Das charmante Lächeln sprüht nur so aus ihren schönen Augen. Auch der Mund lächelt, aber der Glanz in den dunklen, mysteriösen Augen von Hyo-Jung Kang überstrahlt alles. „Kio-Dschun“ wird ihr Vorname ausgesprochen, und zwar auf indonesisch. Aber Hyo stammt aus Seoul in Südkorea, wo man den ersten Teil ihres Namens „Chüo“ ausspricht. Trotzdem lässt sie sich gern „Kio“ rufen: Da können Nichtasiaten nicht so viel falsch machen. Seit sie 13 Jahre alt ist, kennt Hyo den Westen. Sie ging für eine qualitätsvolle Ballettausbildung an die Kirov Ballet Academy in Washington, USA. Was sie dann 2009 als „Dornröschen“ beim Prix de Lausanne zeigte, war schon überwältigend: grazile Armposen, Attitüden à la Makarova, eine akkurate Musikalität, schwerelose Sprünge, dazu Frische und Freundlichkeit im Ausdruck – und ein bildschön proportionierter Mädchenkörper. Was sich in Lausanne auftat, war für Insider einer dieser „A star is born“-Momente. Sie gewann denn auch das Stipendium, das ihr Leben prägte, bezahlt vom Juwelier Cartier: ein Jahr auf der Stuttgarter John Cranko Schule, für die letzten Schliffe. Seither glänzen ihre Augen stetig im Scheinwerferlicht. Aber das Wichtigste an Hyo ist – mit Verlaub – nicht ihr geheimnisvolles Augenpaar, sondern ihr elegant geschwungener Körper. Sanft neigt sich ihr Hals… und zwar lieblich zur Seite, zielbestimmt nach vorn und mutig im Cambré rückwärts dem Himmel zu. Als „Giselle“ hat sie so kürzlich beim Wiener Staatsballett, ihrer aktuellen Company, entzückt.
Und sie überrascht. Denn sie ist keines der üblichen, etwas leichtlebigen Flittchen in dieser Titelrolle, sondern eine scheue, dennoch vor Leidenschaft still vor sich hinbrennende junge Frau. Die Liebe hat Giselle hier regelrecht überfallen und – vor allem im zweiten Akt – aus dem zurückhaltenden Mädchen eine kämpferische Amazone gemacht. Ihr perfekter Partner als Albrecht, der diese ungewöhnliche Giselle liebt, betrügt und weiter liebt: Brendan Saye, gebürtiger Kanadier und von einer noblen Souveränität, die an Erik Bruhn erinnert. Hyo-Jung Kang schwebt in seinen Händen, vor ihm, neben ihm, über seinem Kopf; sie biegt sich in den edelsten, zugleich natürlich wirkenden Formen.
Die Schultern bleiben dabei ruhig. Ganz still. Wie das Zentrum eines Hurricane. Aber darunter, oh, da tobt das Leben. Sichtlich. Der Leib schwingt, die Beine swingen. Wenn auch von der goldenen Leine des Rhythmus in der Musik gezügelt, frei nach Schiller gesagt. Ballett ist keine Tanzkunst, um sich gehen zu lassen und das dann Ekstase zu nennen. Ballett bedeutet Körperbeherrschung, Muskelkontrolle, Disziplin. Ballett bedeutet zudem höchste Passion, Lust, Hingabe. Wer das vergessen hat, schaue sich den Tanz von Hyo-Jung Kang zur sich einbrennenden Erinnerung an. Sie ist die Anmut in Person.
Aurora, die Prinzessin und Titelheldin in „Dornröschen“, ist ihre Schicksalspartie, wenn man so will. In Lausanne hat sie damit ihr Leben geändert. Und auch in Stuttgart ließ der Esprit von Aurora sie nicht los. Als die vorgesehene Besetzung für die Hauptrolle in diesem Märchenballett – in der Version von Marcia Haydée – sich verletzte, sprang Hyo als blutjunge Tänzerin ein. Plötzlich war sie der Star, den man einige Jahre zuvor in Lausanne schon erahnen konnte. Zart und zierlich, aber auch zielsicher und eifrig ist diese Aurora, die schon durch ihr hoheitliches Naturell mit der Natur und den heiligen Geistern spirituell verbunden scheint. Trotz oder wegen der vielen Stunden Fleiß und Schweiß, die es gekostet hat, einen Körper so weit zu bringen.
