
Das „Requiem“ von Kenneth MacMillan nimmt die Trauerszene einer geopferten Kunst vorweg, wenn man so will. Foto: Stuttgarter Ballett
Er ist für manche Compagnien ein wirksamer Werbe-Event: Der World Ballet Day, wie das Ballett-Journal 2014 gegründet, ist ein Social-Media-Ereignis par excellance. Weltweit laufen einmal im Jahr die Livestreams heiß, über die man einen Tag lang live in Ballettsäle und auf Probebühnen gucken kann: um seine Ansprüche zu schärfen und den kunstliebenden Augen ein Backstage-Vergnügen zu gönnen. Seit letztem Jahr werden die Russen mit ihren weltwichtigen Ensembles allerdings ausgegrenzt – das ist ein Diskriminierungsakt aus politischen, wenn nicht rassistischen Gründen. Die USA haben in diesem jungen Jahrhundert zwölf Angriffskriege gestartet und Millionen von Zivilisten getötet, ohne dass es eine einzige Sanktion gegen sie gab. Sie sind die Gewinner des Ukraine-Kriegs, den sie vorbereitet und provoziert haben, und sie werden auch von der blutigen Krise im Nahen Osten profitieren, vor allem, wenn der Iran, wie angedroht, Israel angreifen sollte. Ost und West wurden stärker voneinander getrennt, als es im Kalten Krieg jemals der Fall war. Aber wir im Westen tanzen, tanzen, tanzen, als gebe es nur das Genussleben auf dieser Welt. Kann das noch Kunst sein? Vom Bolschoi Ballett in Moskau, dem Olymp des Balletts, mag man milde auf uns herablächeln oder auch sehnsüchtig herüberschielen: Russland fehlt uns in der Garde der Compagnien, die sich dieses Jahr online präsentiert, und kein Pirouettenwirbel aus London, Dresden oder München, aus Sidney, Stuttgart, Hongkong oder Monte-Carlo kann das kompensieren. Der aus Berlin schon gar nicht.

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Darum sei daran erinnert, dass zum Beispiel auf YouTube auch Videos vom Mariinsky und Bolschoi, aus Perm und Novosibirsk zu bewundern sind. Und alle wissen, dass sich der klassische Tanz über die Jahrhunderte nur durch das Zusammenspiel von West- und Osteuropa so weit entwickeln konnte, wie es der Fall war. Sollen wir jetzt wirklich getrennte Wege gehen? Das tut weh.

Küsse einer verbotenen Liebe: „Romeo und Julia“ von David Dawson, getanzt vom Semperoper Ballett in Dresden. Foto: Jubel Battisti
Der World Ballet Day müsste also eigentlich Half World Ballet Day heißen – und man kann darüber sinnieren, wo sich die Ballettkunst künftig stärker entfalten wird, ob im immer abstrakter werdenden, technikfixierten Westen oder in Russland, wo das Handlungsballett auch in modernen Formen blüht und gedeiht.
Und weil der Westen werbesüchtig ist und nach jedwedem Jubiläum greift, das zu haben ist, verkünden die Veranstalter stolz, es gebe jetzt seit 10 Jahren den World Ballet Day – aber das stimmt nur, wenn man anders rechnet als allgemein üblich.
Außerdem gibt es noch eine Änderung: Es handelt sich nicht mehr, wie früher, immer um echte Livestreams, sondern oft um vorher aufgezeichnete Videos, die zu der angegebenen Uhrzeit lediglich online gesetzt werden (zumeist bei YouTube, wo man sie sich auch in aller Ruhe später ansehen kann). Der WOLRD BALLET DAY wurde so zu einer echten Mogelpackung.
Viel Spaß trotz allem!
Gisela Sonnenburg
Am 01.11.23 live auf: