Kaum tanzt Superstar Olga Smirnova als Gast beim Hamburg Ballett die „Anna Karenina“ von John Neumeier, rastet das Weltall vor Begeisterung aus. Der Zufall zeigt sich hier von seiner skurrilen Seite, und in der gestrigen Freitagnacht schmückten bunte Nordlichter vielerorts das Himmelszelt. Denn: Die Sonne höchstselbst produziert derzeit so viele Explosionen auf ihrer feurigen Oberfläche, dass etliche magnetische Teilchen in Richtung Erdball geschleudert werden. Höchste Sonnenaktivität sei das, vermeldet die Forschung. Die geladenen Teilchen dringen dann an den beiden Polen, also über der Arktis und Antarktis, wo das uns beschützende Magnetfeld der Erde stets durchlässig ist, weiter vor. Von dort aus wirbelt ohnehin stetig ein so genannter Sonnenwind über uns herein, der sich jetzt – aus unbekanntem Grund – exzessiv zum Sonnensturm gesteigert hat. Dieser kann technische Verbindungen, etwa Strom und Telefon, vor allem aber das Wirken von auch kriegswichtigen Satelliten und GPS, massiv stören. Es ist ein Sturm aus Sonnenflitter, der sich vom Lichtplaneten gelöst hat und der unter der magnetischen Schutzhülle relativ nah an die Erde heran gespült wird. Die Sonne agiert also als Sturmmacher auf Tournee, mit zahlreichen, als Nebeneffekte entstehenden pinkgrünen oder blaugelben Nordlichtern auch über Deutschland. Angesichts von „Anna Karenina“, des aufregendsten Liebesballett-Librettos, das die Ballettwelt bisher im 21. Jahrhundert hervorgebracht hat, erhebt sich nun scherzhaft die Frage: Ist etwa der Schamane des Balletts John Neumeier mit seinen wilden, erotomanen und auch eruptiven Tänzen in „Anna Karenina“ am elektromagnetischen Sturm im Weltraum schuld?
Zumindest sprühen heftig die Funken, wenn Olga Smirnova als Anna und Jacopo Bellussi als Graf Wronski auf der Bühne der Hamburgischen Staatsoper rückhaltlos miteinander flirten und das Model und der Sportsmann sich spielerisch immer tiefer ineinander verlieben.
Smirnova tanzt die Karenina als an der eigenen gedanklichen Leere leidendes ehemaliges Mannequin. Ihr Liebhaber reüssiert als supergut aussehender Profi-Sportler mit Lacrosse – und das Outfit der langen Shorts steht Jacopo Bellussi besonders gut.
Annas Gatte Karenin, in der jüngsten Besetzung von Christopher Evans mit smartem Engagement getanzt, geht als Politiker ganz in seinem Beruf auf. Seine zarten Neigungen zu seiner Assistentin Lydia – von Xue Lin mit köstlich zwischen Sachlichkeit und Lieblichkeit schwankendem Bürocharme verkörpert – entwickeln sich und machen sie schließlich zu seiner auch privaten Partnerin, zumal sie ihm einen befriedigenden Weg in die Religion offeriert.
Aber Anna Karenina bleibt zunächst nur ein diffuses Gefühl mit schlechtem Nachgeschmack von ihrer langsam von innen her zerbröselnden Ehe, auch noch gepaart mit der berufsbedingten Angst vor dem Verlust der Jugend.
Anna Karenina – und das ist in dieser Besetzung mit Olga Smirnova deutlicher als in jeder anderen – ist eine bemitleidenswerte, nicht allzu starke Frau, die sich vom Hauch des Schicksals erst verführen und dann glattweg umwerfen lässt.
Erst ist ihre Liebe zu Wronski ein Segen für die innerlich schon angeknackste, im Grunde bereits zerstörte Anna. Doch dann treibt der schöne Mann sie mit seiner Unachtsamkeit in den Tod. Sie sieht sich allein mit ihrem Wunsch nach größtmöglicher Verschmelzung zweier Seelen und auch Körper.
Es gibt bei dieser Liebe aber für Anna Karenina keinen Ausweg mehr. Leben oder Sterben – sie hat keine gefühlte Wahlfreiheit.
