Romantik de luxe Das Londoner Royal Ballet zeigte zum Saisonschluss mit Stars wie Zenaida Yanowsky, Roberto Bolle, Vladimir Shklyarov und Natalia Osipova die Eleganz und das Gefühl von Frederick Ashton

Frederick Ashton aus London ist toll

Passioniert: Zenaida Yanowsky und Roberto Bolle in „Marguerite and Armand“ am Covent Garden. Foto:
Tristram Kenton / ROH

Es war ihr großer Abend, der Bühnenabschied einer Primaballerina des Londoner Royal Ballet, die schon vor der englischen Königin im Buckingham Palace aufgetreten war: Zenaida Yanowsky tanzte mit Roberto Bolle in „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton am Covent Garden. Bolle wie Yanowsky waren in Bestform, und was die beiden an hoher Kunst boten, ließ die Fans in aller Welt – dank Live-Übertragung in den Kinos – vor Rührung erbeben. Die Liebesgeschichte, mehr oder weniger frei nach dem Roman „Die Kameliendame“ von Alexandre Dumas (Sohn des gleichnamigen Abenteurnovellisten), von Ashton einst für Margot Fonteyn und Rudolf Nurejev ersonnen, hat seit 1963 ihren tragischen Charme nicht verloren. Zur dramatischen Klaviersonate in b-moll von Franz Liszt – von Robert Clark vorzüglich gespielt – tanzten Zenaida und Roberto die große erotische Liebe zwischen einer sterbenskranken Kurtisane und einem Jüngling.

Anders als im Roman stirbt die Liebende hier in den Armen ihres Liebhabers, im Sprung nach einem herzzerreißenden Pas de deux erlöschen ihre Kräfte, und der Geliebte bettet sie dann ein letztes Mal in seine Arme.

Er schaut die Liegende lange an und schließt ihr die Augen. Dann weint er.

Was für ein Ballett! Das Weinen eines Mannes als ergreifender Schlusspunkt.

Roberto Bolle schluchzte hier stumm, ließ die Trauer aber melodramatisch durch seinen muskulösen Körper zucken.

Vladimir Shklyarov aber, der als Gast vom Bayerischen Staatsballett in der Zweitbesetzung beim Royal Ballet tanzte, weinte sogar laut, durchaus ergreifend.

Er erinnerte damit allerdings an seine eigene gelungene Darstellung als Romeo in „Romeo und Julia“ mit Diana Vishneva als Partnerin, wie sie vor einigen Jahren in Russland, am Sankt Petersburger Mariinsky Theater, zu sehen war und als DVD im Handel überliefert und erhältlich ist.

Aber auch an Svetlana Zakharova dachte man bei den Londoner Ashton-Aufführungen. Denn Bolle tanzte „Marguerite and Armand“ auch schon mit ihr, und zwar in der für sie typischen Weise: dramatisch, aber keineswegs gekünstelt pathetisch; mit ständiger Spannung und ausufernder Sehnsucht im Blick und im Körper.

Frederick Ashton aus London ist toll

Zenaida Yanowsky und Roberto Bolle in „Marguerite and Armand“ in Nahaufnahme. Welche Lust! Foto: Tristram Kenton / ROH

Doch auch Zenaida Yanowsky war – einmal mehr zum Ende ihrer Bühnenkarriere – ein Wunderwerk an steter, ausdrucksvoller Liebessehnsucht, gerade in der Partie der verliebten Edelnutte Marguerite.

Und sowohl diese langjährige Principal vom Royal Ballet, Zenaida Yanowsky, als auch ihr Partner, der in London gastierende italienische Superstar Roberto Bolle – der nicht nur im Tanzen, sondern auch in der Selbstvermarktung ein As ist – hatten sich auf diesen Abend offenbar akribisch vorbereitet.

