Chloé“ zudem in seinem ersten Teil noch den Beweis, dass Ballett auch ohne Spitzenschuhe elegant, sexy und in allen Attributen, wenn auch in einem modernen Sinn, klassisch sein kann. Ein großes Verdienst!

So endet dieser Abend denn auch mit einem seligen Freudentanz, der die Sinne weckt und alarmiert, und der auf angenehme Weise klar macht, dass die Essenz des Lebens in den Beglückungen des Augenblicks liegt.

„Der Augenblick ist mein, / und nehme ich den in acht, / so ist der mein, / der Zeit und Ewigkeit gemacht.“ Das stammt nun nicht von Longos, sondern von Andreas Gryphius (1616 – 1664), einem der bedeutendsten Dichter des Barock. Der Schlesier barmte und haderte nicht wenig sowohl mit seiner Bestimmung als auch mit Gott. Das memento mori seiner Epoche – die stete Bedacht des Todes – nahm er sich sehr zu Herzen und schmiedete aus seinen Zweifeln und Hoffnungen fein ziselierte poetische Kunst.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Großer Applaus nach „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot im Abend „Maillot / Millepied“ beim Staatsballett Berlin. Von links: Alexej Orlenco, Federico Spallitta, Elena Pris, Vladislav Marinov (leider verdeckt), Weronika Frodyma und Elisa Carrillo Cabrera. Da capo! Foto: Gisela Sonnenburg

Wie passt das nun zu Ballett? Ganz einfach: Indem Jean-Christophe Maillot (der 2010 übrigens auch ein „Daphnis-und-Chloé“-Ballett ersann) sich Musiken vor allem von Claudio Monteverdi vornimmt und dazu eine höhlenartige, festlich mit großen Kerzen (echte Kerzen flackern hier auf der Bühne!) erleuchtete Sphäre auf der Bühne kreiert: „Altro Canto“ (italienisch für: „Ein anderes Lied“) heißt das so entstandene Stück, das in Berlin wie der Millepied-„Daphnis“ ebenfalls in wechselnden Besetzungen für sich vereinnahmt.

Es wird vor „Daphnis et Chloé“ im Abend „Maillot / Millepied“ getanzt und bildet einen fast mysteriösen Einstieg in einen Ballettabend, der dann doch so fetzig endet. Um diesen Kontrast von Beginn an zu genießen, empfiehlt sich ein Zweitbesuch der Vorstellung – mit dem Ende des ersten Sehens im Hinterkopf. Weshalb hier auch die Rezension diese Reihenfolge vornimmt.

Maillot – ein sehr umtriebiger Künstler, der sich auch schon das Bolschoi in Moskau eroberte – ist seit 1993 Chef und Chefchoreograf der Ballets de Monte-Carlo, und ältere Ballettfans erinnern sich noch gut an ihn als Solisten beim Ballett der Hamburgischen Staatsoper (wie das Hamburg Ballett in den 70er und 80er Jahren hieß) unter John Neumeier.

An dessen halb abstraktes Stück „Don Quixote“ von 1979, das nicht zu verwechseln ist mit den abendfüllenden Aufführungen gleichen Namens, erinnern denn auch manche Männer-Paartänze in „Altro Canto“. Die Intention derer ist in Maillots Stück aber nicht vor allem die mal mehr schwärmerische, mal mehr identitätserforschende Verdoppelung des Ichs, sondern das direkte Miteinander von Menschen innerhalb einer Gruppe.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Und noch eine Verbeugung fürs Publikum: das Staatsballett Berlin nach „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot, dem ersten Teil in „Maillot / Millepied“. Foto: Gisela Sonnenburg

Eine Kerze und zwei schöne Frauen bilden den Anfang, aus dem sich eine lockere Aneinanderreihung von Pas de deux und später auch Gruppentänzen entwickelt. Bald hängen die Kerzen in der Höhe, scheinbar in der Luft, bald bilden sie eine gerade Linie im Hintergrund. Sie sind weiß und erinnern an Kirchenkerzen – bis zu einem besonders inbrünstigen Moment der Frauenverehrung eine rote Kerze ins Spiel kommt. Da die Bühne relativ im Dunkeln bleibt, zählt das Gewicht der Kerzen als Lichtspender auch symbolisch viel.

Sanftmut und Freundschaft bestimmen die Tänze.

Frauen und Männer tanzen zunächst gleichgeschlechtlich, später als gemischte Paare. Da ist von Einanderbeistehen, Voneinanderlernen und Sichhelfen körperlich die Rede; etwa, wenn ein Junge einen eleganten, bewusst langsam ausgeführten Kopfstand unternimmt, während ein anderer ihn hält. Ein weiterer Junge geht ebenfalls in diese Position – und in der Wiederholung ändert sich auch die Ausdrucksnote dieser Übung.

Es kommt nicht von ungefähr, dass die Kostüme hier – ganz prominent von Modezar Karl Lagerfeld kreiert – mit männlichen und weiblichen Zuordnungen spielen. Da tragen Jungs mattgoldene Mieder zur Hose, andere sogar kurze gebauschte goldene Röckchen. Die Damen hingegen tragen Hosen, die Unisex ausstrahlen – mit der Anmutung von weißen oder cremefarbenen Jeans. Und: Sie tragen Spitzenschuhe, aber nur die Damen!

