Von der Sehnsucht nach anderen Sphären Dem Staatsballett Berlin gelingt mit zwei Choreografien von „Maillot / Millepied“ ein Abend mit virtuos getanztem Fernweh

Zwei Choreografen - ein Abend.

Applaus nach „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot für das Staatsballett Berlin in der Deutschen Oper Berlin. Kein leichtes Stück! Aber ein schönes… Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Der Choreograf Jiří Kylián sagte mal, dass all seine Ballette um die Liebe und um den Tod kreisen würden; im Grunde sei das sogar als Triangel zu verstehen, es ginge nämlich im weiteren Verständnis um das Leben, die Liebe und den Tod. In diesem Sinne wirkt auch der neue Abend beim Staatsballett Berlin (SBB) in der Deutschen Oper Berlin, der in guter SBB-Tradition nach den hier wirkenden Choreografen schlicht „Maillot / Millepied“ benannt ist.

Jean-Christophe Maillot, Ballettchef in Monte-Carlo, steuerte mit „Altro Canto“ ein sinnenhaft-düsteres Piece von großem ästhetischen Reiz bei. Von seinem früheren Pariser Amtskollegen Benjamin Millepied kommt mit „Daphnis et Chloé“ ein veritables Stück der modernen Ballettmusikhistorie, komponiert von Maurice Ravel. Tänzerisch ist es bei Millepied klassisch inspiriert, aber mit unerwarteten Pointen aufbereitet.

Vor allem aber bezaubern die Tänzerinnen und Tänzer vom SBB an diesem Abend: glatte zwanzig sind es im ersten, 25 im zweiten Stück. Es ist schon schier unglaublich, welche souveränen künstlerischen Leistungen dieses politisch so stark unter Druck stehende Ensemble sich hier abringt. Das gilt für die Solisten ebenso wie für den Corps – den Künstlern kommt dieses Mal allerdings auch zu Gute, dass die choreografischen Handschriften von Maillot und Millepied hervorragend zum Stil von Nacho Duato, dem Berliner Ballettchef, passen.

Jedenfalls beweist die Truppe einmal mehr, dass sie nicht nur ein großartiges klassisches Profil hat, sondern die zweite Seite der Medaille „Ballett“, also die moderne, ebenfalls voll auszureizen weiß. Tobias Ehinger, Ballett-Manager in Dortmund bei Xin Peng Wang, meint denn auch sogar, das Berliner Staatsballett habe von allen ihm bekannten internationalen Compagnien das größte Potenzial.

Als wolle das SBB ihm Recht geben, ließ es sich auf die neuen Aufgaben rückhaltlos ein.

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Das Publikum versteht die festlich vorgetragenen Emotionen dieses Stücks: Applaus nach „Altro Canto“ beim Staatsballett Berlin in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Tatsächlich findet man hier vorzügliche Ballerinen und Ballerini, nahezu für jeden ballettösen Zweck so einige. Und in der Gruppe, also als Ensemble, das synchron und harmonisch funktionieren muss, ist es bei genügend Probenarbeit fast nicht zu übertreffen.

Insofern ist dieser Abend Pflicht für alle, die Ballett als Ballett genießen wollen!

Wer zudem frankophil ist, hat hier ebenfalls gut lachen. Zumal das Premierendatum mit dem 22.1.17 auf den Jahrestag des 1963 geschlossenen Elysée-Vertrages fiel. Dieser Vertrag besiegelt die Freundschaft zwischen Frankreich und Deutschland, zwei Nachbarländer, die sich schrecklicherweise jahrhundertelang immer wieder als Erbfeinde sahen.

Frankreich in Berlin beim Ballett zu Gast – das kann ja nur Gutes verheißen!

Maillot und Millepied sind beide gebürtige und gebliebene Franzosen, wobei Maillot seit 1993 fest in Monte-Carlo in Monaco arbeitet, während Millepied als Gatte der Hollywood-Ikone Natalie Portman zumeist in den USA lebt. Allerdings hat er dort gerade akute Probleme mit seiner Greencard, weshalb er leider nicht zur Premiere in Berlin anreisen konnte.

Wir wünschen Benjamin Millepied alles Gute bei der Bewältigung dieses Bürokratieproblems und hoffen, dass sich mit diesem nicht ein neuer Trump’scher Ton ankündigt, der es ausländischen Künstlern in den USA schwer macht.

