Hui! Da fliegen die Schneeflocken vorbei, tänzelnd und strahlend weiß, und ihre Königin, hervorragend getanzt von Alice Mariani, ist fast so etwas wie Myrtha, die Königin der Wilis im Ballett „Giselle“: Kühl, stark, streng, dominant – und doch bildschön und sogar rührend in ihrer eisigen Spitzenposition. Ihre Piqués sind gestochen scharf, ihre Arabesken von ergreifender Klarheit: In diesem „Nussknacker“, den Aaron S. Watkin und Jason Beechey fürs Semperoper Ballett in Dresden schufen, treffen sich viele Aspekte des klassischen und romantischen Balletts. Dass es auch deutliche Anspielungen an die Stückversion von John Neumeier gibt (die zuvor im Repertoire der Dresdner Truppe getanzt wurde), macht die Aufführung umso spannender.
Zu Beginn lauschen wir bei geschlossenem Vorhang ganz konzentriert der munter-dramatischen Musik von Peter I. Tschaikowsky. Die Sächsische Staatskapelle Dresden tiriliert unter der Leitung von David Coleman betont leicht und flüssig – einschmeichelnd intoniert die Oboe ihre Melodie, während die Streicher in den höchsten Tönen zirpen und jubilieren. Diese Stimmung setzt sich fort, als der Vorhang den Blick auf Striezelmarkt-Buden auf der Bühne frei gibt – das Weihnachtsmarkt-Gewusel, für das Dresden weltberühmt ist, wurde hier passenderweise zur Kulisse für den „Nussknacker“.
Der Herr im schwarzen Cape mit dem schicken, seidenglänzenden Zylinder auf dem Kopf ist der Herr Drosselmeier: keck und mit der passenden Prise Eigensinn getanzt von Casey Ouzounis.
Er kauft noch rasch an einer Bude einen Nussknacker und eine Mäuse-Puppe mit Krönchen – schließlich ist es Heiligabend und die Bescherung bei Familie Stahlbaum steht an. Doktor Stahlbaum heißt die Familie nach ihrem Oberhaupt, um genau zu sein: Das gehobene Bürgertum trägt hier nämlich einen akademischen Titel. Im Original des „Nussknackers“ aus dem 19. Jahrhundert ist Vater Stahlbaum von Beruf und Position ein Medizinalrat. Einer, der sich mit Krankheiten auskennt (relativ zu seinen Zeitgenossen).
Die Kids des Hauses, Marie (Charlotte Busch), Fritz (Onno Willner) und Luise (Tabea Zoe Pohle) freuen sich jedenfalls schon sehr auf den Tannenbaum…
Zentral im Bühnenhintergrund glänzt er denn auch mit seinem Weihnachtsstern als Krone, vermutlich ein Original vom Striezelmarkt.
Und: Es handelt sich um ein Gemeinschaftsweihnachten, nicht um ein reines Familienfest. Viele erwachsene Paare und deren Kinder wurden eingeladen, kamen, um zu toben und zu tanzen – die kleinen Jungs mit Trompeten, die Mädels mit Puppen im Arm.
Im 19. Jahrhundert galten ja noch die alten Rollenklischees, ungebrochen. Vielleicht hätte man sich gerade deshalb über ein Mädchen mit Trompete auf der heutigen Bühne ganz besonders gefreut. Schließlich sitzen im Publikum auch junge und ältere Mädchen, die eine Aufmunterung, sich emanzipiert zu verhalten, immer gut brauchen können.
Gemeinsam verbreiten die Feiernden auf der Bühne aber genau jenes aufgeregte, pantomimenselige Flair, das man bei Balletten dieses Zuschnitts im ersten Akt sehen möchte. Die Kostüm- und Bühnenbildnerin Roberta Guidi di Bagno fand einprägsame schöne Farben für die Kleider: Dunkelrot und Schwarz für die Herren, Apricot, Lachs, Hellgrün für die Damen – und Himmelblau für die kindliche Heldin.
