Herz oder High Society? Es ist ja schon viel, wenn einer von zwei Partnern nicht aufs Geld noch auf die Gunst des Schicksals guckt, sondern nur der Liebe seines Herzens folgt. Wenn aber beide am schnöden sozialen Erfolg so gar kein Interesse haben, sondern ausschließlich inneren Werten treu sind, dann haben sie einander wirklich verdient! „A Cinderella Story“ von John Neumeier vereint zwei solche Liebende, wie sie einerseits märchenhafter nicht sein könnten und andererseits doch Figuren aus Fleisch und Blut sind. Es ist die verzwickte Liebesgeschichte zweier Außenseiter, die sich beinahe niemals finden würden. Beim Hamburg Ballett wird dieses Handlungsballett zu diversen Musiken von Sergej Prokofjew jetzt in neuer Besetzung interpretiert. In der Titelrolle entzückt Madoka Sugai mit exquisit-sympathischem, dramatisch-lyrischem, zudem sprungkräftig-rasantem Output. Der ebenfalls erst 22 Lenze zählende Christopher Evans tanzt und spielt dazu so toll wie noch nie: ein Prinz zum Staunen, der so akkurat und doch seelenvoll ist, dass er an den jungen (den ganz jungen, damals noch fleißigen, nicht nur begabten) Sergej Polunin erinnert. Die blonde, langbeinige Hayley Page – als Geist der Mutter von Cinderella – ist ebenfalls eine tänzerische Sensation: eine Erscheinung, bestehend aus Güte und Schönheit. Auch sie wurde, wie die beiden anderen, übrigens 1994 geboren, im chinesischen Sternzeichenjahr des Hundes. Tiefsinn ist von daher die Spezialität dieser drei Nachwuchsstars.
Madoka Sugai – die aus Japan stammt und 2012 zunächst zum Bundesjugendballett in Hamburg kam (nachdem sie beim Prix de Lausanne mit einem zart-schwebenden „Raymonda“-Solo großen Eindruck gemacht hatte) – hat als Cinderella gleich zu Beginn des Stücks Gelegenheit, ihre darstellerische Kunst zu beweisen.
Schließlich geht es John Neumeier um ein fast realistisches, menschliches Schicksal.
Im heftigen Schneesturm, den Neumeier mit Windgeräuschen statt mit Musik auffährt, wird Cinderellas Mutter mit großen Würden beerdigt, aber im schwarzen Trauermantel bleibt die Halbwaise zurück, um ein kleines grünendes Bäumchen aufs frische Grab zu pflanzen.
Ganz allein kniet sie da an der symbolischen Grabesöffnung, die große Bühne mit vielen unausgesprochenen Fragen hinter sich.
Den Prinzen, der sie aus größerer Distanz von der Seite als Fremder dabei beobachtet und zeichnet, bemerkt sie in ihrer Traurigkeit gar nicht.
Der Prinz, er ist hier ein Künstler – und Cinderella vor allem eine Naturfreundin.
Der Prinz will kein Hochwohlgeborener sein, er flieht vor den Pflichten bei Hofe und ist eher ein Lebenskünstler als ein Regierender – und Cinderella wird von ihrer neuen Stieffamilie gedemütigt und entrechtet, zum sklavenähnlichen Aschenbrödel gemacht.
Damit sind die beiden Figuren als sozial diametral sich entgegen stehende Außenseiter in der restlichen (Märchen-)Welt bereits charakterisiert.
In einer Hinsicht haben sie aber ein ähnliches Kindheits- und Jugendproblem: Sie wuchsen beide teilweise ohne Mutter auf. Der König, also der Prinzenvater, ist offenkundig Witwer und dieses geblieben.
Und John Neumeier kam es darauf an, nicht nur das Schicksal von Cinderella zu zeigen, sondern auch dem Prinzen eine hauptrollenwürdige Entwicklung zuzugestehen.
Und es ist recht putzig zu sehen, dass hier ein verwöhnter Jungmann vom Prunk und Pomp an seines Vaters Hof so gar nicht beeindruckt ist.