Aber nun zunächst bitte zu Maillot!

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Bei der Einführungsveranstaltung im Institut francais in Berlin: Links Sébastien Marcovici (der Benjamin Millepied vertrat) und rechts Jean-Christophe Maillot erklärten die Kunst von „Maillot / Millepied“. Foto: Gisela Sonnenburg

Er stammt aus Tours in Frankreich (nicht aus Tours en l’air, das müssen wir erst noch gründen, wenn dieser Scherz erlaubt ist). Seine Ausbildung erhielt er in Klavier und Tanz am dortigen Konservatorium, bis er in Cannes Tanzstudent von Rosella Hightower wurde. 1977 gewann er den Prix de Lausanne, den bedeutenden internationalen Nachwuchswettbewerb für werdende Balletttänzer, und ging ein Jahr später zu John Neumeier zum Hamburg Ballett.

Fünf Jahre tanzte er hier, bis eine Verletzung am Knie seine aktive Bühnenkarriere abrupt und auch noch kurz vor der Premiere als Titelheld von „Romeo und Julia“ beendete. Seine Lieblingspartie als Ballerino war übrigens der Armand in Neumeiers „Die Kameliendame“, den er mit großem jungmännlichen Charme und fast todessüchtiger Ergebenheit zu gestalten wusste.

Seine Frau, so erzählt Maillot heute, sieht sich ebenfalls gern mit ihm die alten Fotos an, zumal er damals, als die zwei sich noch nicht kannten, noch ein gut mit Kopfhaar bestückter Blondschopf war. Dabei gehört Maillot zu jenen wenigen Männern, die Glatze wirklich gut als modisches Accessoire tragen können.

Und Mode spielt in Monaco eine nicht ganz geringe Rolle. Der europäische Zwergstaat der Reichen und der Schönen, diese rundum videoüberwachte Oase prominenter Steuersünder und eines illustren Hochadels ist denn auch künstlerisch von starken Ästhetiken, weniger von Inhalten geprägt.

Das ist der Nachteil, wenn man im Land ewiger Sonne lebt: Monte-Carlo ist undenkbar als Entstehungsort für Produktionen, in denen das wahre Leben naturalistisch, dreckig oder expressiv heraus schreit. Vielmehr fließen hier die Förder- und Sponsorengelder für das Elegante, das Erhabene, das Fashionable. Die modebewusste Prinzessin Caroline hat sich ja viele Jahrzehnte stark für das Ballett und seine Förderung eingesetzt.

Als ballettöser Problemwälzer ist Maillot denn auch gerade nicht bekannt.

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Jean-Christophe Maillot (mittig), Bernice Coppieters (auch in Schwarz) und das SBB nach der Premiere von „Altro Canto“ in der DOB. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber er ist eng verbunden mit seiner Wahlheimat. In der Hochzeit des monegassischen Balletts konnte Jean-Christophe Maillot sich denn auch nicht entschließen, seine Stücklizenzen an andere Compagnien zu verkaufen. Für ihn, so sagte er bei einer Einführungsveranstaltung im Institut français in Berlin, gehöre jedes Stück im Grunde auf immer und ewig zu den Tänzern, die es mit ihm kreierten. Das sei seine Sicht auf die Dinge – das Publikum aber sei selbstredend von solchen Zwängen frei und solle ohne Vorbehalte auf seine Arbeiten sehen, welche Compagnie auch immer sie gerade interpretiere.

Die Tänzerinnen und Tänzer vom SBB lobte Maillot auf meine Nachfrage ausdrücklich: Sie seien hungrig, neugierig, klug, in der Zusammensetzung schön proportioniert – und sehr, sehr, seeeeehr sympathisch. Seine Ängste, so Maillot weiter, dass diese „kampferprobte“ Truppe sperrig oder unzugänglich sein könnte, seien rasch einer großen Erleichterung gewichen: „Das hier ist eine höchst lebendige Compagnie, und das sieht man schon in ihren Augen!“

Den Plan des Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD), dem SBB die Tanztheaterchoreografin Sasha Waltz im Verein mit dem Jungballettdirektor Johannes Öhman als kommendes Intendantenduo aufs Auge zu drücken, findet Maillot denn auch skandalös, absurd, unhaltbar. „Dann wird niemand mehr auf die richtigen Linien und Fußstreckungen achten können“, das sagt ein Jean-Christophe Maillot, der mit Auslandsarbeiten etwa am Bolschoi in Moskau nun wirklich nicht eben wenig Erfahrung in der Ballettwelt hat. Und er hat ja Recht: Wenn die Chefs nicht verstehen, was eine auf Ästhetik und Klassik getrimmte Company tun muss, um sich fit zu halten, dann fehlt die Motivation, sich in dieser Hinsicht anzustrengen. Niemand kann gegen seine Chefs antanzen – das funktioniert bei einer so körperbezogenen Arbeit eben nicht.

