Weit schwingen die langen Röcke, und grellrot ist zudem der von „Anna Karenina“, der ungehalten Liebenden, die doch eigentlich verheiratet ist. Christian Spuck, seit 2012 Ballettdirektor in Zürich, studierte sein Stück von 2014 jetzt in München ein. Und das Bayerische Staatsballett glänzt, zumal Ksenia Ryzhkova in der Titelrolle und Matthew Golding als Stargast in der Rolle des Liebhabers Graf Wronski ein so leidenschaftliches wie existenzialistisches Paar abgeben. Bravo! Bravo auch an Münchens Ballettdirektor Igor Zelensky, der mit dieser Produktion sowie mit personellen Veränderungen im Ensemble beweist, dass er kein Sturkopf, sondern lernfähig ist. Zweifelsohne fördert er jetzt die richtigen Solokräfte. Bleibt die Frage, warum ausgerechnet die schöne Ehebrecherin aus dem 19.-Jahrhundert-Roman „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi nach der John-Neumeier-Kreation im Sommer in Hamburg nun schon die zweite große Ballett-Premiere in diesem Jahr in Deutschland feiert. Fällt den choreografierenden Männern etwa kein spannenderes Sujet ein als die sich zu Tode liebende Leidenschaft in weiblicher Gestalt?
Ach, was soll’s. Mächtige Musik donnert auf uns nieder, nachdem gleich zu Beginn das Rattern einer Eisenbahn eindrücklich an den offenbar unvermeidbaren Selbstmord der Ehebrecherin am Ende gemahnte. Man hätte sich zwar auch mal einen anderen Ausgang dieser Menage à trois um Anna Karenina gewünscht – schließlich genießen (und genossen schon immer) viele Frauen die außereheliche Liebe, ohne sich anschließend vor lauter Scham gleich vor einen Zug zu werfen. Und es ist ja nicht verboten, Klassiker der Weltliteratur zu bearbeiten. Aber es hat unbestreitbar viel Dramatik, viel schönen Schauer sowie auch einen leicht patriarchalischen Anstrich, wenn alles auf den finalen tragischen Suizid der Sünderin abzielt.
Das tut es hier, im Ballett von Christian Spuck, unübersehbar von Anfang an.
Bis Juli 2017 lief diese Inszenierung übrigens noch beim Ballett Zürich, und nicht wenige süddeutsche Ballettfans werden dort Viktorina Kapitonova in der Hauptrolle bewundert haben. Auch in Oslo und Moskau war Spucks Meisterstück – das unbestreitbar sein bestes Werk bisher ist – bereits zu sehen. Bedenkt man, dass auch Neumeiers „Anna Karenina“ bald in Moskaus sowie in Toronto (Kanada) zu sehen sein wird, und dass mit Alexei Ratmanskys „Anna Karenina“ am Mariinsky Theater in Sankt Petersburg sowie mit Boris Eifmans Version vom Stück – mit dem seine Truppe von Sankt Petersburg aus etliche Gastspiele unternahm – weitere Stückversionen in den letzten Jahren liefen, so muss man konstatieren, dass dieses leicht angestaubte Thema international absolute Konjunktur hat.
Das liegt nun sicherlich daran, dass auch Sponsorenwünsche indirekt eine Rolle spielen – und wer Geld hat, ist zumeist männlich und hat Null Interesse daran, dass Frauen ein modernes, selbstbestimmtes Leben führen. Die finanzielle Abhängigkeit der Frauen von ihren männlichen Partnern oder auch Vätern (ob im Beruf oder privat) ist derweil die Grundlage eines Patriarchats, das sich sogar mit Floskeln vorgeblicher Frauenfreundlichkeit oder gar Gender-Interessen immer nur erneut als Patriarchat zu bestätigen weiß.
Im Ballett haben Frauen durch die exponierte Stellung der Ballerinen zwar Vorteile. Aber in den meisten anderen Branchen sieht es ungleich finsterer für die Damenwelt aus. Vor allem, wenn es um gut bis sehr gut bezahlte Arbeit geht, haben Frauen – egal, wo – zumeist das Nachsehen.