Die Tanzarbeit auf Zehenspitzen, auf halber Spitze, auf flacher Sohle sowie beim Springen und Drehen in der Luft hört für eine Tänzerin nie auf.
Und auch „Dornröschen“ bleibt nicht „Dornröschen“. Heuer tanzt Hyo-Jung Kang in Wien die viel modernere Märchen-Version von Martin Schläpfer – „und es hat sich angefühlt, als wäre es ein ganz neues Stück“, sagt die Ballerina.
Obwohl etliche klassische Passagen aus der Originalchoreografie von Marius Petipa eingeflochten sind, bietet die Schläpfer’sche Fassung eine konkret neue Interpretation, die das Märchen in eine psychologisch spannende Welt einbettet. Die beiden Feen, die Gut und Böse verkörpern, sind darin am Ende ein lesbisches Paar, der Wald ist von einem Faun und einer passenden Wilden verkörpert, und die Eltern von Dornröschen führen zunächst eine ob unerfüllten Kinderwunsches nicht nur harmonische Ehe. Das Rosenadagio darf Aurora mit ihren Verehrern gleich zwei Mal tanzen, und der Prinz, der sie schließlich vom Dauertiefschlaf erlöst, ist sensibel und empathisch, also ein Gegenpart zu den typischen Draufgängern. Brendan Saye begeistert auch in dieser Rolle. Er steht für Virtuosität, die sich aus der Normalität entwickelt. Auch dieser Prinz wird erst durch die Liebe so richtig wach. Den grandiosen Schmelz, das große Gefühl aber trägt die Titelpartie ins Stück.
Perfektion ist ein Aspekt der Aurora, auf den viele Primaballerinen sich beschränken, wenn sie die Rolle anfassen. Dornröschen ist das perfekte Märchenmädchen, dazu die perfekte Tänzerin – und alles kommt wie im Schlaf… Die Kostümvielfalt, das üppige Bühnenbild, die manchmal pompöse Musik verführen dazu, das zu glauben. Aber das Libretto ist eindeutig: Auch die psychologische Entwicklung von Dornröschen ist wichtig, vom unschuldigen süßen Girl zur sehnsüchtigen jungen Frau.
Wenn Hyo-Jung Kang die Aurora tanzt, personifiziert sie die vollendete Verschmelzung von Natur und Kunst, von Glück und Pech, von Naivität und Allwissenheit. Jede Neigung des Kopfes, jede Hebung eines Arms und erst recht jede Bewegung eines Beines oder Fußes bringt die charakterlichen Facetten dieser kleinen Majestät zum Vorschein. Aurora hat Temperament und viel Talent zum Glücklichsein. Dennoch liegt ein ernster Grund bei ihr auf der Hand – und dem freudigen Geben folgt erst nach langem Traum ein erlösendes Nehmen. Und so wird diese Aurora vor unseren Augen zur Frau. Es ist großartig, das zu sehen. Zumal Hyo-Jung Kang ihre Interpretation eins weiß mit der Musik, mit den schier duftenden Melodien, die der Aurora zugeschrieben sind.
Die bedeutende Musik von Peter I. Tschaikowsky liegt der Tänzerin aus Seoul vielleicht auch deshalb so, weil sie als Heranwachsende viel Klavier spielte und auch Gesangsstunden nahm. Einer ihrer Großväter war Dirigent und Musikprofessor, eine Tante war Opernsängerin. Am Ballett reizt Hyo aber etwas, das sie als Musikerin womöglich nicht so hautnah tagtäglich erfahren würde wie als Körperkünstlerin: „Alles ist immer wie neu, wie erneuert, und obwohl man sich so vieles immer wieder erarbeiten muss, kommt eben auch sehr viel zurück.“
Dankbarkeit empfindet sie vor allem für die früheren Chefs und Kollegen vom Stuttgarter Ballett, denen sie sich eng verbunden fühlt, mit denen sie viele Erinnerungen teilt. Und es gibt sogar etwas, das sozusagen nachzuholen wäre zwischen Hyo-Jung Kang und Stuttgart.