Jürgen Rose, dessen Stärke sonst opulente, detailprächtige Ausstattungen sind (wie für Neumeiers „Romeo und Julia“, seinen „Nussknacker“, den „Sommernachtstraum“ und die „Kameliendame“) schuf hier eine vor allem leere Bühne mit viel buntem Lichtspiel darin. Ebenfalls bunt sind oftmals die Kostüme und die wenigen Möbel und Requisiten, die die jeweiligen Szenerien mehr andeuten als illustrieren.
Es war ein Experiment, ein Handlungsballett ohne Seitenkulissen zu machen; Jürgen Rose hatte Neumeier darum gebeten.
Nun ausgerechnet „Cinderella“ so ganz ohne Hauch von Überfrachtung zu gestalten, ist sicher mutig – aber seit der Premiere im Mai 1992 hat wohl niemand bunte Prospekte oder große Saalaufbauten hier vermisst.
So liegt der Schwerpunkt auf dem Tänzerischen, das von der kostümmäßigen Aufmachung stets unterstützt wird.
Das gilt auch für die Fantasiegestalten, die das innere Leben von Cinderella darstellen.
Da sind die „Vogel-Geister“: Alexandre Riabko, Aleix Martínez, Macelino Libao und Lizhong Wang tanzen in silbrigen Hosenröcken und blauer Schminke die Vögel, die Cinderella Zuspruch und Unterstützung spenden.
Im Grimm’schen Märchen sind es die Tauben, die dem vom Leben stark benachteiligten Mädchen helfen. Hier sind es diese charmanten Jungs, die Cinderella durch alle Tiefen ihres Lebens mit Mut machendem Geflatter hindurch heben.
Vor allem aber berückt Hayley Page als Geist der Mutter von Cinderella.
Wann immer sie die Bühne betritt – im hellblauen, langen Kleid – kommt die Hoffnung mit ihr. Exzellente Linien beim Tanz und ein glücklich-beglückender Ausdruck von Seligkeit und Barmherzigkeit sind für diese Figur kennzeichnend. In langen Schritten, mit erhabenen Armgesten und hohen Attitüden schwebt diese Mutter über allem!
Hayley Page versinnbildlicht die mütterliche Güte ohne Fehl und Tadel, und trotz oder wegen ihrer Jugend nimmt man ihr die Rolle genau so ab.
Schließlich verkörpert sie das Idealbild einer Mutter, keineswegs eine konkrete Person.
Denn nach dem Tod der Mutter ist die Erinnerung an sie der wichtigste Halt in Cinderellas Leben. Der Vater hat neu geheiratet, und die Stiefmutter und ihre beiden Töchter degradieren Cinderella zum unbezahlten Hausmädchen.
Der primitive Futterneid, die Herrschsucht, die Eitelkeit der neuen Frau im Haus, die hinter solcher Ungerechtigkeit stehen, bilden ein tief verwurzeltes Problem in menschlichen Gefügen. Frauen hegen zu wenig Solidarität untereinander, vor allem wenn es um Konkurrenz bei einem Mann oder in der Hierarchie geht. Nicht umsonst spricht man von „stiefmütterlicher Behandlung“, wenn man meint, jemand käme zu kurz.
Von daher kann man sagen, dass, wenn Patchwork-Familien funktionieren, dieses ein starkes Anzeichen für eine gelingende Zivilisation ist. Eine eigenständige Tätigkeit der Frauen trägt natürlich dazu bei.
Hier, im Märchen aus dem 19. Jahrhundert, haben die Frauen allerdings keine andere Chance, als sich über einen Versorger zu definieren. Ein großes zivilisatorisches Problem, auch und gerade heute, in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit, in denen Männer Frauen nur zu leicht aus den Jobs drängen können.
Viele ganz junge Frauen unterlassen es heute darum schon ganz, sich dem Gerangel um beruflichen Aufstieg nach der Schule, Lehre oder nach dem Studium wirklich zu stellen – sie lassen sich lieber das Gesicht zum Stupsnasenprofil operieren und suchen sich einen Partner, der sie durchfüttert. Das betrifft übrigens auch junge Frauen aus islamischen Kulturkreisen.
Damit ist der Aschenputtel-Mythos wieder aktueller denn je. Denn auch hier kann eine eigenständige weibliche Persönlichkeit – die Titelheldin – sich nicht entfalten, solange sie familienintern unterdrückt wird.