Jetzt aber toppt Ksenia Ryzhkova mit ihrem unvergleichlichen Schmiss in den wohlgeformten Beinen sowie mit ihrer facettenreichen Palette an emotionaler Ausdruckskraft alle klischeebehafteten Erwartungen.
Ihre Anna Karenina ist kein aus Langeweile oder Sexfrust schlagartig erwecktes Liebesdornröschen. Sie tanzt Anna als starke Persönlichkeit, die im Grunde auch mit zwei Männern zugleich gut leben könnte. Nur lassen das die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zu.
Die Münchner Primaballerina, 1994 in Moskau geboren, dort auch ausgebildet und erst seit einer Saison an Bord bei Zelensky, zeigt mit expressiver Energie sowohl das Leiden unter der lieblosen Art ihres Mannes Karenin (absolut glaubhaft: Erik Murzagaliyev) sowie auch die Einengung durch die ritualisierte, sinnentleert das einzelne Individuum unterdrückende Gesellschaft.
Doch auch das zärtliche Mutterdasein gelingt ihr in den Szenen mit ihrem kleinen Sohn vorzüglich – sie ist eine Frau, die man gut verstehen kann, wenn sie sich in der erstarrten Ehe mit Karenin nicht aufgeben will. Ihr Pech ist, dass sie nicht frei ist – und dass sie eine Frau ist.
Denn während ihr Bruder Stiwa Oblonski – ein Schürzenjäger, köstlich deftig und doch manchmal verspielt getanzt von Tigran Mikayelyan, den wiederzusehen sich viele Münchner freuen – als Familienoberhaupt gleich zwei Hausmädchen auf einmal ungeniert nachsteigen kann, ohne dass das Konsequenzen für ihn hat, bricht Annas Leben im Grunde schon in dem Moment entzwei, als sie sich in den vitalen Alexej Graf Wronski verliebt.
Das geschieht am Bahnhof, in Moskau, in der hektisch-abenteuerlichen Atmosphäre großer Reisehallen.
Es ist aber auch ein Mann zum Anknabbern, den Anna alias Ksenia Ryzhkova hier so unvermutet trifft!
Matthew Golding, gebürtier Kanadier und von Het Nationale Ballet in Amsterdam aus weltweit berühmt geworden, personifiziert den zur totalen Liebe bereiten Single Wronski. Er ist ein Stück weit ein Dandy, ein nicht unerfahrener Mann, der nicht zögert, sich das zu nehmen, was das Schicksal ihm anbietet.
Matthew Golding (privat übrigens mit der tollen Amsterdamer Ballerina Anna Tsygankova verpartnert) tanzte von 2014 bis 2017 fest beim Londoner Royal Ballet als Principal. Dass er als Gast für diese exponierte Partie in München gewonnen werden konnte, ist eine wunderbare Überraschung.
Sein elegant-schlichter Stil, schnörkellos, sexy und dennoch von höchster männlicher Anmut, passt hervorragend zu der femininen, angenehm selbstbewussten Aura von Ksenia Ryzhkova.
Wenn die beiden sich ansehen – und das tun sie beim ersten Mal sehr lange – dann stieben die Funken!
Sie sind auf der Bühne wie füreinander gemacht. Goldings Wronski ist denn auch ad hoc blind vor Leidenschaft, er lässt sich ganz von seinen Gefühlen leiten, tanzt von der Verliebtheit beseelt – und sie erwidert jede Regung, die sie bei ihm wahrnimmt, mit höchster Konzentration. Was für eine amour fou!
Damit ist der Abend eigentlich schon gewonnen. Man giert danach, dieses ungewöhnliche, vom Thrill des Ehebruchs umwobene Liebespaar immer wieder zu sehen. Ach! Wie sie in den sorgsam zelebrierten, tänzerischen Umarmungen verschmelzen! Wie sie nicht voneinander lassen können! Wie sie in Hebungen und synchronen Schritten zu Adam und Eva werden, ungeachtet ihrer bombastischen Kostüme!
Und die Kostüme sind, by the way, einige Worte wert: Sie stammen von Emma Ryott, Spucks bewährter Leib-und-Magen-Designerin. Viele abendfüllende Stücke hat sie ihm schon verschönt, von „Der Sandmann“ und „Leonce und Lena“ über „Lulu. Eine Monstretragödie“ bis zu „Don Q.“ am Theaterhaus Stuttgart.