Beide haben die 40 Jahre überschritten – aber sowohl die 41-jährige Zenaida als auch der um ein Jahr ältere Roberto tanzten gerade deshalb so bewegend und akkurat, wie es ihnen etwa zehn Jahre zuvor vielleicht gar nicht möglich gewesen wäre. Die Intensität, die große Ballettkünstler in fortgeschrittenem Alter auf der Bühne erzeugen, ist mit keinem anderen Flair zu vergleichen.

Da stimmt jeder Griff, jeder Blick, jedes Atmen. Nicht nur jeder Sprung, jede Drehung, jede Führung. Man hat einander im Visier, wenn man eine Liebesszene tanzt, und die Verbindung untereinander ist umso heftiger, als Zeit an sich eine andere Qualität hat, wenn man nicht mehr zur Gloriole der Jugend gehört.

Kenner in Berlin erinnern sich an die entsprechend fantastischen Abschiedsvorstellungen der letzten Jahre, so von Vladimir Malakhov, Wieslaw Dudek, Beatrice Knop und zuletzt Nadja Saidakova.

Beim Hamburg Ballett hat man noch Joelle Boulougne gut im Gedächtnis, die 2011 bei den Hamburger Ballett-Tagen rekordverdächtig einen Abend nach dem anderen in großen Rollen gefeiert wurde.

Ähnlich aktiv nahm Otto Bubeníček im Sommer 2015 dort seinen Bühnenabschied. Sein Zwillingsbruder Jiří Bubeníček beglückte beim Semperoper Ballett dann einige Monate später zum letzten Mal die Zuschauer als Primoballerino (in „Manon“ von Kenneth MacMillan).

Beim Bayerischen Staatsballett ließ sich hingegen, im Juni 2015, die rasante Primaballerina Lisa-Maree Cullum ganz bescheiden mit einer kleinen Rolle offiziell entlassen. Aber auch so ein Abend kann ehrenvoll und bedeutend sein!

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Originalkostüme, Originalchoreografien: Der Ashton-Abend beim Royal Ballet vereinte aktuelle Stars mit Ashtons zeitlosen Werken. Hier noch einmal Zenaida Yanowsky und Roberto Bolle in „Marguerite and Armand“. Foto: Tristram Kenton / ROH

Die leidenschaftliche, auch ehrgeizige Zenaida Yanowsky, die in Lyon als Kind von Ballettttänzern geboren wurde, und deren Geschwister ebenfalls international beschäftigte Solisten sind, genoss die ganz große Geste zum Adieu allerdings sichtlich.

Sie, mit russischem wie mit spanischem Temperament gesegnet (russisch durch den Vater, spanisch von der Mutter her), gewann 1991 in dem damals wichtigsten Wettbewerb für Ballettnachwuchs in Varna die Silbermedaille. Und ging dann prompt zum Ballett der Pariser Oper. 1994 erfolgte dann der Wechsel zum Royal Ballet nach London, wo sie seit 2001 Principal Dancer war. Höhepunkt ihrer Karriere bisher: ein Auftritt als Schwarzer Schwan (also als Odile in „Schwanensee“) vor der englischen Königin Elizabeth II, 2002 war das.

Aber dieser außergewöhnliche Highlight-Auftritt dürfte nun getoppt sein durch Zenaidas sinnenhaften Bühnenabschied: als Ashtons Marguerite vor Fans live in London und dank der Live-Übertragungen in vielen Kinos weltweit.

Man ist sich solcher Würden in London bewusst:

Nach der Vorstellung hielt Ballettchef Kevin O’Hare vom Royal Ballet auf offener Bühne eine Ansprache; Blumen und Liebe umfingen die Primaballerina ein letztes Mal.

Wehmut und Glück mischten sich in ihren Augen… von Herzen wünscht man ihr und ihrer Familie alles Gute!

Zuvor aber hatten Zenaidas jüngere Kollegen Marianela Nunez und Vadim Muntagirov – zusammen mit weiteren Solisten vom Royal Ballet – in Ashtons abstrakt gehaltenen, aber deutlich aufs Apollinische abstellenden „Symphonic Variations“ begeistert.