Die Standuhr links trägt eine massive Holzeule auf ihrem Sims, die hohen Fenster rechts sind nach Art einer Orangerie als Rundbögen eingebaut, und sie zeigen viel nächtliches Winterblau von draußen. Und hinter dem Weihnachtsbaum ist eine runde Fensternische sogar so ausgebaut, dass sie – in optischer Täuschung – an einen Globus erinnert. Voilà: Die Welt ist ein Kinderspiel! Wenigstens an Weihnachten…
Besonders feine Geschenke sind die tanzenden, lebensechten Puppen, die Meister Drosselmeier aus mannshohen Verpackungen aufmarschieren lässt. Wer häufig ins Ballett geht, erkennt auch die Herkunft der Kostüme des Pärchens, das mit Uliana Veginy (die auch schon sehr schön die kindliche Marie tanzte) und Lorenzo Topino äußerst graziös als Zuckerfee mit Gemahl im Miniatur-Format auftanzt:
Sie ähneln zum Verwechseln denen, die die Primaballerina Louise und ihr Freund Fritz in John Neumeiers Version vom „Nussknacker“ bei ihrem Grand Pas de deux tragen. Sie sind in Bordeauxrot und Weiß gehalten, mit auffallender, goldfarbener Verzierung. Ein wirklich edles Outfit!
Da das Semperoper Ballett die detailreiche, psychologisch durchwirkte Neumeier-Fassung dieses Balletts (siehe Hamburg Ballett) einige Jahre im Repertoire hatte, bevor im November 2011 die Watkin-Beechey-Version uraufgeführt wurde, ist die Anspielung als Zitat und Hommage zu verstehen. Schließlich können sich so Besucher, die Neumeiers Inszenierung noch im Gedächtnis haben, an etwas erinnern und nun anknüpfen.
Auch die Namensgebung der Heldin in Dresden pflichtet Neumeier bei: Wie bei ihm heißt das Mädchen hier Marie, wie übrigens auch im Prosastück „Nussknacker und Mäusekönig“ von E.T.A. Hoffmann, das dem Ballettlibretto zugrunde liegt. Im russischen Original, das 1892 in Sankt Petersburg uraufgeführt wurde, heißt das Mädchen Mascha, was die russische Koseform von „Maria“ ist. Aber in den meisten deutschen oder eingedeutschten Versionen des Balletts wird die Heldin Klara oder Clara genannt – was auf die Tochter eines Freundes von E.T.A. Hoffmann gleichen Namens zurückgeht.
In der Dresdner Version aber erlebt Marie, die nachts nicht schlafen kann, eine gespenstische Szene, als sie allein im Nachthemd mit einer Kerze im Wohnzimmer herum geistert: Der Nussknacker und der Mäusekönig, die Drosselmeier auf dem Striezelmarkt gekauft und den Kindern geschenkt hatte, sind lebendig geworden und liefern sich nun nebst Armeen aus Soldaten und Mäusen eine heiße Schlacht. Da der schmuck uniformierte Nussknacker sowieso ihr Schwarm ist, greift Marie ein: Sie lenkt den Mäusekönig ab – und der Nussknacker kann ihn mit seinem Säbel abstechen. Ach, man hat richtig Mitleid mit den Mäusen, die von den Soldaten, die dann auch noch als Kavallerie mit Pferde-Attrappen herumhopsen, niedergemetzelt werden.
Aber Marie hat ihre Entscheidung getroffen, für sie sind die Mäuse böse. Rauben sie etwa nicht den Käse aus der Küche und die Nüsse aus der Schale? Außerdem übertragen sie auch noch Krankheiten (nicht die kleinen Feldmäuse tun das, sondern die großen Hausmäuse, die Ratten ähneln und hier zweifelsohne im Stück gemeint sind). Als Tochter eines Medizinalrats weiß Marie das ganz genau.