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Elena Pris und Vladislav Marinov in „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot: ein unkonventionelles, aber spannendes Paar. Foto: Yan Revazov

Manchmal trifft ein Paar im selben Outfit aufeinander. Manchmal reiben sich die Gegensätze aneinander. Immer aber geht es um ein Miteinander – niemals um dekonstruktives Gegeneinander.

Das Wunderbare ist, dass das hier dennoch niemals langweilig wird!

Und wenn die Frauen sich trippelnderweise zum Duett finden oder die Männer sie um die Taille fassen, um daran hoch zu springen, dann wird auch deutlich, dass Maillot hier eine paradiesische Urgesellschaft inszeniert, die ohne blutige Opferrituale ans Ziel zu kommen vermag.

Die Neuerfindung der Zivilisation durch Liebe und Partnerschaften, durch Gruppengeist (statt Gruppenzwang) und freiwillige Hingabe. Eine wahre und würdige Tänzerutopie!

Offensichtlich tanzt das SBB dieses Stück auch sehr gern, und auch die Neubesetzungen mit dem ausdrucksstarken Federico Spallitta und der feingliedrigen Weronika Frodyma haben beim Debüt schon die Anmutung absoluten Beherrschens.

Dass Ballett eine spirituelle Kunst der Selbstbeherrschung ebenso wie der Selbsthingabe ist, zeigt sich hier vielfach, zum Vergnügen der Tänzer ebenso wie des Publikums.

Es ist zwar ungewöhnlich, für Journalismus zu spenden – aber das Ballett-Journal ist arbeitsintensiv und zeitaufwändig – und muss ganz ohne öffentliche Fördergelder auskommen. Wenn Sie es unterstützen wollen, dann spenden Sie bitte jetzt. Jeder Euro zählt! Danke.

Monteverdis barocke Gesänge – die zwar vom Band kommen, aber dennoch vollauf ihre Wirkung entfalten – tun ein übriges. Man wird in eine surreale Sphäre versetzt, die einer romantisch angehauchten Sehnsucht nach irgendwo nicht ganz unähnlich ist, die aber nicht deren dramatische Auswüchse kennt.

Religiöse Metaphern finden sich hingegen rückübersetzt in körperlich-tänzerische Tätigkeit. Also ist das hier auch ein Schamanenstück, wenn man so will.

Ein Höhepunkt ist es, wenn Elena Pris – und dann gibt es auch die rote Kerze dazu – auf den Handflächen der in Reih und Glied stehenden Männer im Spitzenschuhschritt vorwärts balanciert. Ein Beautiful Shoes on Hand Walk, sozusagen. Sie wird dabei von zwei Kavalieren gehalten, damit sie nicht umfällt, aber ihre Erscheinung hat sinnlicherweise etwas Madonnenhaftes, etwas Überirdisches.

Eine moderne Madonna, eine Madonna der Moderne!

Wenn Elena Pris dann mit Vladislav Marinov tanzt, und zwar einen intensiven Paartanz voller Charme, ertönt folgerichtig kein Monteverdi mehr, sondern ganz heutige, gezupfte Gitarre.

Rhythmisch plätschert der Takt nun vor sich hin, in zumeist dunklen Tonfeldern, die sanft und gar nicht rockig klingen.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Noch einmal „Bravoooh“! Das Staatsballett Berlin nach „Altro Canto“ beim Schlussapplaus. Foto: Gisela Sonnenburg

So ist es kein Bruch, wenn dann wieder Monteverdi einsetzt. Zwei Paare tanzen jetzt auf, bis dann ein Pas de trois das Moment des Trios einläutet. Und schon sind es drei Dreiergruppen, bestehend aus je zwei Männern und einer Dame, die elegisch auf der Bühne die Schönheit und die Liebe praktizieren.

Ein weiterer Höhepunkt darin ist Elisa Carrillo Cabrera (die erotisch-aufregende Chloé der Berliner Premiere des Millepied-Stücks). In „Altro Canto“ besticht sie mit akkuraten Arm- und Beinkoordinationen, die ihr die Anmutung eines überirdischen Wesens verleihen.

So sehen wohl Engel aus, wenn sie sich menschlich bewegen!

Im Pas de deux mit dem hier ohnehin exponiert passioniert tanzenden Alexej Orlenco entfaltet Elisa Carrillo Cabrera dann zudem eine flirrend weibliche Kraft. Es ist ein fantastischer Moment, wenn sie lockend da steht und Orlenco Alexej mit raubtierhafter Eleganz zu ihren Füßen in den Spagat rutscht, von ihrer Hand gehalten und geführt.

Das Ende dieses Stücks ist denn auch versöhnlich und zeigt nochmals, dass es hier um die Kraft der Liebe geht.

"Maillot / Millepied" bezaubert mit einem furiosen Finale

Ein Höhepunkt in „Altro Canto“ ist der „Beautiful Shoes on Hand Walk“ von Elena Pris beim Staatsballett Berlin. Hier an der Hand der Premierenbesetzung mit Marian Walter. Sehr schön fotografiert von Yan Reazov

Die Mädchen sind nach vorn in die Arme ihrer männlichen Partner gefallen, diese haben sie aufgefangen – und auf Zehenspitzen trippelnd, lassen sich die jungen Frauen solchermaßen, in genau dieser Position, von den Herren auf und davon und in die rechte Kulisse entführen. Ein lieblicher Anblick und doch ein moderner!
Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

Zur Premierenrezension bitte hier klicken: www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-maillot-millepied/

www.staatsballett-berlin.de

ballett journal