Es entstand 1946 und gilt als Ashtons erstes Meisterwerk. So kurz nach dem Zweiten Weltkrieg bezog Ashton sich auf das Feiern der kulturellen Grundwerte, die somit endlich wieder in die Zivilisation Einzug hielten. Viele Frühwerke des Choreografen gelten ja als verschollen, seit London von den Nazis bombardiert wurde. Dieses hier entstand just nach dem Krieg, die Ballettkunst einmal mehr als Kunst an sich beleuchtend.

Frederick Ashton ist einer der ersten bedeutenden Macher vom Royal Ballet – und in diesem Jahr wird das 70-jährige Bestehen der Truppe am Covent Garden, diesem prachtvollen Opernhaus in London, zelebriert.

Cinderella - ein Märchen für Menschen.

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Dieses Jubiläum war auch der Anlass für den gezeigten dreiteiligen Ashton-Abend, und man mag sich zwar fragen, warum Kevin O’Hare nicht das ganze Jahr deutlich stärker auf das Jubiläum abgestimmt hat.

Aber eine Antwort wird man jenseits der mathematischen Fragen vermutlich nicht bekommen; es geht bei einer Spielplangestaltung auch immer darum, mit Geldern zu jonglieren und sie möglichst sinnvoll in Lizenzen von Choreografien zu investieren. Langfristige Verträge sind da üblich, und hätte O’Hare nun zum Beispiel ein halbes Dutzend Ashton-Abende angesetzt, so müsste das Royal Ballet diese auch in den kommenden Jahren abtanzen.

Da das Programm der Truppe aber auch von anderen Choreografen und auch mit Uraufführungen etwa von Wayne McGregor und Christopher Wheeldon sogar zeitgenössisch geprägt ist, kann man verstehen, dass O’Hare seine Moneten und die Kräfte des Ensembles zusammen halten will.

Die drei erwählten Stücke des Abends haben nun auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun. Außer dass Ashton sie schuf!

Und, wie Royal-Ballet-Ballettmeister Christopher Carr es sagt:

„Alle Stücke von Frederick Ashton sind verschieden.“

Das ist hier keine Plattitüde, sondern wörtlich zu nehmen und voll auszuloten: Ashton probierte bei jedem neuen Stück eine neue Machart, eine neue Herangehensweise, einen neuen Stil. Er ist das Chamäleon unter den großen Choreografen, und angesichts seiner Wirkungsära ist das in der Tat bemerkenswert.

1904 in Lateinamerika geboren, sah er 1917 Anna Pawlowa tanzen.

Frederick Ashton aus London ist toll

Die Bilder bei Google zeigen viele Gesichter von Sir Frederick Ashton, der von der englischen Königin geadelt wurde. Ein Choreograf mit viel hintersinnigem Humor und einem gnadenlosen Sinn für Perfektion. Faksimile: Gisela Sonnenburg

Durch dieses Erlebnis beschloss Frederick Ashton, zum Ballett zu gehen. Und wenn man Anmut und Eleganz als hervorstechende Qualitäten der Pawlowa benennen will, so sind sie es auch, die die vielen verschiedenen Stücke und Stile von Ashton miteinander verbinden.

Ashton begann seine Karriere in England bei Marie Rambert (Rambert Ballet) und dem Sadler’s Wells Ballet von Ninette de Valois. Es ist ja eben nicht so, dass Ballett als höfische Kunst – wie in Paris – auch in London jahrhundertelang langsam gewachsen und gehegt worden war. Sondern die beiden Opernhäuser und das Royal Ballet entwickelten sich während des 20. Jahrhunderts aus den Ensembles des Sadler’s Wells. (Das English National Ballet hingegen wurde 1950 von Alicia Markova und Anton Dolin gegründet.) Der eigene Stil des Royal Ballet war damals erst noch im Entstehen.