Vor allem aber gibt es den Aschenbrödel-Mythos nicht nur in Deutschland. Weltweit kursieren Märchen und Legenden, die einem völlig entrechteten Mädchen mit wundersamen Vorgängen Genugtuung verschaffen.
Neumeier ließ sich für sein Ballett zwar vor allem von der kompletten deutschen Version des Märchens, wie es Jakob und Wilhelm Grimm überliefert haben, anregen. Die „Cinderella“-Musik von Prokofjew, die im November 1945 am Bolschoi-Theater in Moskau uraufgeführt wurde, hat allerdings das „Cendrillon“-Märchen der französischen Version von Charles Perrault zur Vorlage.
Weil der Prinz darin als Bühnengestalt arg „stiefmütterlich“ behandelt wird, nahm Neumeier noch zwei weitere Stücke von Prokofjew dazu: Die „Träume“ und „Herbstliches“ sind sinfonische Dichtungen, die innere Konflikte und tiefgehendes Erleben eher zulassen als der vom Komponisten für den Hof des Königs vorgesehene plakative rhythmische Reichtum.
Dafür residiert beim König – wie auch beim Stiefmuttern-Gespann – die Satire.
Hach, selten ist ein Königshof in einem Ballett so komisch!
Drei Minister – Konstantin Tselikov, Leeroy Boone und Eliot Worrell – wuseln wie eine Mischung aus Lakaien und Teufelchen durch die Szene.
Neben den tollkühnen akrobatischen Kunststückchen von Konstantin Tselikov ist vor allem der Newcomer Leeroy Boone hier absolut sehenswert.
Eine so clownesk-diabolische Figur, wie er sie hier tanzenderweise darstellt, habe ich überhaupt noch nie gesehen!
Boone ist darin ein richtig neuer Typus im Ballett: erotisch, aber auch sehr dramatisch; komisch, aber auch von starken ernsthaften Momenten. Er kann mit den anderen harmonisch tanzen, steht aber dennoch stets auch sehr für sich. Der geborene Solist! Man wünscht sich mehr davon, mehr solche smarte, dennoch ausdrucksstarke Gestaltung! Und man könnte sich ein ganzes neues Ballett um solch einen Jungmann herum vorstellen… aber das ist ein anderes Thema.
In „A Cinderella Story“ – das Stück heißt so, weil es so viele Versionen von „Cinderella“ gibt und noch mehr theoretisch denkbar sind – soll der Prinz, der keiner sein will, verheiratet werden.
Anders als bei der Frauenwelt geht es dabei nicht um seine eigene Versorgung, sondern um die der Regierung. Denn der Prinz soll natürlich standesgemäß vermählt werden, mit einer Prinzessin.
Um ihm Geschmack aufs weibliche Geschlecht zu machen, zeigen die Minister ihm edle Frauenportraits, die in Andy-Warhol-Pop-Manier einher kommen.
Natürlich kann keine der so gezeigten Prinzessinnen den Prinzen erregen. Er fertigt sich seine Frauenbildnisse ja lieber selbst an, mit dem Stift und dem Zeichenblock.
Und mit dem Bildnis von Cinderella, das er zu Beginn angefertigt hat, tanzt er ein so verliebtes Solo, mit lang ausgestreckten Beinen, mit umarmungsbereiten Armen und mit hinreißend verdrehtem Kopf, dass man keinen Zweifel daran hat, dass er sich in die hübsche Trauernde auf den ersten Blick verliebt hat.
Dass dieser Prinz nun ans Regieren und an profane Haushaltsfragen nie auch nie nur einen Gedanken verschwendet, steht außer Frage. Er ist ein Bohemien, kein Machtmensch, ein Traumtänzer, kein Realist. Ein Philosoph, kein Manager. Ein Liebender, kein Repräsentant.
Diese Gegensatzbildungen sind typisch für eine genaue Ausleuchtung der Neumeier-Ballette; dem Choreografen kommt es auf psychologisch essentiell wirksame Motivationen seiner Figuren an.
Auch die Konflikte sind da offenbar – manchmal auf ultrakomische Weise!
Und als dieser nachlässige Anti-Prinz zum festlichen Ball am Königshof in seiner sackleinernen Alltagshose mit zünftigen Hosenträgern auftaucht, lässt sein Vater ihn glattweg von den Ministern abtransportieren. Mach dich erstmal fein, mein Junge, du gehst zu weit!