Eine Partie muss da in diesem Sinne nochmal auf sie zukommen: Der „Boléro“ von Maurice Béjart. Hyo hat ihn in ihrer Stuttgarter Zeit einstudieren sollen, sie beschäftigte sich mit der Choreografie der Zentralfigur – und kam wegen der Corona-Pandemie nicht bis zum Bühneneinsatz damit. Man schließt heute die Augen und sieht es vor sich: Diese „Boléro“-Besetzung würde viel weibliche Eleganz und femininen Ausdruck in das Solo tragen. Bei der Uraufführung war es ja auch weiblich besetzt, was angesichts berühmter männlicher Interpreten oft vergessen wird.
Ballett hat die Leichtigkeit des Schmetterlings und die Geschmeidigkeit der Gazelle. Eine animalische Kunst, aber nicht im bestialischen Sinn.
Diese pure Kraft der zarten Körperlichkeit zeigt Hyo-Jung Kang auch im knallgelben Leotard in einer von Schläpfer wiederentdeckten Choreografie von Heinz Spoerli: in dessen „Goldberg-Variationen“. Etliche Ballette von John Neumeier finden sich darin zitiert, vor allem die „Matthäus-Passion“ – aber Spoerli prägte auch seinen eigenen Stil damit, neoklassisch zum Einen, spontan-modern zum Anderen.
Wenn Hyo in Bälde den kantig-elastischen Pas de deux aus „In the Middle, somewhat elevated” von William Forsythe tanzen wird, kann sie an diese Offenbarung anknüpfen. Zuvor aber stehen die „Goldberg-Variationen“ auf dem Wiener Spielplan – und dann das „Dornröschen“ von Schläpfer mit seinen fantasievollen Neuerungen.
Aber auch die dunkle Seite der Lust kann Hyo-Jung zeigen. In „Le jeune Homme et la Mort“ von Roland Petit tanzte sie die tödliche Geliebte als elegante, gestrenge Führerin, als Dame von Welt, als Diva – nicht als klischeebesetzte, harsche Domina.
Beim Zusammenspiel mit ausgesprochen burschenhaften Tänzern wie Marcos Menha oder Davide Dato in Wien wirkt Hyo brillant und überlegen. Auch wenn sie selbst mädchenhaft erscheint: Sie kann auch die reife Dame darstellen. So führte sie schon in Stuttgart die jüngeren Kollegen vollendet, so Adhonay Soares da Silva und Ciro Ernesto Mansilla.
Im kommenden Jahr wird „Die Kameliendame“ von John Neumeier in Wien einstudiert, erstmals. Hyo kennt das weltbekannte, klassisch-moderne Tanzdrama aus ihrer Zeit beim Stuttgarter Ballett. Damals tanzte sie die lyrische Manon Lescaut, eine Art literarische Wiedergängerin der Hauptperson Marguerite. Ob Neumeier beim Besetzen für 2024 endlich das große dramatische Potenzial von Hyo-Jung Kang für die Titelrolle entdecken wird? Wer sie als tragisch liebende Tatjana in John Crankos „Onegin“ gesehen hat, zweifelt keinen Bruchteil einer Sekunde, dass sie eine begeisternde, mitreißende, rührende Marguerite abgibt.
Einer anderen Choreografie von John Cranko ist Hyo ebenfalls sehr verbunden. Aus biografischen Gründen sogar noch inniger. Es ist die Julia aus Crankos „Romeo und Julia“. Tamas Detrich, damals hart arbeitender Ballettmeister, heute leicht überforderter Ballettintendant in Stuttgart, probte mit ihr die Partie. Akribisch und unnachgiebig. Er ließ ihr kein noch so winziges unpassendes Detail durchgehen. Am Ende der Probenserie war Hyo verwandelt. Sie war jetzt diese junge, impulsive Italienerin, die das größte Glück ihres Lebens verliert, bevor sie es wirklich erhalten hat. Das Publikum fühlte es: Hyo war eine Julia, wie man sie noch nie gesehen hatte. Obwohl es so viele auch prominente Julien bereits gab: Hyo ist eine weitere, eine, die ihren Romeo besonders inniglich liebt. Nach ihrem Rollen-Debut 2011 wurde sie denn auch zur Ersten Solistin gekürt. Das war ein Abend, sagt Hyo, den sie nie vergessen wird.