Und erst 1964 – vier Jahre nach der Kreation seiner bis heute außergewöhnlichen Version von „La Fille mal gardée“ – wurde Frederick Ashton Direktor vom Royal Ballet. Nur sechs Jahre bekleidete er diesen Posten, wurde aber so stark mit dem Royal Ballet identifiziert, dass er bis heute als dessen heimlich stärkste Prägung gilt. Ashton trug gewissermaßen etwas nach, das seit dem 18. und 19. Jahrhundert in London gefehlt hatte.

Selbst Kenneth MacMillan, der zweite hoch bedeutende Londoner Choreograf des 20. Jahrhunderts, dürfte daher an Einfluss vor Ort von den Ashton-Arbeiten noch immer überflügelt sein.

Das Liebliche, mitunter fast Süßliche der englischen Klassik-Tradition im Ballett passt denn auch vorzüglich zu Ashtons betont verspielten Choreografien.

International kann man in Frederick Ashton und George Balanchine starke Antipoden sehen: Wo Balanchine den Verzicht auf Schnörkel und Dekoration verlangt, schwelgt Ashton in Ausführungen und Anreicherungen.

Neben der Anmut und der Eleganz ist die ausdrückliche Neigung zur Verspieltheit ein stilistisches Kennzeichen von Frederick Ashton. Und natürlich der so genannte Fred Step (siehe weiter unten).

Das gilt auch für Ashtons abstraktes Meisterwerk „Symphonic Variations“. Die Musik von César Franck stammt von 1885 (Symphonische Variationen für Klavier und Orchester).

Und besieht man sich das Stück für drei Paare, das traditionell in weißen Minis (Damen) und weißen Leotards (Herren) getanzt wird – welche stets antikisierend asymmetrisch geschnitten sind – so überkommt einen der Verdacht, dass Ashton hier eine sogar leicht ironisierende Weiterentwicklung von George Balanchines „Apollon musagète“ von 1928 vornahm.

Ausgerechnet Balanchine, der große Stilist des amerikanischen Balletts, als Inspiration!

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„Symphonic Variations“ beim Royal Ballet in London: eine Augenweide! Foto: Tristram Kenton / ROH

Aber 1946 hatte das auch eine dankbare Note. Denn gerade Balanchine, der als geborener Russe aus der Sowjetunion in die USA ging, um dort als Schulbegründer den Waganowa-Stil des klassischen Trainings zu entschlacken und zu radikalisieren, steht wie kein zweiter Künstler seiner Zeit für die Internationalität des Balletts auch im frühen Kalten Krieg.

Und wären die Nazis ohne die Amerikaner, ohne die Russen besiegt worden? Nur die Briten, nur die Franzosen hätten das wohl nicht geschafft.

Man kann „Symphonic Variations“ also auch als Ausdruck des Triumphs über die Barbarei interpretieren.

Dazu passt das klassisch-antikische Outfit der Protagonisten ganz besonders gut. Auch, dass es viele liebreizende Referenzen in ungezählten Variationen gibt, unterstützt diesen Eindruck.

Die Starballerina Marianela Nunez und ihr junger Partner Vadim Muntagirov tanzten denn auch hervorragend dieses allzeit zur Versöhnung auf höchstem Niveau bereite Ballett, flankiert und unterstützt und ergänzt von Yuhui Choe und James Hay sowie Yasmine Naghdi und Tristan Dyer.

In Zeiten des Brexit erhält es ja ohnehin eine zusätzliche Bedeutung: Ballettkultur als Brücke zwischen den Staaten und Nationen.

Kaum ein anderes Ballett ist so bemüht, dem Frieden ein Gesicht zu geben wie „Symphonic Variations“, zumal, wenn es so entzückend und fließend getanzt wird wie hier.

Dabei beinhaltet es auch, ganz unauffällig, den Fred Step, eine bestimmte Schrittfolge, die von der Arabeske über ein Pas de bourré bis zu einem Pas de chat reicht. Ashton baute diese Kombination, die flink und präzise vorgetragen werden muss, gern in seine Ballette ein, wie eine getanzte Signatur.