Jean-Christophe Maillot hat von seiner Meinung zu diesem Thema übrigens selbst keine Vorteile, er argumentiert rein sachlich.

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Und noch ein Applaus für das Staatsballett Berlin für seine edelmütige, tiefsinnige Interpretation von „Altro Canto“. Foto: Gisela Sonnenburg

Als er in Monaco 2006 „Altro Canto“ choreografierte, dachte er allerdings weder an Berlin noch an eine von Zwangsvereinnahmung durch Tanztheater bedrohte Compagnie.

Vielmehr war es die „kinetische Kraft“ (Maillot) der barocken Musik von Claudio Monteverdi, die den Choreografen inspirierte.

Annabelle Salmon (szenische Einrichtung) und Dominique Drillot (Licht) schufen ihm eine höhlenartige Dunkelheit auf der Bühne – mit sakraler Anmutung, die von echten, großen Kerzen weniger beleuchtet als vielmehr punktartig erhellt wird.

Die Kostüme von Modezar Karl Lagerfeld tragen einerseits dem monegassischen Fashion-Faktor Rechnung, andererseits betonen sie die Androgynität des modernen Balletts.

Die Jungs dürfen hier auch mal aufgeplusterte Röckchen tragen, manche Mädchen elegante, eng sitzende Hosen.

In weiten Teilen ist „Altro Cantro“ aber ein Männerballett, und der Titel, der aus dem Italienischen übersetzt „Auf der anderen Seite“ heißt, ist denn auch mehrdeutig zu verstehen.

Unter einer einzelnen brennenden Kerze tanzt hier, anschmiegsam miteinander dahin gleitend, ein Frauenduo.

Es sind Aurora Dickie und Ekaterina Petina.

Der Monteverdi-Gesang verleiht ihrem langsam geatmeten Tanz den Charakter einer Zeremonie. Pendelbewegungen und Posen wechseln einander ab, flatternde Hände ergänzen die runden Armbewegungen.

Das leise Vergnügen gepflegter Gemeinschaft geht von dem Paar aus.

Aber da ist noch etwas, das mit im Raum schwebt und im Laufe des Stücks immer stärker wird: Es scheint sich bei der Kerzenhöhle um eine Gruft zu handeln, und ob die tanzenden Figuren wirklich lebende Menschen darstellen oder eher doch bewegte Untote, also Geister, die sich an einem heimeligen Ort versammeln, bleibt die große Frage.

Die „andere Seite“ aus dem Stücktitel wird immer mehr eine des Todes, soviel ist sicher.

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Ekaterina Petina (links) und Aurora Dickie (rechts) tanzen den ersten Paartanz in „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot. Wunderschön! Foto: Yan Revazov

Noch aber halten Freundschaft und Liebe die Menschen beisammen. Das Damenpaar legt je eine Handfläche aneinander und fällt in den Ausfallschritt – wunderschön sieht das aus!

Wie ein Denkmal der göttlich-gebenden Liebe (Agape), die die frühen Christen der erotischen und platonischen hinzu fügen wollten.

Auch wenn zwei Damenpaare tanzen, ergibt sich erneut dieser Eindruck: möglichst viele nicht eindeutig zu bestimmende Formen von Liebe formulieren sich hier.

Wenn die Musik (die hier vom Tonband kommt) für einige Momente verstummt, wechseln die Tänzer – aber das unsichtbare Band des choreografischen Gefühlsflusses bleibt dasselbe.

Ein absolut bemerkenswerter Anblick ist dann der Pas de deux von Marian Walter und Arshak Ghalumyan. Letzterer, ein wirklich betont männlich-markanter Ballerino, nimmt hier den Damenpart ein, und das ist sowohl für ihn als auch für uns, sein Publikum, etwa sehr Neues.