Die beiden gegensätzlichen Schwestern in „Onegin“ hat sie ebenfalls neu geprägt. Ihre Olga ist larmoyant, nicht nur scherzend. Und ihre Tatjana, die sie als Gast auch beim Staatsballett Berlin zu einer hoch dramatisch an der Liebe leidenden Tanzgöttin machte, ging so unter die Haut, dass es schwer ist, die Partie danach in anderer Besetzung noch zu genießen.
In Wien führte dieses Stück dazu, dass Jason Reilly aus Stuttgart für einen verletzten Kollegen einsprang und man das einstige Dreamteam Kang-Reilly noch einmal zusammen erleben konnte. Doch das ist Vergangenheit: Brendan Saye ist in der Tat ein ebenso faszinierender Dandy als Eugen Onegin.
Auch das dritte weltberühmte Handlungsballett von Cranko, „Der Widerspenstigen Zähmung“, war mit Hyo-Jung Kang in der Titelrolle ein Augenschmaus. Fetzig und dennoch feminin gestaltet sie die zuerst akrobatisch-trotzige, dann gediegen-anschmiegsame Frauenpartie.
Die Klassiker, Odette / Odile in „Schwanensee“ etwa, Kitri in „Don Quixote“, „Giselle“, „La Sylphide“ und eben die Julia und das „Dornröschen“, bilden die Grundlage des breiten Repertoires dieser superben Ballerina. Hochkarätige Stücke von George Balanchine, Itzik Galili, Johan Inger, aber auch von Roland Petit, Hans van Manen und Jerome Robbins verfeinern es.
Beim Stuttgarter Ballett tanzte Hyo zudem etliche Uraufführungen, von denen aber – was am desolaten zeitgenössischen Premierenprogramm der Stuttgarter liegt – bei genauerem Hinsehen kaum etwas nennenswert ist. Was nicht an der Tänzerin, sondern an den Choreografen liegt.
Hyo-Jung Kang ist intelligenter als andere Tänzerinnen. Dabei geht es mal nicht darum, wie schnell eine Choreografie auswendig gelernt wird. Sondern es geht darum, die Unterschiede zwischen einzelnen Themen und verschiedenen künstlerischen Ausarbeitungen zu erkennen. Darum wusste sie, dass sie sich in Stuttgart nicht mehr verbessern konnte. Sie musste die neuen Herausforderungen woanders suchen und finden.
Seit 2021 tanzt sie jetzt in Wien – und meistert eine große Partie nach der nächsten. Auch mit dem Ballettchef Martin Schläpfer arbeitet sie viel an dessen Choreografien – und kommt in seinen Stücken „Marsch, Walzer, Polka“, „Ein deutsches Requiem“ und „Die Jahreszeiten“ ebenso zur Geltung wie als Aurora im modern aufgemotzten Klassiker „Dornröschen“. Dennoch ist die letztgenannte Partie zweifellos eine, die das Ballerinenleben von Hyo-Jung Kang geprägt hat wie keine zweite.
Dass jüngst bekannt wurde, dass Alessandra Ferri die kommende Ballettdirektorin in Wien sein wird, freut Hyo-Jung Kang: „Sie war und ist ein Idol für so viele Tänzerinnen, mich eingeschlossen.“ Und: „Es ist absolut inspirierend zu wissen, dass eine solche Frau mit viel Erfahrung und Kunstfertigkeit 2025 das Wiener Staatsballett übernehmen wird.“
Hyo-Jung Kang gehört zudem zu jenen Menschen, für die das Lernen im Leben nicht endet. Sie ist neugierig und kann es sich auch für sich gut vorstellen, nach der aktiven Tänzerkarriere eine Ballettdirektorin zu sein. Den feinen Stil, den guten Geschmack, die Willenskraft, das Flair wie das Knowhow hat sie. Viel Glück!
Gisela Sonnenburg
Ab morgen, 07.11.23, ist Hyo-Jung Kang wieder in den exquisiten „Goldberg-Variationen“ von Heinz Spoerli zu sehen. Und ab dem 27.11.23 – bis in den Dezember hinein – in ihrer Paraderolle als „Dornröschen“.