Für Spuck ist allerdings vor allem das Stuttgarter Ballett prägend: An der John Cranko Schule ausgebildet, tanzte er unter anderem auch in Stuttgart, wo er 2001 zum Hauschoreografen berufen wurde. Rasch machte er sich international einen Namen und trat 2012 die Nachfolge von Heinz Spoerli in Zürich an. Neben Balletten inszeniert er auch Opern – und setzte auch schon Verdis „Messa da Requiem“ in Tanz um.
Für „Anna Karenina“ warf der dynamische Choreograf alles in die Waagschale. Was nicht heißt, dass er stilistisch berserkert, im Gegenteil: Seine „Karenina“ ist puristisch auf wenige Effekte reduziert. Und da kommen die Kostüme ins Spiel: Sie leuchten in der oftmals düsteren, nur spärlich erhellten Bühne wie aggressive Farbtupfer, wie eigenständige Wesen oder wie unikate Kunstwerke, und das, obwohl Emma Ryott vor allem seidenmatt schimmernde, betont edle Stoffe in Unifarben verwendet.
Bauschige Röcke an den Damenkleidern suggerieren die verhaltene Erotik im Alltag der gehobenen Schichten im 19. Jahrhundert. Schnittige Anzüge oder Uniformen bei den Herren stehen für gute Manieren und zur Schau getragenen Anstand.
In der Düsternis der Bühne – gleichsam in einer alles Leben im Keim erstickenden Gesellschaft – wirken die Gesichter der Solisten doppelt stark. So sind es die Kostüme und das Licht, die für den expressionistischen Eindruck von Spucks Inszenierung den passenden Rahmen besorgen.
Und wenn Schwarz-weiß-Fotos auf den Hintergrund projiziert werden, so stützt auch dies den Aspekt der Kontraste. Spuck verleiht dem Expressionismus eine neue Anmutung: mit wenigen, aber ausgesuchten Mitteln.
Ansonsten trägt die Geste. Da wird oft theatralisch agiert oder hin- und hergegangen, es wird einander verfehlt, manchmal auch gefunden, die Männer haben meist das Sagen und greifen sich die Damen zum Tanz, wenn sie Lust dazu haben.
Choreografisch ist Spucks „Anna Karenina“ zwar überraschend konventionell: Schöne Arabesken stehen für Sehnsucht, edle Spitzenschuhposen für fein gemachte Sexiness. Dennoch reißt die starke Stilistik dieses Balletts mit, auch wenn das Thema der Liebe nicht – wie von John Neumeier in seiner Stückversion – in möglichst vielen Facetten ausgeleuchtet wird.
Spucks Stärke und Strategie liegen in der Reduktion.
Die Schlüsselszenen, die er aneinander reiht, sind nicht durch brückenschaffende Übergänge verbunden. Es sind Schlaglichter, die er in einen Kosmos aus diffusen Vorgängen wirft, um sie vorzuführen.
Auch die Nebenstränge der Haupthandlung – die Eheleute Stiwa und Dolly sowie das Paar Lewin und Kitty betreffend – sind hier nur in ihren Resultaten interessant, nicht in ihren Werdegängen.
Dolly, wirklich großartig und mit tiefer seelischer Zerrissenheit von der Münchner Primaballerina Ivy Amista ausgefüllt, leidet und erduldet die ständigen Eskapaden des Fremdgehens ihres Mannes Stiwa. Hätte sie den Mut dazu, so würde sie ihn verlassen. Aber sie weiß um ihre Abhängigkeit und scheut darum den radikalen Schnitt in ihrem Leben.
Ihre Schwester Kitty – von der vom English National Ballet kommenden starken Lyrikerin Laurretta Summerscales, der jüngsten weiblichen Neuerwerbung Igor Zelenskys, getanzt – steht für die unermüdliche Sanftmut der Frauen, wie sie seit Jahrtausenden die Welt am Laufen hält. Doch auch sie hat Probleme, das zu bekommen, was sie haben will. Laurretta Summerscales verkörpert hinreißend das mädchenhaft-aufstrebende Flair der Kitty.