Im Röckchen lässt er sich von dem behosten und nun besonders zackig-streng auftretenden Marian Walter über den Boden wälzen, durch Arabesken führen und in der Luft wie am Boden locker hin- und herbewegen. Ghalumyans Arme schlenkern im Takt, den Walter angibt, er biegt und schlängelt und krümmt sich, wie sein Meister es ihm gebietet – wer hier wen verführt, ist offenkundig: Beide wollen dieses Rollenspiel, sie verführen sich gegenseitig.

Auch das also kann eine „andere Seite“ sein…

Schließlich leitet Marian Walter sein „Spielzeug“ sanft in einen Kopfstand, den Arshak Ghalumyan höchst elegant auszuführen weiß.

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Und ab nach vorn zum verdienten Applaus! Das SBB mit Arshak Ghalumyan (rechts außen) und Marian Walter (daneben)  beim Applaus nach „Altro Canto“. Foto: Gisela Sonnenburg

Ja, die Welt steht Kopf, warum soll man sie da nicht in seiner Innenansicht solchermaßen wiederum selbst auf den Kopf stellen!

Das Experiment ist so verlockend, dass ein dritter Tänzer, der vorbei spaziert kommt, sich daran beteiligt. Erst löst er Marian Walter ab, dann geht er selbst auch in den Kopfstand.

Und Walter hat nun zwei schöne außergewöhnliche Jungs zu beaufsichtigen.

Aus dem exotisch-erotischen Pas de deux wird ein Pas de trois.

Man denkt an die Choreos von Nacho Duato, auch an die von Kylián (den ich eingangs zitierte).

Manches bei Maillot ist aber auch von John Neumeier geprägt – unübersehbar.

Wie sich die Körper synchron zusammen finden, dann wieder auseinander streben, miteinander tanzen, dann solistisch – das erinnert schon sehr an Stücke wie „Messias“ oder die „Matthäus-Passion“, von Neumeier, die ebenfalls zu Barockmusik (von Johann Sebastian Bach) geschöpft wurde. Und auch Nacho Duatos Bach-Ballett „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ ist hier nicht ganz fern.

Das Ensemble springt zwischendurch in die Luft, greift dort nach etwas, formuliert ein Sehnsuchtsstreben und ein Begehren, das ohne Aggression, aber mit viel Zärtlichkeit voran getrieben wird.

Schließlich sind es vier Männerpaare, die die Szene beherrschen.

Es sind Paare, die einander helfen, einander körperlich zu stützen wissen. Am Boden liegend, sich ansehend, legt jeder die Hand auf den Kopf des anderen. Auch das ein Akt des gegenseitigen Beistands, zudem ein sinnlicher Akt der Befühlung. Diese Szene ist zwar von Musik untermalt, aber nicht von Gesang. Die Konzentration liegt stark auf der einzelnen Geste.

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Man schwitzt zusammen, man genießt zusammen: Die Tänzerinnen und Tänzer vom Staatsballett Berlin nach „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot in Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Und manches mutet antik inspiriert an, ist wie von den anmutigen Jungsstatuen der alten Griechen erdacht.

Anderes erinnert an die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier (die es bald in Hamburg wieder zu sehen gibt). Maillot tanzte sie, kannte sie gut – und auch darin gibt es Männerpaare, die synchron mit der Horizontalen am Boden und der Vertikalen im Stehen spielen; auch dort gibt es abgeschrägte Diagonalpositionen für die gestreckten Körper zwischen Himmel und Erde.

Zwischen Himmel und Erde! Das scheint hier das passende Stichwort zu sein. Diese Figuren hier leben, aber sie leben noch… sie sind sterblich, sie wissen das, und obwohl sie eine hohe Spiritualität ausstrahlen, scheint auch diese nicht nur dem ewigen Leben gewidmet, sondern auch dem Sterben.

La mort, der Tod, ist im Französischen weiblich.

Und da kommt sie auch schon, die Herrin über Sein oder Nichtsein, in Person von Elena Pris, der kühlen blonden starken Primaballerina Berlins.

Ihre Spitzenschuhe tragen sie unter all den Kerzen wie eine Gottheit, so schwebend. Im Laufe des Stücks fuhr nämlich schon eine ganze Reihe von dicken brennenden Kerzen aus dem Schnürboden herab und verteilte sich über den Tanzenden.