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The Fred Step – in vielen Balletten, so in „Symphonic Variations“ und „The Dream,“ baute Frederick Ashton diese bestimmte Schrittfolge ein, die flink und präzise vorgetragen werden muss. Wie eine Signatur! Von der Arabesque bis zum Pas de chat ist er aber ein verkapptes Memo an Anna Pawlowa, die erste Inspiration von Ashton. Faksimile: Wikipedia / Gisela Sonnenburg

Inspiriert ist die zu tanzende Figur von Anna Pawlowa höchstselbst.

Aber auch die Zweitbesetzung, angeführt von der illustren Lauren Cuthbertson und dem jungmännlichen, elegant springenden Reece Clarke überzeugte zur Gänze – selten sieht man Tanz so pur auf die Musik abgestimmt.

Das Mittelstück des Programms riss also mit, egal, welchen der jüngeren Ballettabende man im Royal Opera House besuchte.

Weniger begeisternd war dieses Mal allerdings – entgegen den Erwartungen – der sonst zumeist fabelhafte Steven McRae als Oberon in Ashtons „The Dream“, der den Elfenwaldteil von  William Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“ zur Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy illustriert.

Zwar stimmte McRaes aufwändig-theatralisches Make-up, und auch das fast altertümlich flatternde Originalkostüm des Elfenfürsts (Design: David Walker) bezauberte den Blick.

Aber Steven mutet sich vielleicht manchmal zu viel zu, er tanzt ja seit einigen Jahren auf allen möglichen Hochzeiten sprich Home-and-Gala-Bühnen, und er hat zudem ein ausgesprochen breites Repertoire.

Da lief dieses Mal nur die technische Beherrschung der Schritte und der Posen gut, während das Schauspielerische und Tänzerisch-Darstellerische auf der Strecke blieben bzw. aufgesetzt wirkten und solchermaßen sogar unfreiwillig komisch schienen – statt entweder ernsthaft oder over the top und schlicht funny. Schade. Aber verzeihlich: Auch große Künstler dürfen mal versagen, solange das nicht überhand nimmt.

Das Ballettmeister-Gespann Anthony Dowell und Lesley Collier, die beide 1964 Ashtons Ur-Hauptpaar von „The Dream“ waren, vermochte hier entweder nicht zu helfen oder war – auch das soll bei älteren Leutchen vorkommen – dieses Mal überfordert.

Christopher Carr, Co-Inszenator und Ballettmeister, versorgte das internationale Kino-Publikum denn auch vorsorglich mit einer Erklärung bezüglich des Damen-Corps in „The Dream“: Die Feen seien außerordentlich schwierig zu tanzen. Wenn sie, anstatt leichtfüßig zu tänzeln, ungelenk auf die komplizierte Schrittfolge achten, hat man allerdings diesen Eindruck.

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„The Dream“ von Frederick Ashton am Covent Garden: Steven McRae und Akane Takada ganz fotogen. Foto: Tristram Kenton / ROH

Womöglich gab es für den „Dream“ schlicht nicht genügend Probenzeiten. Sowas kann mal passieren, auch an Spitzenhäusern – es sind eben überall Menschen und keine Roboter zugange.

Und auch McRaes junge Bühnenpartnerin Akane Takada als Titania – in der Erstbesetzung dieser Aufführungsserie – bestätigt diese Vermutung, auch sie zeigte nicht die erwünschte Leistung.

Mit den Wimpern zu klimpern und auf die Sauberkeit der Schritte zu achten, genügt hier wirklich nicht! Titania muss auch bei Ashton eine gute Portion Lüsternheit mitbringen, sonst wirkt ihr Poussieren mit einem geilen Esel, was das Skript nun mal vorschreibt, allenfalls wie schlechtes Kindertheater. Aber wenn sie Sexappeal in den Hüften hat, na, dann geht hier die komödiantische Post ab!