Da sind schick aufgezäumte Nussknacker doch sehr viel nützlicher, hilfreicher als Mäuse – ach, und so viel ansehnlicher!
Man muss berücksichtigen, dass wir uns mit dieser Geschichte in den harten Zeiten des 19. Jahrhunderts befinden: Nahrungsmittel waren generell knapp, und Nüsse waren sogar eine kleine Kostbarkeit. Da sie nahrhaft und vitaminreich sind, lecker schmecken und lange auf Vorrat zu halten sind, konnten sie einem kindlichen Organismus helfen, den Winter besser zu überstehen. Marie handelt also keineswegs irrational oder fremdenfeindlich, wenn ihr die Mäuse unheimlich und eklig sind.
Die Mäusehorden, die E.T.A. Hoffmann in seiner Erzählung beschreibt (und das ist im sehr empfehlenswerten Programmheft nachzulesen), lassen zudem auf wahre Mäuseplagen in den Häusern schließen. Unter den Tischen tanzten sie und vermehrten sich in ihren Verstecken so schnell, dass man ihrer auch mit Fallen kaum ausreichend habhaft werden konnte.
Auch heute will wohl niemand mit diversen Mäusefamilien seine Küche teilen. Es gibt Gründe, sie aus den Häusern zu verbannen (nicht aus dem Park oder Garten, wo sie nützlich sind, unter anderem als Beute für Jagdvögel).
Es gab übrigens – dieser Exkurs sei erlaubt – auch gute Gründe, sich gegen ein Zusammenleben mit Wölfen in der freien Natur zu entscheiden. Dass heute wieder Wölfe angesiedelt werden, hat denn auch einen ganz anderen als rein naturschützerischen Hintergrund: Die Sicherheitsbehörden wollen so auf lange Sicht vermeiden, dass Obdachlose und andere Abenteurer ihre wilden Wandercamps in den Wäldern errichten.
Stadtparks werden zeitweise ja schon zu illegalen Übernachtungsstätten umfunktioniert. Da die Wohnungsnot wegen der Überbevölkerung in den großen Städten steigt, wird der Naturraum für robuste Menschen mit Zelt, Wasserkocher und Gasflasche immer verlockender.
Unsere Vorfahren haben schließlich auch ohne Zentralheizung überlebt, und manche unserer Zeitgenossen sind körperlich fit genug, sich das auch zuzutrauen. Vor allem, wenn man ein Auto besitzt und damit in Laufnähe dauerparken kann. Ob ausgerechnet Wölfe das verhindern werden? Auf Baumhäuser können sie nicht klettern, und solche Konstrukte wären für Waldmigranten wohl ohnehin die erste Wahl.
Aber da täglich Wald und Wiesen in großem Ausmaß auch in Deutschland abgeholzt und planiert werden, um Straßen und Gebäude zu errichten, werden die wenigen verbleibenden, auch immer kleiner werdenden Naturflächen früher oder später wohl ohnehin vom Menschen besiedelt. Mit und ohne Wolf.
Im „Nussknacker“ gibt es nun keine Wölfe und auch keine Menschen, die sich wolfsähnlich verhalten, sondern – nach dem Tod des Mäusekönigs – nur noch Träumerei mit Edelschmelz.
Und als Drosselmeier zu Marie ins Zimmer kommt, kann er sie leicht beruhigen, sie habe nur einen Alptraum gehabt – er entführt sie auf ihrem roten Sofa in ein Reich wundersam-sanfter Vorstellungen…
Darin ist der Nussknacker kein Maskenträger mehr, sondern ein bildhübscher Prinz. Mit Houston Thomas hat er aber auch wirklich Poesie im Leib! Der dunkelhäutige Amerikaner, der in Dresden an der Palucca Hochschule für Tanz sowie an der School of American Ballet beim New York City Ballet ausgebildet wurde, weiß, wie man mit wenigen Schritten und Gesten das Herz des Publikums erobert. Uneitel, dennoch elegant, mit Sehnsucht im Blick und langsamen, wie gegen Widerstand ausgeübten Bewegungen fordert er die im Traum flugs erwachsen gewordene Marie zum Tanz auf…
Ihr Nachthemd ähnelt nun einem Festkleid aus der Napoleons-Ära – darin lässt es sich hervorragend Spagatsprünge vollführen.