Jetzt bildet dieser Kerzenhintergrund die letzte Räumlichkeit, die der Mensch mit Leben zu erfüllen hat.

Die katholische Inszenierung von Toten und Heiligen scheint hier der modernen Vision von Abschied und Morgue Patin zu sein.

Pris lässt sich hier tragen, sie ist dominant, unnahbar, die Madonna der Moderne.

Dann geht sie auf Männerhänden, setzt die Fußspitze en pointe in die Handflächen aufgereihter Jungs, die ihr solchermaßen sowie mit einem In-die-Knie-Gehen huldigen.

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Das Staatsballett Berlin in Aktion: Elena Pris geht auf Männerhänden – eine Königin und ihre Untertanen in „Altro Canto“ von Jean-Christophe Maillot, dem Ballettchef in Monaco. Foto: Yan Revazov

Dieses Schreiten auf männlichen Handkörbchen wird ermöglicht durch andere Männer, wie Marian Walter, die Elena Pris während dieses Vorgangs halten.

Sie wirkt entrückt, herabgestiegen aus anderen Sphären, und die Sehnsucht zu diesen mutmaßlich paradiesischen Gefilden erfasst alle in ihrer Umgebung.

Aber auch am Boden spielt Pris mit all der strotzenden Männlichkeit auf der Bühne. Sie lässt sich tragen, in verschiedenen Formationen, schließlich aber auch zum Schein begraben von all diesen Körpern, die ihr von der Muskelkraft her überlegen, von der Rangordnung her aber deutlich untertan sind.

Schließlich erhebt der Tross aus Männern diese Frau erneut zu seiner Königin. Man könnte hier vielleicht eine versteckte Huldigung von Maillot an die von ihm verehrte Prinzessin Caroline von Monaco erkennen. Auch sie hat ihr erotisches Flair oft genug zur öffentlichen Waffe gemacht.

Eine Bewegung, die viel Spaß im vierten Element, dem Wasser, verspricht, wiederholt sich denn auch: Elena Pris bewegt sich dabei, von Männern gehalten und geführt, wie ein Delphin, so wellenförmig, in rhythmischen Auf- und Abbewegungen. Sie schwimmt in der Luft wie ein Fisch. Frei und ungebunden, so scheint es – aber ohne die Kraft ihrer Sklaven oder die Arbeit ihrer Untertanen wäre dieses herrschaftliche Leben so nicht möglich.

„Auf der anderen Seite“ heißt also auch: ganz oben an der gesellschaftlichen Pyramide.

Und auch dort verlangt es einen nach Liebe. Nachdem die Männer sich wie auf Befehl hinter Pris sammelten, allesamt heißblütige Kerle, kommt Marian Walter als Alphamännchen hinzu. Natürlich nimmt er sich, wozu die anderen nicht den Mut oder die Stärke hatten – doch sie wird bei ihm nicht richtig warm. Walter lässt von ihr ab…

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Auch die Königin der Herzen, auch die Madonna, giert nach Liebe: Elana Pris und Vladislav Marinov in „Altro Canto“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Gisela Sonnenburg

Aber dann! Vladislav Marinov, der superbe Ballerino, der seit langem mal wieder fordernde Aufgaben im Staatsballett sucht, rührt diese Primadonna.

Er leistet zunächst bei ihr Abbitte, wofür auch immer – und wird erhört.

Es entspinnt sich ein Pas de deux der erst langsamen, dann immer intensiveren Annäherung.

Allerdings ist Pris darin dominant, und seinen Kuss pariert sie mit zärtlichen Befühlungen. Schließlich nimmt sie seinen Kopf in beide Hände, kreist damit, führt ihn so.

Es ist eine Liebe zwischen Ungleichen, auch wenn sie emotional auf einer Wellenlänge liegen.

Doch schließlich hüpfen die beiden glücklich gemeinsam in die Kulissen, gleichermaßen ins Ehebett, darf man vermuten.

Wie passt die Verführung einer Heiligen hier ins kirchliche Konzept? Das muss jede und jeder mit sich ausmachen, ob es nun sündhaft oder notwendiges Vorspiel einer festen Bindung ist, sich so intensiv inmitten einer todesnahen Sphäre zu begegnen.