Eine Steilvorlage schufen Ethan Stiefel als Oberon und Alessandra Ferri als Titania vor Jahren beim American Ballet Theatre, und diese Aufzeichnung von „The Dream“, als DVD im Handel erhältlich, hat auch genau den richtigen, nämlich schelmisch-erotischen, dennoch brillant-virtuosen Puck parat: mit Herman Cornejo zu seiner besten Zeit. Das ist wirklich eine sensationelle Aufzeichnung mit exzellenter künstlerischer Darbietung!

Da kommen MacRae und Takada überhaupt nicht mit, auch ihr Puck nicht – er ist kaum der Rede wert – und lediglich das zärtlich-lyrische Liebhaberpaar Hermia und Lysander alias Claire Calvert und Matthew Ball verzauberten beim Kino-Erlebnis aus dem Covent Garden in „The Dream“ zur Gänze.

Soweit die Erstbesetzung.

Überraschend begeisternd dann die Zweitbesetzung dieses Stücks:

Der aus Australien kommende Alexander Campbell, jung, dynamisch, attraktiv und nicht zu stoppen, wenn es um Emotionen geht, gab glaubhaft einen Elfenfürsten Oberon ab, der zugleich als Natur- und Wetter- wie als Rachegott die Arme schwingen kann. Was für ein Ausbund an burschenhafter Männlichkeit, an temperamentvoller Power und auch an tänzerischer Frische!

Wenn er zürnt, o ja, dann ist er eine starke Konkurrenz zu jedwedem Zeus, den sich die Mythologen nur erdenken können. Und wenn er seine Gattin bestraft, um sich dann genüsslich mit ihr zu versöhnen – ach, was für ein souveräner Macker ist er dann.

Seine Lady gibt ihm aber auch Auftrieb!

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Noch einmal das Dreamteam des Ashton-Programms: Zenaida Yanowsky und Roberto Bolle in „Marguerite and Armand“ von Frederick Ashton. Foto: Tristram Kenton / ROH

Die erfahrene Laura Morera, eine gebürtige Spanierin, tanzt seit 1995 im Royal Ballet und ist schon fast eine wandelnde Legende. Sie hat einen Schmiss, den nicht jede Tänzerin vorweisen kann, egal, welchen Alters.

Es ist durchaus ein feines Paar, das sie mit dem stürmischen Campbell abgibt, und eigentlich kann man sich die beiden auch ganz hervorragend als Liebespaar in „Marguerite and Armand“ vorstellen.

Marguerite and Armand“ bot in der Zweitbesetzung jedoch einen anderen weiblichen Superstar als Hauptattraktion: Natalia Osipova.

Die nach London gewechselte gebürtige Russin, die einst am Bolschoi das Publikum regelmäßig zum Freudentaumel brachte, um später zu einer Art sportivem Zirkuspferdchen des Balletts zu werden, scheint sich so langsam wieder an ihre Verpflichtung als Künstlerin zu erinnern.

Als „Giselle“ konnte man sie ja zeitweise als Katastrophe, bestehend aus grobmaschiger Sportlichkeit, empfinden. Aber jetzt dreht die Liebhaberin in ihr wieder auf – und als Marguerite ist sie eine dramatisch-passionierte, originell-widerborstige Verliebte.

So deutlich wie Zenaida Yanowsky konturiert und coloriert sie die Rolle zwar nicht – deren erster Blick auf ihren „Armand Bolle“ ist einfach unvergesslich.

Verliebtheit und alle Magie der Liebe lagen ungebrochen darin.

Während Natalia Osipova diese Szene mehr mit Erstaunen, fast schon mit Entsetzen über die Liebe spielt. Aber, immerhin: Osipova bietet eine eigenwillige, in sich schlüssige Interpretation an, wenig naiv, dafür durchkalkuliert raffiniert.

Ihr Partner Vladimir Shklyarov geht auf diese sehr reife Darstellung der Marguerite allerdings nicht ein. Er spielt und tanzt unverdrossen den selbstvergessen-charmanten, total verliebten jungen Mann – und er scheint vom großen Kummer der Liebe, anders als sie, lange Zeit überhaupt nichts zu erahnen, auch nicht angesichts der Kompliziertheit seiner Partnerin.