Natsuki Yamada verkörpert diese Marie mit Grazie und Souveränität. Sie ist erst seit 2016 als Tänzerin engagiert, beim Semperoper Ballett im Corps – sie ist Japanerin, wurde aber auch in China und bei Palucca in Dresden ausgebildet. An ihrer Ausstrahlung muss sie zwar noch arbeiten, aber ihre technische Befähigung scheint sehr viel versprechend.
Gemeinsam ergeben Houston Thomas und Natsuki Yamada ein wunderschönes junges Paar, das für Internationalität ebenso steht wie für Nachwuchs in der großartigen Kunst des klassischen Tanzes.
Saubere Hebungen, rasante Pirouetten, softe Landungen: Vor allem Houston Thomas, der Lyrik und Pathos gleichermaßen beherrscht, macht Hoffnung für die Zukunft! Er liefert exakte Cabrioles, eine schöne Armarbeit, schnurgerade Tours en l’air – und immer ein herzliches, niemals aufgesetzt wirkendes Lächeln. Er stemmt seine Dame auch nicht, sondern partnert sie mit Gefühl und hebt sie scheins ohne Mühe ganz leicht empor – was für ein Kavalier und Gentleman!
Auch beim Tanzen mit den Schneeflocken und der Schneekönigin im Zauberwald bewährt es sich, dass das Semperoper Ballett im Trainingssaal die Klassik pflegt.
Und einer Dame wünscht man unbedingt, dass sie bald Erste Solistin wird: Alice Mariani, aus Italien stammend und an der Scala in Mailand ausgebildet, ist seit 2017 Solistin in Dresden. Seit 2011 ist sie Mitglied beim Semperoper Ballett. Und sie hat sich entwickelt in dieser Zeit, aber wie! Hier setzt sie als Schneekönigin neue Maßstäbe – und die Highlights mit ihrem knackig-dramatischen Stil; sie tanzt leichtfüßig und expressiv zugleich, und die Akkuratesse, Balance und Liniensicherheit ihrer Bewegungen macht jeden Augenblick ihres Tanzes zu einer großen, rührenden Freude. Dankeschön!
Und da wir gerade bei den Highlights sind: Ebenfalls absolut ehrenvoll in Schönheit und Präsenz sind etwas später prominente Erste Solisten auf der Bühne: Svetlana Gileva und Denis Veginy als Zuckerfee und Gemahl. Zu diesem illustren Pärchen reist Marie nämlich mit ihrem Wundersofa, und der Prinz – ach, ja – ist auch noch der Sohn des Herrscherpaares im Land der Süßigkeiten.
Die Zuckerfee kommt da auf einer blütenumrankten Schaukel aus dem Schnürboden herunter. Wie majestätisch!
Ihr Gemahl (der das auch im realen Leben ist) hilft ihr herab und aus ihrem Mantel – und schon wenn die beiden sich ansehen und ballettös grüßen, geht die Post auf der Bühne ab. Welch ein Liebespaar!
Die Zuckerfee ist so etwas wie eine Venus: eine erwachsene Frau, die ausschließlich Lieblichkeit und Sinnlichkeit verkörpert. Ihr Gemahl weiß das zu schätzen und ehrt sie mit gebührender Gestik.