Thomas Stuhrmann tanzt diesen König nicht zum ersten Mal, aber sehr passend, mit jener Frische und Vehemenz, die man in einer so klamaukigen Figur erwartet. Wenn nicht gerade Ballzeit ist, läuft er ja selbst im gestreiften Seidenpyjama zur Krone auf dem Kopf herum – man ahnt also, woher sein Sohn das Laissez-faire-Verhalten haben könnte.
Die Welt hier ist ja auch aus den Fugen.
Denn dem etwas verlotterten Staatshaushalt steht der ganz und gar ungerecht organisierte Stiefmutternhaushalt von Cinderellas Vater gegenüber.
Silvia Azzoni tanzt als Stiefmutter eine ihrer Paraderollen: köstlich überdreht, göttlich affektiert – und mit einer Palette von damenhaft bis ordinär.
Sie ist die Karikatur einer Primaballerina, die Parodie einer Diva – etwas, das gerade die Azzoni mit großer Lust vorzuführen weiß.
Ihr Töchter, getanzt von Carolina Agüero und, als Debüt, von Mayo Arii, stehen ihr darin aber nichts nach.
Vor allem Mayo Arii gelingt das Ziseliert-Dekadente so gut und dialektischerweise mit soviel Herz, dass man sie sich auch in einer größeren Rolle gut vorstellen könnte.
Hui! Diese drei Zimtzicken bringen den Schwung einer Revue auf die Bühne. Quietschbunt sind ihre Kostüme – und wenn sie das arme Aschenbrödel quälen, indem sie der mit Schmach Beladenen auch noch spaßhaft ein Kissenpolster an den Kopf werfen, dann muss man einfach lachen, so perfide-komisch ist das.
Der Vater – von Dario Franconi mit viel Spielfreude getanzt – ist ein viel zu schwacher Geist, um sich von der affektiert um ihn herum charmierenden neuen Gattin und ihren lebenslustigen Mädels nicht vollends blenden zu lassen.
Die Stiefmutter beginnt bereits bei der Beerdigung ihrer Vorgängerin damit, um ihn herumzuscharwenzeln. Denn in Neumeiers Version ist sie die Schwester der Verstorbenen, also Cinderellas Tante.
Der Neid dieses Frauentrios auf Cinderella ist somit psychologisch viel stärker motiviert als in den üblichen Märchenversionen. Denn der Wille, die hübsche Cinderella herabzusetzen und zu demütigen, ist hier über Jahre gewachsen. Damit füllt sich ein Motiv, das in den Märchenversionen unausgesprochen bleibt.
Man erfährt ja nicht, woran Cinderellas Mutter verstarb, und auch ihr Geist macht darüber keine Mitteilung. Aber vielleicht verbirgt sich hier ein Drama vor dem Drama – und sie wurde ermordet, von ihrer Schwester oder von deren Töchtern, aus Neid, Missgunst und Habgier.
John Neumeier berichtet im Programmheft vom Hamburg Ballett denn auch, dass er sich bei der Beschäftigung mit Cinderella spontan an zwei Shakespeare-Dramen erinnert fühlte: an den „Lear“ (den er eigentlich auch mal choreografieren wollte, der also stark präsent ist bei ihm) und an den „Hamlet“.
Cinderella, eine andere Cordelia – diese liebt den Vater Lear aufrichtig, kann das aber nicht formulieren, während ihre verlogenen Schwestern ihr mit heuchlerischen Phrasen beim Vater das Wasser abgraben.
Cinderella, ein anderer Hamlet: ihr erscheint die tote Mutter, während Hamlet der tote Vater erscheint… in der Männerwelt Hamlets fordert der Geist allerdings Rache, während in der matriarchalen Welt Cinderellas der mütterliche Geist schlicht selbst die materielle und ideelle Wiedergutmachung bringt.
Ein Solo mit dem Foto der Mutter zeigt denn auch das Gemüt dieser innerlich so selbständigen Cinderella.
Madoka Sugai weiß den Trotz und die Rebellion gegen das ungerechte Schicksal – auch solche Gefühle stecken in der jungen Frau – mit der Trauer und der Hingabe an die Erinnerungen ihrer Kindheit aufs Schönste zu verbinden.