Da kann Kostja Lewin, getanzt von dem jung-brillanten Jonah Cook, nur froh sein, sie nach einigen Körben von sich zu überzeugen. Zumal er und Summerscales fraglos ein sehr schönes Paar abgeben!
Eine rundum positive Grundstimmung gibt es allerdings auch hier mitnichten. Spuck verdichtet die latente Depression, die über Tolstois Werk wabert, zu einer unterschwellig ständig bedrohlichen Atmosphäre.
Die Gruppenszenen sind so aufgeladen mit Spannung und Intensität, dass sie auf eine Art mitreißen, wie es sonst im Kino traditionellerweise der Fall ist. Tolstoi goes Hitchcock!
Fröhlichkeit ginge jedenfalls anders – Spucks Konzept sieht große Dramatik vor, nicht abwechslungsreiche Stimmungsbilder.
Dazu passt die Musikwahl, die vornehmlich Werke von Sergej Rachmaninow betrifft. Die gefälligen, oftmals pathetischen Klangcluster des spätromantischen Russen werden ergänzt von eindringlichen disharmonischen Musikstücken, etwa des polnischen Komponisten Witold Lutoslawski.
Robertas Servenikas dirigiert die ohrenschmeichlerischen wie die alarmierenden Tonstücke mit Einfühlung und exaktem Takt.
Die Musik ist hier aber auch doppelt wichtig: Denn statt folkloristischer Ausstattungsdetails auf der Bühne gibt es russisches Flair vor allem in der Akustik.
So mit den als „volksnah“ empfundenen Liedern von Rachmaninow, die live auf der Bühne präsentiert werden.
Dieser sinnliche Frauengesang von Alyona Abramowa hat aber auch eine dramaturgische Funktion: Wenn Anna etwa aus ihrer Liebeswelt, die sie mit Wronski lebt, zurück ins Haus ihres Ex-Mannes kehrt, um ihren Sohn zu sehen, so wird sie dort erst mit einem Pas de deux von ihrem Ex angewärmt, um dann harsch zu Boden gestoßen zu werden. Einsam und verstoßen liegt sie da, im schwarzen Kleid, eine Witwe jedweder Lebensfreude, scheint es. Und da setzt der Gesang ein, als Ausdruck von Annas gequälter Seele, aber auch als Trost und Durchhalteparole.
An anderer Stelle übernimmt Abramowa szenische Eingriffe, etwa reicht sie Anna Karenina Opium, um den seelischen Schmerz zu narkotisieren. Vor allem aber lebt die Szene vom Beziehungsgeflecht um Anna.
Erik Murzagaliyev tanzt den moralinsauren, eher herzlosen als anständigen Gatten Karenin mit aller gebotenen Kühle und dennoch großer Dramatik. Endlich geht er darstellerisch mal aus sich heraus! Die Partie liegt ihm – und er ist dennoch in seinem gekränkten Stolz zu verstehen, dieser kalte Mann, dem die Ehefrau einfach davon lief.
Und dann gibt es diesen einen Pas de trois, der sich vom Sofa aus entwickelt, auf dem Anna sich von der Geburt ihres Kindes, das sie mit Wronski zeugte, ausruht.
Hier spielt das Möbelstück als Zitat der feudalen Behaglichkeit im vorrevolutionären Russland eine Rolle, aber auch als Symbol für die immer stärker aufkeimende erotische Kraft der Frau an sich.
Anna Karenina wird hier von ihrem Sofa aus von Mann zu Mann gereicht, kopfüber und mit gespreizten Beinen, und die Männer schleifen sie in ihrem Spagat über die Bühne – das Patriarchat eignet sie sich solchermaßen immer wieder erneut an, indem es ihr keine Chance auf Autonomie lässt.
Sie muss das Besitztum eines Mannes sein: entweder das des ehemaligen Angetrauten oder das dessen, mit dem sie in wilder Ehe leben wird. Freiheit und Selbstbestimmtheit oder auch die Möglichkeit, in so genannte Patchwork-Verhältnisse auszuweichen, gab es im 19. Jahrhundert nicht.
Das ist der wunde Punkt dieser Inszenierung: Sie historisiert, aber sie lässt keinen Ausweg, der in die Gegenwart führen könnte. Keine Träumerei, keine Utopie, kein Alp. Nichts, das über Tolstoi hinaus führen könnte.