So gibt es Pas de deux in diesem Stück, die illustrieren den ganzen Liebeswahn einer Amour fouzur elegant-sehnsuchtsvollen Musik von Peter I. Tschaikowsky und Alfred Schnittke. Und Nathan Brock dirigiert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg sensibel und doch mit Verve. Kein Wunder, dass die Sonne da glatt durchdreht – vermutlich hat sie kein Ticket mehr bekommen.
John Neumeier hat die Handlung bekanntlich in unsere Gegenwart verlegt bzw. in die des Jahres 2017, als er das großartige Stück nach dem gleichnamigen Roman von Leo Tolstoi praktisch zeitgleich auf die Ballettbühnen von Hamburg, Moskau und Toronto holte.
Als internationale Koproduktion zwischen einem deutschen, russischen und kanadischen Opernhaus ist Neumeiers „Anna Karenina“ von Beginn an als großes Panoptikum der globalen Schickeria angelegt.
Ganze Familien erleben hier ihre obskuren Verwandlungen. Die sind mal heilsam, mal zerstörerisch.
An keiner anderen Figur – außer an Anna selbst – wird das so deutlich wie an der jungen Kitty, die von Emilie Mazon kreiert und von ihr auch in den anderen Besetzungen vorzüglich dargestellt wird. Zu Beginn des Stücks ist sie mit Graf Wronski verlobt, auch sehr in ihn verliebt, obwohl dieses Gefühl von ihm kaum erwidert wird. Als er sich begeistert Anna zuwendet, läuft Kitty ihm gefühlt noch ganz schön hinterher.
Als sie einsehen muss, dass sie auf sich selbst zurückgeworfen ist, verkraftet sie das nicht. Ihr Nervenzusammenbruch ist als aufregend-flippiges Solo bei Mondschein illustriert. Videoprojektionen und bunte Schatten verdeutlichen den Eindruck. Aber ihr Unglück ist die große Chance für Lewin, der sie als seine künftige Gattin auserkoren hat: Der Landbesitzer und sozusagen „Bio-Bauer“ fängt sie auf, gibt ihr psychisch und erotisch Halt.
Kitty verändert sich: vom melancholischen Allerweltsmädel aus der höheren Gesellschaft zur strunzvergnügten Landwirtin, die stolz auf dem Traktor fährt und bald auch mit dem Baby im Arm des Erzeugers eine moderne Ehe führt.
Emilie Mazon hat diese Entwicklungen seit 2017 stets meisterhaft gezeigt. Greta Jörgens tanzt die Partie der Kitty auch schon seit 2019 – und illustriert den Weg von der kleinen Schlampe zur zünftigen Gutsherrin mit viel Feinheit und Grazie. Man könnte sich aber, gerade weil hier so viel Spielraum in der Veränderung der Person ist, auch Charlotte Larzelere oder Ida Stempelmann als Kitty vorstellen.
Aleix Martínez als Lewin ist über jeden Tadel erhaben. Er zeigt seine Figur als bodenständig und dennoch visionär – Lewin ist ein Mann der Tat und der Hilfe, jemand, der konstruktiv und altruistisch denkt. Das mit starken, schönen Linien im Tanz zu zeigen, gelingt Martínez einfach hervorragend.
Es ist kennzeichnend für dieses Stück, dass es nicht nur aus dem Drama der Hauptperson besteht. Aber natürlich ist sie dennoch von besonderer Wichtigkeit. Und mit ihr ihre Besetzung.
Olga Smirnova hat in Russland und auch schon bei Gastpielen in Hamburg die Titelrolle mit Artem Ovcharenko getanzt. Jetzt ist sie aus Amsterdam angeflogen, um mit Jacopo Bellussi vom Hamburg Ballett das über alle Maße erotisch affizierte Liebespaar darzustellen.
Man muss aus Gerechtigkeit einräumen, dass Anna Laudere in dieser Partie nicht von ihr übertroffen wird.
Laudere mit ihrer lasziven Munterkeit, dennoch auch manchmal herben Art, mit ihren schönen starken wohlgeformten Beinen, ihren zarten Händen, ihren für dramatische Ballettrollen optimalen Proportionen und auch ihrem hübschen, lebendigen Gesicht verkörpert nun mal par excellance die Neumeier’sche Anna Karenina.
Aber Olga Smirnova mit ihrer fabelhaften Technik, ihrem stets kontrollierten Gesichtsausdruck und ihrem hohen Grad an Konzentration auf ihr jeweiliges Gegenüber hat eine ganz eigene Form der Bühnenpräsenz.
Und Jacopo Bellussi bildet mit ihr ein glaubhaft irres Paar, das zunächst nicht mal merkt, wie stark es mit seinem Übermaß an erotischem Wollen gegen die Konventionen verstößt. Es ist zauberhaft, aber auch beängstigend, wie weit die sexuelle Gier nach einer bestimmten Person Menschen treiben kann – und im Ballett muss all das eben auch noch leichtfüßig und ästhetisch aussehen.
Nicht zuletzt der Applaus beweist, dass Smirnova und Bellussi dieses zweifelsohne meistern, als sei es eine Kleinigkeit.
Besonderen Applaus erhielt aber auch – und zwar sowohl mit Szenenapplaus als auch beim Schlussapplaus – Karen Azatyan in seiner Leibrolle als Muschik. Diese Figur zwischen Dies- und Jenseits hat John Neumeier für seine Version von „Anna Karenina“ erfunden, sie entspricht keiner Vorlage von Tolstoi.
Der Muschik ist ein Bauarbeiter, der am Bahnhof, als sich dort Anna und Wronski sich zufällig und zum ersten Mal begegnen, bei einem Unfall stirbt. In Annas Fantasie wird der Muschik, dieser Vertreter der Handwerker-Schicht, ein steter Begleiter: ein Geist, der sie bedrängt und letztlich wie ein Todesengel zu sich holt.
Und sogar Wronski wird eine Art Todesengel, als er in Annas Fantasie einen orangefarbenen, zerschlissenen Arbeiteranzug trägt, ganz wie der Muschik. Die Aspekte von Tod und Erotik vermengen sich hier, getragen von einer starken Sehnsucht nach dem Jenseits, also dem starken Wunsch, der Realität der diesseitigen Welt zu entfliehen.
Man kann, wenn man möchte, hier Sigmund Freuds These von der Todessehnsucht, vom Drang zum Tode namens Thanatos-Trieb, zitieren. Laut Freud ist dieser Todestrieb der Gegenspieler zum vitalen Eros, um Zerstörung, Aggressivität, Destruktivität zu bewirken. Anna Karenina – in der Neumeier-Version – neigt ja dazu, sich aus ihrer auf Außenwirkung ausgerichteten Welt ins gefühlte Nichts fallen zu lassen.
Zunächst fängt sie hier die Liebe zu ihrem Kind auf, später die leidenschaftliche Verliebtheit in Wronski. Dann wird die Liebe eine Lust und Qual zugleich: Vor einer intensiven Sexszene weicht Anna ihrem Liebhaber mehrfach aus, scheint sogar einige Male gehen zu wollen, bis sie doch entschlossen die Tür zur Außenwelt schließt und sich auf ein Abenteuer mit fast masochistischen Ausläufern einlässt.
Aber zunehmend drängelt sich der Muschik in ihr Leben, in ihr Erleben – und die Reise, die er mit ihr vorhat, ist nicht im Guten von dieser Welt.
Das Bühnenlicht in diesen Szenen entspricht, wie schon die Wahnsinnsszene von Dolly, wie zufällig den Nordlichtern, die derzeit nächtens über Europa aufblitzen. Offenbar sind es die Farben höchster Dramatik und von Neumeier der Natur nachempfunden – ob bewusst oder unbewusst.
Polarlichter (Nordlichter) entstehen übrigens, indem Gase in der Thermosphäre angeleuchtet werden. Die geladenen Teilchen von der aktiven Sonnenoberfläche bei einem Sonnensturm – zumeist in Form von Plasmawolken unterwegs – dringen zuvor unter die Schutzhülle des irdischen Magnetfelds ein.
Bühnenlicht hingegen leuchtet etwas unkomplizierter und dafür schön vorhersehbar. Weniger vorhersehbar ist das Triebschicksal, das Anna Karenina in ihrer nicht mehr glücklichen Ehe ereilt. Oder hätte man es ahnen müssen?
Es gibt aber noch eine Frau, die in „Anna Karenina“ ein schweres Schicksal hat. Es ist Dolly, die Schwägerin von Anna, deren Mann – Stiwa – ein ziemlicher Halunke und Schürzenjäger ist. Obwohl seine Frau das Haus voller gemeinsamer Kinder hat, lässt er nicht davon ab, zum Beispiel dem Kindermädchen nachzustellen.
Madoka Sugai ist neu als Dolly besetzt – und holt aus der Partie der unglücklichen betrogenen Hausfrau enorm viel heraus. Ungeahnt viel! All die Aufopferung, die sie für ihre Familie durchgemacht hat, verpackt sie in jede ihrer Bewegungen. Bildschön fließend, dennoch ausdrucksstark ist ihr Modus, aber das Leid dieser vom Alltagskummer durch den werten Gatten seelisch verletzten Schönheit Dolly ist gleißend deutlich. Bravo!
Als unverschämter Gatte brilliert Nicolas Gläsmann in der neuen Besetzung. Oh ja, die Unbedenklichkeit, die stürmische Triebhaftigkeit, auch die Langeweile, die er in seiner Ehe empfindet – all das zeigt Gläsmann mit viel Überzeugungskraft.
Und noch ein Debüt gibt es: Quinn Bates, Abschlussabsolvent der Ballettschule vom Hamburg Ballett John Neumeier, tanzt das erste Kind von Anna Karenina, den heranwachsenden Serjoscha. Hervorragend zeigt er die Lust am Spielen, aber auch die Qualen unter der Trennung der Eltern. Wenn seine Mutter ihn heimlich besucht, implodiert im Tanz der beiden ihre ganze Beziehung, inklusive der Wünsche, die die beiden eigentlich aneinander haben.
Schließlich lockt mit Priscilla Tselikova eine wunderschön neu besetzte Prinzessin Sorokina den Grafen Wronski an. Sie ist weniger kalt und gefühllos als Greta Jörgens in der Rolle, dafür sozusagen funkelnder und bewusst oberflächlich.
Entscheidend in der Tanzszene mit Wronski ist allerdings ohnehin die Reaktion von Anna Karenina: Entsetzt ist sie vor Eifersucht, und man sieht ihr an, welch eine destruktive Maschinerie in ihrer Seele in Gang gesetzt wird.
Letztlich bringt sie sich um, als sie befürchtet, den Geliebten zu verlieren, für den sie ihr erstes Kind und ihre Ehe mit Karenin, dadurch auch ihr gesellschaftliches Ansehen, ja fast alle sozialen Verbindungen aufgab.
Und so tänzelt das Panorama einer Großfamilie mit ihren Einzelfamilien, ihren Beziehungsgeflechten und überbordenden Gefühlen hier auf dem Vulkan der Emotionen, der über Tod und Leben bestimmt.
John Neumeier ist ein geniales Meisterwerk gelungen, und gerade die Vorstellung am Freitag – die auf unbestimmte Zeit die letzte in Hamburg war – wurde dafür frenetisch mit Standing Ovations, aber auch einer besonders liebevollen Atmosphäre schon zuvor während der Vorstellung gefeiert.
Beim Applaus zeigte sich John Neumeier zur erneut eingespielten Ohrschmeichlermusik von Cat Stevens (Yusuf Islam) denn auch selbst auf der Bühne – und sein Glücksgefühl teilte sich ebenso dem Publikum mit wie das seiner erlesenen Tänzerinnen und Tänzer.
Und obwohl uns die diesjährigen Hamburger Ballett-Tage ab Ende Juni als furioses Abschlussfestival der Neumeier-Ära in Hamburg ja noch bevor stehen: Es gab wohl niemanden, der nicht zutiefst dankbar war, gestern diesen Höhepunkt der Saison erlebt zu haben.
Da waren Nordlichter als Zusatzbeleuchtung in der Nacht nur allzu passend: Kunst und Natur scheinen im Bunde.
Gisela Sonnenburg / Anonymous
WEITERE BEITRÄGE ZU „ANNA KARENINA“ HIER IM BALLETT-JOURNAL! GOOGELN SIE!
P.S. Warnung: Wegen der Auswirkungen des Sonnensturms auf unsere irdischen Wenigkeiten ist es ratsam, auf die möglicherweise deutlich erhöhte UV-Strahlung der Sonne und auch auf den Ozon-Gehalt der Außenluft zu achten! Spaziergänge in der Natur also lieber im schattigen Wald unternehmen oder sogar verschieben, und Sonnenbäder nur unter bestimmten Vorsichtsmaßnahmen, etwa mit ausreichend kräftiger Sonnencreme und unter Benutzung von Sonnenhüten, durchführen!