Sie ist eine leuchtende Tänzerin, eine lyrisch-ausdrucksstarke und zudem eine mit einer hervorragenden Technik gesegnete. Sie tanzt im laufe des Abends barfuß, in Absatzschuhen und in Spitzenschuhen – alles gleichermaßen überzeugend. Man wünscht sie sich öfters in Hauptrollen!
Hier ist sie zudem als umso außerordentlicher in ihrer Leistung zu bewerten, als sie kurzfristig eingesprungen ist, und zwar für die verletzte Florencia Chinellato (von hier aus: gute Besserung!), die eigentlich, statt Madoka Sugai, als Cinderella hätte debütieren sollen.
Und zwei weitere – bereits bewährte – „Cinderella“-Kräfte fielen verletzungsbedingt aus, wodurch zwei Nachwuchstalente sich beweisen konnten: Mayo Arii, die ganz hervorragend für die verletzte Leslie Heylmann (gute Besserung!) als Stiefschwester einsprang, und Leeroy Boone, der wirklich sehr toll für den erkrankten Aljoscha Lenz (gute Besserung!) tanzte.
Zum speziellen Talent von Leeroy Boone habe ich oben ja schon etwas gesagt – hoffen wir, dass er nicht zu lange im Corps bleiben muss, sondern sein jugendliches Feuer bald häufiger in Solopartien entfalten kann.
Aber auch zu Madoka Sugai muss noch Einiges gesagt werden: Sie hat das große Plus, sehr talentiert und sehr fleißig zu sein. Sie ist keine Ballerina, die mit aufgesetztem Lächeln stundenlang denselben Ausdruck serviert. Sondern sie schauspielert mit einer Ernsthaftigkeit, die von Würde spricht. Die Bandbreite, die die erst 22-jährige Sugai bereits zu bieten hat, und zwar technisch wie darstellerisch, macht große Hoffnungen.
Aus dem Stand springt sie in „A Cinderella Story“ wie ein junges Fohlen, und die Ports de bras in ihren Soli sind so schön und weit, so weich und rund und dennoch stark, dass sie eine Intensität erreichen, die man sonst so nur von Alexandr Trusch kennt.
Trusch tanzte bei der letzten Wiederaufnahme im September 2015 den Prinzen in „A Cinderella Story“, und die derzeit schwangere Hélène Bouchet war seine bildhübsche Cinderella.
In der aktuellen Besetzung mit Sugai ist die Cinderella weniger verträumt als die von Bouchet, dafür sinnlicher und gegenwärtiger.
Und dann Christopher Evans als Prinz, als Anti-Prinz, als einer, der weiß, was er will, der aber lange braucht, bis er sich durchsetzen kann. (Mehr über Evans: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-giselle-christopher-evans/)
Er ist hier etwas weniger lyrisch-sehnsüchtig als Alexandr Trusch, aber dafür konsequent ein etwas ganz Bestimmtes Suchender.
Seine Sprünge sind himmelhoch jauchzend, seine Armgesten voll positiver Kraft. Christopher Evans ist burschikos als Prinz und dabei rollengemäß so unprinzlich, wie man nur sein kann, wenn man die Grazie und die Liebe zum Tanz im Körper hat. Er ist kein Trampel – aber eben auch kein Schönling, der einen auf vornehm macht.
Das Desinteresse an höfischen Dingen ist anscheinend dieses Prinzen Natur – und keineswegs eine Trotz- oder Abwehrreaktion, wie man es (was auch schlüssig ist) bei Trusch dachte.
Das Grandiose an den Neumeier-Choreografien ist ja, dass sie genügend Spielraum lassen, um von verschiedenen Tänzerinnen und Tänzern interpretiert zu werden. Ohne, dass man Details ändern oder etwas hinzufügen müsste.
Das gilt für das Schauspielerische an diesen Rollen ebenso wie für ihre tänzerische Konfiguration.
Die Bewegungen an sich sind so komponiert, dass sie die jeweilig anders ausfallenden Linien der Körper in ihren Eigenheiten betonen und bestens zur Geltung bringen.
Das ist vor John Neumeier nur Marius Petipa so gelungen – und seit Neumeier niemandem mehr.
Zudem hat Neumeier eine prägnant prägende, eigene stilistische Schule gegründet, die es den Tänzern erlaubt, ihre Stärken besonders auszuformen. Entsprechend vorteilhaft sind die Choreografien für sie.