Als dessen Roman „Anna Karenina“, insgesamt über 1000 Seiten stark, aber von minderer stilistischer Qualität, in vielen einzelnen Fortsetzungen in einer russischen Zeitung erschien (von 1873 bis 1878), galt die Sexualität der Frau noch allgemein als schuld- und schambehaftet. Man kann sagen, dass jede männliche sexuelle Perversion den Frauen als ihren vermeintlichen Hervorruferinnen angelastet wurde; und es schien den fest im patriarchalen Sattel sitzenden Männern tatsächlich so, als hätten sie ohne die Mütter und Frauen keine Gelüste.
Von dort aus über „Anna Karenina“ und ihren immerhin auch die gesellschaftlichen Verhältnisse anprangernden Suizid bis zum heutigen Freiheitsbegriff des weiblichen Individuums war und ist es ein weiter Weg. Die beiden männlichen Dramaturgen Claus Spahn und Michael Küster (Spahn ist ein hoch renommierter Feuilleton-Autor) zeichnen im von ihnen entworfenen Libretto das Sittenbild der zaristischen Gesellschaft – und halten sich penibel, vielleicht sogar zu penibel, an Tolstois Botschaft.
Die weibliche Perspektive auf diese Geschichte hat aber dringend Bedarf nach einer Abgleichung mit unserer Gegenwart. Das Theater bietet hierfür viele Möglichkeiten, und soviel Fantasie muss eigentlich sein, wenn man einen historischen Stoff vertanzt.
Allzu viele gesellschaftliche Fakten stemmen sich auch heute wieder und wieder gegen die Gleichstellung der Frauen. Der Kampf um Gleichberechtigung scheint nie zu enden – und man muss sogar hoffen, dass er anhält und nicht im scheinbequemen Versorgungssystem privater Partnerschaften erschlafft.
Für Christian Spucks Anna ist es jedenfalls frühzeitig zu spät, eine eigene neue Lebenslinie zu entwerfen und zu verfolgen. Ein Leben ohne Abhängigkeit von einem Mann scheint undenkbar. Aber ihre Sorgen kann auch der neue Partner dem Grunde nach nicht beheben.
Sie ist verstrickt und befangen in Schicksalhaftigkeit und Depression – und der steten Angst vor Ablehnung, denn alles, was sie zu bieten hat, ist ihr Wert als (sexuelle) Lebenspartnerin. Kein Beruf, keine besondere Befähigung, kein Engagement für andere bringen ihr Selbstwertgefühl ein. Sie erlebt das Trauma der Hausfrau in besonders beschämender Weise.
Dass die feine Gesellschaft sie nach ihrer Trennung von Karenin ausgrenzt, macht ihr schwer zu schaffen: In einer Ballszene, die Spuck mit fast militärischem Drive inszeniert, tobt das Leben mit nachgerade apokalyptischer Power. Bis auf einen Schlag die ganze Szenerie verstummt und sich auflöst.
Anna bleibt allein zurück – und dieses plötzliche Am-Abgrund-Stehen ist es, was sie als Leitmotiv begleitet und was von ihrem Leben übrig bleibt.
Bei Tolstoi gibt es das Leitmotiv der ewigen Flamme, die Annas Lebenskraft symbolisiert – und die kurz vor ihrem Tod erlischt. Bei Spuck ist es umgekehrt: Nicht die Lebenskraft, sondern das Schwinden des Lebenswillens begleitet die leidenschaftlich Liebende durch ihre letzte Zeit.
Das Opium, das sie zur Betäubung aus einem Fläschchen nippt, wirkt sich derweil auch in Wahnvorstellungen aus. Anna Karenina zerstört sich selbst. Diese Schuldzuweisung ist in dieser Version des Stoffs nicht wegzuschminken – mag man die fürs Menschliche taube Gesellschaft noch so anklagen.
Am Ende tanzt Ksenia Ryzhkova ein herzzerreißendes Solo in diesem Sinn, während hinter ihr – ohne Geräusche – ein Film mit dem letzten Zug für Anna Karenina aufflimmert… und sie bricht zusammen.
Der Tod als Selbstverständlichkeit. Wie grausam schön.
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“