Es ist eine entzückende Erwachsenen-Liebe, die von den beiden ausgeht – ein hübscher Gegensatz zur frisch verliebten Jugendliebe, die den Prinzen und Marie verbindet. Und so schön die übersprudelnden Gefühle der jungen Leute auch sind: Diese noble, gefestigte Liebe der Zuckerfee und ihren Gatten ist ganz besonders schwer zu erreichen, ganz besonders werthaltig und umso beglückender auch für Außenstehende, als sie eine menschliche Wärme abstrahlt wie eine Sonne.
Der Grand Pas de deux, den die beiden dann in den schon bei den Zuckerfee-Puppen im ersten Teil zu bewundernden bordeauxroten Kostümen tanzen, atmet all die disziplinierte, aber freundliche und sogar lustvolle Erhabenheit, die die Ballettfans weltweit so sehr lieben.
Am ergreifendsten: Das Adagio der beiden, das sie als Erstes hier gemeinsam tanzen. Es ist nicht wirklich langsam, sondern hat ein lebhaftes Tempo. Aber der Ausdruck ist etwas getragen und besonders stilvoll: Hier zelebriert das Paar seine Liebe als Form der Repräsentanz und der Wir-Autonomie (im Gegensatz zur Ich-Autonomie in den anschließenden Soli).
Virtuosität und scheinbar schlichte Schönheit die doch so schwer herzustellen ist, sind hier Trumpf! Entsprechend müssen die Posen stimmen und die tänzerischen Tempi absolut sitzen. So wie hier. Svetlana Gilova nimmt auf den Punkt genau ihre Arabesken ein, schmiegt sich nach dem Piqué mit gespanntem, makellosen Körper an ihren Ehemann, und er wiederum wirbelt und dreht sie sicher und sanft zugleich um die eigene Achse.
Ach, und die Hebungen! Man glaubt der Zuckerfee ihr schönes Lächeln da oben! Wenn sie dann ganz am Ende dieser Szene dem jungen Pärchen zum Abschied winkt, dann ist es, als würde die Königin aller Märchen überhaupt der Liebe alles Gute wünschen.
Diese Erhabenheit findet man so nur noch in der Originalchoreografie der weißen Akte vom „Schwanensee“.
Lew Iwanow hat dieses Grand Pas de deux der Zuckerfee denn auch so choreografiert, dass er als Choreograf in Abgrenzung zu Marius Petipa erkennbar blieb.
Petipa war mit über hundert von ihm kreierten Balletten das Genie am Mariinsky Theater in Sankt Petersburg. Von ihm stammt auch das Libretto zum „Nussknacker“. Die Anregung dazu kam allerdings von Modest Tschaikowsky, dem Bruder des Komponisten Peter I. Tschaikowsky. Letzterer brachte Petipa dann auf die Idee zum „Nussknacker“-Ballett.
Akribisch bis zur Pedanterie ließ sich Petipa von dem teilweise stark schwermütigen Komponisten szenen- und tanzgerecht das Ballett schreiben. Aber als es ans Choreografieren des „Nussknackers“ ging, erkrankte Petipa – und sein Assistent Lew Iwanow musste nach seinen Aufzeichnungen und Anweisungen im Ballettsaal die Proben leiten.
Die meisten Passagen der Originalchoreografie tragen erkennbar den Stempel von Petipa. Aber der Grand Pas de deux vor dem Finale – und das ist auch für Laien zu erkennen – hat einen weniger verspielten, dafür stark der Grandezza verpflichteten Impetus. Er hat, wenn man so will, auch einen anderen inneren Rhythmus. Er erinnert an die weißen Akte von „Schwanensee“ – und auch die wurden von Lew Iwanow in Vertretung von Marius Petipa choreografiert.
Ursprünglich war die zauberhafte Zuckerfee aber gar nicht verheiratet!
Bei der Uraufführung und in vielen anschließenden Versionen hat sie statt Gatte einen Kavalier, mit dem sie tanzt. Insofern ist sie eine Seelenverwandte der Fliederfee in Petipas „Dornröschen“. Aber das ist eine andere (Tschaikowsky-)Geschichte…
Noch andere „Nussknacker“-Versionen lassen Marie selbst in ihrem Traum als Zuckerfee auftreten – und den Grand Pas de deux mit ihrem Nussknacker-Prinzen tanzen.
Bei John Neumeier ist es noch anders: Hier tanzt Louise, die ältere Schwester von Marie, mit ihrem Verlobten Günther den Grand Pas de deux, und zwar im Theater, das Marie dort mit Ballettmeister (!) Drosselmeier backstage besucht. Den etwas ungezogenen Bengel Fritz gibt es bei Neumeier aber auch. Realhistorisch gab es übrigens auch eine Luise und einen Fritz, nämlich als Geschwister von Klara: Sie inspirierten, als Kinder seines Freundes Hitzig, den Dichter und Komponisten E.T.A. Hoffmann zu seiner Erzählung.
Das Land der Süßigkeiten – in manchen Ballett-Versionen „Konfitürenburg“ genannt – hat in manchen Fassungen Zuckerstangen und Brezeln, die aus dem Schnürboden hängen. In Dresden gibt es appetitliche Puddings und Törtchen auf den Dachzinnen – und ansonsten eine weltoffene, tanzeifrige, lebenslustige Bevölkerung.
Da walzern nicht nur die Blumen im Blumenwalzer und die Rohrflöten als zartes Jungmädchen-Corps, sondern auch die Gäste aus aller Welt dürfen zeigen, was sie können.
Der spanischen Folklore folgt der orientale Erotik-Tanz.
Dann kommen die Chinesen mit einem lustigen Trio dran, schließlich die drei Kosaken, die hier tänzerisch von kumpelhafter Männerfreundschaft und aktivem Tatendrang im russischen Stil berichten.
Wow! Was für ein mitreißender Höhepunkt sind diese drei! Michael Tucker, Joseph Hernandez und Skyler Maxey-Wert beweisen mit ihrer Kraft und ihrem Mut, wie unsterblich schön und temperamentvoll der russische Tanz ist.
Die fünf Mirlitons, die Rohrflöten – von ganz entzückenden Damen verkörpert – sind aber auch nicht ohne. Lyrisch-geschmackvoll wiegen sie sich in Tschaikowskys Seelenmusik.
Die etwas gröbere Karikatur einer Übermutter gibt dann noch die Mutter Gigogne mit ihren Polichinelles ab. Die letzteren sind kleine clownsartige Kinder, die unter dem barocken, riesigen Reifrock der Madame hervorhüpfen. Natürlich hat diese Madame mit Puderquaste und Hochperücke den Charme einer stark geschminkten Travestie – und die kleinen Racker haben den von Kindergartengören. Aber als dann einer der Sprösslinge nicht wieder zurück unter den Reifrock will, sondern statt dessen gekonnt ein paar Räder schlägt, ist das allemal ein paar Lacher wert.
Dennoch weist der Programmzettel einen peinlichen Fehler auf, wenn er die Polichinelles doppelt aufführt. Auf so etwas würde man gern verzichten.
Dass die Kinder hier von der Palucca Hochschule für Tanz kommen, ist hingegen eine wichtige Information, zumal Jason Beechey, Co-Autor dieser „Nussknacker“-Version, dort der Rektor, also der pädagogische Leiter, ist.
Kinder, Jugendliche, Erwachsene – die Bühne vereint die Generationen und lässt sie ohne Missverständnisse miteinander feiern.
Nach einem rauschhaften Finale im Land der Süßigkeiten erwacht Marie dann auf ihrem roten Sofa, sie ist wieder ein Kind und hält den Nussknacker aus Holz in ihrem Arm. Aber ihre Frau Mama findet die Krone des toten Mäusekönigs, eine Trophäe aus dem Reich der kindlichen Fantasie, die nunmehr nicht mehr wegzudiskutieren ist…
Ach! Was wäre die Welt nur ohne solche Spiele? Nichts!
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“