Deutlich wird das auch in den Pas de deux von „A Cinderella Story“.
Da sind zunächst die von Cinderella mit ihrem Vater – sie sind betont kindlich-spielerisch, und Dario Franconi drängt die erst im Erwachsenwerden begriffene Cinderella von Madoka Sugai absichtlich immer wieder in die Rolle des kleinen Mädchens hinein.
Heimlich, hinter dem Rücken der Stiefmutter – ein Pantoffelheld ist er ja per se.
Und so wirkt dieser hilflose Vater ganz realistisch. Er versucht, sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem er sich auch mal Cinderella zuwendet.
Aber vor allem die Paartänze von Cinderella und dem Prinzen sind natürlich ein Grund, diese Inszenierung wieder und wieder zu sehen.
Dabei steckt viel Arbeit von Menschen dahinter, um so ein Märchen leibhaftig und in solcher Qualität auf die Bühne zu bringen.
Erstmals tanzen die Liebenden hier auf dem Ball am Königshof zusammen. Cinderella fand eine verloren gegangene Einladung – und ihre Mutter, als hilfreicher Geist, überbrachte tanzenderweise in blauen Schachteln das notwendige Equipment.
Silberne Tanzschuhe mit kleinen Absätzen (keine Spitzenschuhe!), ein weißseidenes Ballkleid (das aussieht wie ein schlichtes Hochzeitskleid) und jede Menge Mut brachte die Frau Mama aus dem Reich der Fantasie mit!
Die Vögel, exzellent getanzt (Besetzung siehe oben), tragen ebenfalls dazu bei, dass Cinderella überhaupt die Courage hat, sich auf diesen Ball zu begeben, ist zu diesem doch der Rest ihrer Familie – oder sollte man sagen: ihre Herrschaft – regulär eingeladen.
Cinderella wird von den Vögeln empor gehoben, fast kopfüber, in einer niedlichen Schrägheit und Querlage auf den Weg gebracht… ihre Vogelfreunde sind voller Freude darüber, ihre schöne Dame endlich in höhere Sphären zu verbringen. Kein Wunder, dass sie die verdutzte Cinderella wie eine Trophäe dorthin verfrachten.
Nach der Pause geht es genau so auf den Ball.
In rotschwarzen Outfits glänzen da die Ensemble-Damen, eine hübscher als die andere, und als sich gleich acht junge Schönheiten der Reihe nach um den Prinzen bewerben, dieser aber nur Sinn für Cinderella hat, kippen die gestylten Mädels vor Enttäuschung einfach um und fallen hin.
Zum Glück aber findet sich hier für jeden Topf schnell ein Deckel, und die elegant in Schwarz gewandeten Tanzpartner helfen den Ladies auf und entführen sie ganz ohne faule Zauberei in die Welt des Tanzes.
Zuvor tanzten Cinderella und ihr Prinz schon den ersten Pas de deux.
Der entwickelt sich, als der Prinz seine Holde regelrecht zu riechen scheint und ihr wie hynotisiert durch den Ballsaal folgt… zunächst noch begleitet von Cinderellas Vater, den er dann aber abhängen kann.
Wie in Trance tanzt dann das Paar, einander nicht kennend, aber sich gegenseitig respektvoll und dennoch mit großer Intimität ergeben.
Christopher Evans und Madoka Sugai machen hier eine außerordentlich gute Figur.
Betont sanft ist sein Umgang mit ihr, wodurch ihre gar nicht hoffärtige, vielmehr edelmütige Tanzhaltung besonders gut zur Geltung kommt.
Er leitet sie sicher durch Hebungen, Pirouetten, Attitüden – selbst nie die Contenance verlierend. Was für ein süßer verliebter Prinz!
Der Höhepunkt ihrer Verliebtheit ist der Tanz mit der Orange, den ich schon an anderer Stelle ausgiebig beschrieben und fotografiert habe (www.ballett-journal.de/hamburger-theaternacht-2015/ ).
Das Motiv der Zitrusfrüchte entstammt übrigens einer der internationalen Versionen von „Cinderella“, die es gibt – im Programmheft sind die indonesische und auch die lettische Version dankenswerterweise neben der deutschen und französischen Fassung abgedruckt.