So tanzen beide für sich plausibel, nur gemeinsam scheinen sie in ihren Interpretationen der Bühnenvorgänge nicht viel zu haben.

Dabei erfasst doch der Strudel der explosiven Gefühlsmischungen und spontanen Aufwallungen beide Hauptfiguren gleichermaßen, wenn auch auf unterschiedliche Art.

Und ob „Marguerite and Armand“ oder „Die Kameliendame“ – die Stücke sind im modernen Sinn Romantik de luxe.

Schließlich ist es ja so: Wenn man liebend zu Grunde geht, so versüßt und erschwert das starke erotische Begehren den Abschied gleichermaßen. Davon erzählt das Sujet hier.

Frederick Ashton (der 1988 verstarb) veränderte den Handlungsverlauf im Vergleich zum Roman „Die Kameliendame“ zu Gunsten diesbezüglich eingängiger Szenarien.

Viele weitere Aspekte des Romans ließ er entfallen, es ist ja auch kein abendfüllendes Stück, sondern ein 40-Minüter.

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In einem Meisterwerk von John Neumeier, das nach „Marguerite und Armand“ entstand: Lucia Lacarra und Marlon Dino in „Die Kameliendame“, fotografiert von Charles Tandy beim Bayerischen Staatsballett (bevor man Lacarra und Dino dort unverständlicherweise vor die Tür setzte).

Seine größte Bedeutung hat das Ballett „Marguerite and Armand“ als Vorläufer für John Neumeiers Jahrhundertwerk „Die Kameliendame“ (1978 / 1981). Dieses – abendfüllend, stärker am Roman orientiert und reich auch an bedeutenden Nebenhauptrollen – zitiert bewusst einige wichtige Hebungen und Synchronschritte des Liebespaares aus „Marguerite and Armand“. (Gleich zwei sehr gute Aufzeichnungen des Neumeier-Stücks sind als DVD im Handel erhältlich!)

Und auch Kostüme und Musikfindung – Klaviermusik der Romantik! – erinnern teilweise an Ashtons wunderbare Schmonzette. Dennoch hat Neumeier ein ganz eigenes Stück kreiert. Aber um es ballettgeschichtlich gut einordnen zu können, ist die Kenntnis (und auch der Genuss) von Ashtons „Marguerite and Armand“ durchaus hilfreich.

So greift an diesem Abend mit Frederick Ashton Eines in das Andere.

Man findet zurück zu William Shakespeare (mit „The Dream“) und voran zu John Neumeier („Marguerite and Armand“), der übrigens – als Tänzer – auch mal beim Royal Ballet anfing.

Man begreift die Zeitgeschichte (mit „Symphonic Variations“) und sieht zugleich das dialektische Widerspiel Ashtons mit dem Werk von George Balanchine (ebenfalls mit „Symphonic Variations“).

Kevin O’Hare hat also sehr gut daran getan, diese drei Stücke miteinander zu kombinieren – auch, wenn sich das erst nach der näheren Betrachtung fundiert erschließen mag.

Frederick Ashton aus London ist toll

Blumen und Ballett gehören zusammen wie Frederick Ashton und der Fred Step… weil sie zusammen einfach schön sind! Foto einer blühenden Deutzie: Gisela Sonnenburg

Dass das Royal Opera House zudem ein Haus äußerster Freundlichkeit und Zuvorkommenheit ist, zeigte sich auch später beim Bühnenausgang.

Da regnete es nach der letzten Vorstellung der Saison, jener mit Natalia Osipova in „Marguerite and Armand“ am letzten Samstag, in Strömen – aber der Pförtner wusste die wartenden Fans freundlich herein ins Trockene zu winken. Die gute Laune bei den Autogrammjägern war denn auch sprichwörtlich: at it’s best!
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg

www.roh.org.uk

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