Auch der wundersame Baum, der für Cinderella eine große Hilfe ist, taucht in den beiden für uns exotischen Varianten des Märchens aus Indonesien und Lettland auf.
Hier im Ballett ist es ein Haselnussstrauch, den Cinderella zu Beginn pflanzte, der schnell wuchs, und der ihr stets einen symbolischen Rückzugsort bietet.
Am Ende, nach fast drei Stunden Tanzabend, sitzt Cinderella in diesem Gestrüpp, als sei sie mit der grünen Natur harmonisch verbunden, ja geradezu verwachsen. So findet ihr Prinz, der lange auf Reisen kreuz und quer durch die Weltgeschichte war, zu ihr, er erkennt sie sofort, und auch sie scheint nur auf ihn gewartet zu haben – und sie können gemeinsam ein neues Leben beginnen.
Bis dahin aber zeigen die prägnant ihre Rollen gestaltenden Solisten sowie das ausgezeichnet Ensemble vom Hamburg Ballett, was aus einer scheinbar so bekannten, manchmal etwas drögen Märchenwelt, nämlich der des Aschenbrödels, an erotisch-extravaganten Lebensgefilden so gemacht werden kann.
Da bestehen Küche und Wohnzimmer der Cinderella-Familie nur aus einem großen Herd mit Spüle und aus einer senfgelben Sitz-Ecke. Mehr braucht es nicht, um diesen Haushalt, dessen Leidtragende Cinderella ist, anzudeuten. Staubsauger, Kellnerinnenhäubchen und ein Tablett mit Sektgläsern kommen als Requisiten dazu, um Cinderellas niedrige Stellung zu betonen. Ihre faulen Stiefschwestern rühren hingegen keinen Finger, sondern stellen immer nur Anforderungen. Ach, man fühlt mit Cinderella, wenn sie wütend das Tablett hinknallt!
Der Ballsaal beim König besteht vor allem aus einem überdimensionalen schmalen silbrig umrandeten Spiegel. Eleganz und Charme gehen dann von den Kostümen aus.
Lucia Ríos darf dann als „fremde Prinzessin“ aus einem spanisch oder lateinamerikanisch inspirierten Land schon mal einen Vorgeschmack auf „Don Quixote“ geben, der kommende Spielzeit beim Hamburg Ballett premieren wird. Zackig stellt sie ihren Fuß auf die Spitze, kokett dreht sie den Rücken vor und zurück, ha! Wenn der Prinz nicht schon verliebt wäre, wer weiß, ob er hier nicht schwach werden würde…
Aber die Konkurrenz unter den Damen ist groß, da ist noch eine zweite „Prinzessin aus einem anderen Land“, aus einem asiatischen. Und Yun-Su Park, die schon so lange und stets zuverlässig im Ensemble beim Hamburg Ballett tanzt, hat hier endlich einen ganz wunderbaren Solo-Part!
Sie ist eine so konzentriert und doch so lieblich tanzende Prinzessin, dass man umgehend mehr von ihr sehen möchte. Schade, dass diese Rolle nicht größer ist. Aber einige große Auftritte hat sie, und die füllt sie mit Verve!
Zumal sie mit ihren männlichen Begleitern (allesamt so schön wie elegant: Graeme Fuhrman, Matias Oberlin, Florian Pohl und, besonders geschmeidig, Mathieu Rouaux) hervorragend auskommt.
Aber was wäre der schönste Tanz ohne Musik!
Simon Hewett dirigiert das Philharmonische Staatsorchester Hamburg mit so viel Gefühl in der Melodieführung und so viel Elan in den vielen schwungvollen Passagen, dass man ganz vergisst, dieses Stück schon so oft gehört zu haben. Zumal er auch die sinfonischen Dichtungen, die Choreograf John Neumeier sich für die Innenwelt des Prinzen dazu nahm, mit Leidenschaft für die plastische, dennoch auch mit hoher Präzision mit einfließen lässt.
So ist es ein Fest des Zusammengehens von Tanz und Musik – und auch jener Stille, der alles zu entspringen vermag.
Gisela Sonnenburg
Text zur „Cinderella“-Ballett-Werkstatt 2015: www.ballett-journal.de/hamburg-ballett-werkstatt-cinderella/
Termine: siehe „Spielplan“