Und dann gibt es noch eine interessante Dreiergruppe, bestehend aus zwei Männern und einer Frau. Der Gesang Monteverdis – der nur vorübergehend von modernen Synthi-Rhythmen unterbrochen wurde – lässt die Sphäre wieder schweben.

Dieses Flair behalten die gemischten Paare, die nun auf die Bühne streben, bei.

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Paare üben das ästhetische Miteinander ebenso wie Dreiergruppen: Manchmal erinnert der Stil von Jean-Christophe Maillot hier beim Staatsballett Berlin an den von Nacho Duato. Zu sehen in „Altro Canto“ in der DOB. Foto: Yan Revazov

Dann ruckeln sie, werden triebhafter, tragischer – das Ensemble wirkt fast verzweifelt bei seinen Bestrebungen, Schönheit und Tiefe zu produzieren. Es scheint aber, dass es seinen seltsamen Gottesdienst keineswegs für die Lebenden, sondern für die Toten abhält.

Tatsächlich: Am Ende fallen einige Damen ihren männlichen Partnern leblos in die Arme und werden von diesen in die Kulissen getragen, ohne sich noch einmal zu regen.

Der Tod siegt immer – manchmal schleichend.

Insofern ist dieses Ballett eine Referenz an Thanatos, den antiken Totengott.

Maillot ist sich vielleicht selbst gar nicht darüber im Klaren, aber sein Werk vereint das Streben nach Unsterblichkeit mit der Befähigung zur Liebeskraft, die auch im Fall des irdischen Ablebens nicht zusammen bricht.

Die Premierenbesetzung mit Elena Pris und Vladislav Marinov, Arshak Ghalumyan und Marian Walter, Aurora Dickie und Ekaterina Petina sowie mit Soraya Bruno, Weronika Frodyma, Mari Kawanishi, Aeri Kim, Jordan Mullin, Pamela Valim und Patricia Zhou bei den Damen und Shahar Dori, Cameron Hunter, Konstantin Lorenz, Federico Spallitta, Ulian Topor, Lucio Vidal und Wei Wang bei den Herren ließ nahezu keinen anspruchsvollen Wunsch auf Interpretation offen.

Sie wurden von Maillot selbst, im Verein mit der coachenden Bernice Coppieters, ausgesucht – wobei das SBB hier sicher noch weitere spannende Besetzungen zu bieten hat.

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Noch eine harmonische Verbeugung der Tänzerinnen und Tänzer nach „Altro Canto“ beim Staatsballett Berlin! Foto: Gisela Sonnenburg

Das mag auch für das zweite Glanzstück des Abend, für „Daphnis und Chloé“ von Benjamin Millepied gelten. Allerdings ist die Premieren-Besetzung der fünf Hauptrollen hier derart gelungen, dass man den Eindruck hat, sie würden eine Uraufführung tanzen.

Gestaged wurde das Stück von Sébastien Marcovici und Janie Taylor. Beide waren bis 2014 Erste Solisten beim New York City Ballet, Marcovici begleitete dann Millepied nach Paris. Mit dem Stil des Choreografen sind beide sehr gut vertraut.

Das Ergebnis ist denn auch fulminant.

Insbesondere Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin als Chloé und Daphnis sind einfach bezaubernd! Himmlisch!

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Ein Paar, wie gemacht für dieses Stück: Mikhail Kaniskin (links) und Elisa Carrillo Cabrera lieben sich, auch und gerade in „Daphnis et Chloé“ von Benjamin Millepied beim Staatsballett Berlin. Hier ein Faksimile von Gisela Sonnenburg von der Homepage des SBB (Foto: Yan Revazov)

Technisch perfekt – und dennoch nicht unterkühlt. Im Gegenteil: Die verliebte Sinnlichkeit der beiden füllt die Bühne so dermaßen, dass man sich an den dazu in großem Kontrast stehenden, geometrischen Rechtecken und Rauten des Bühnenbildes, die vom bildenden Künstler Daniel Buren kommen, nicht allzu sehr stört.

Das Licht von Brandon Stirling Baker gleicht hier aus, was Burens Skulpturen verweigern: Es schafft enorme Atmosphären, mit herzenswarmem Gelborangegold oder auch mal dramatischem Himbeerrot.

Die andere Sphäre, die wir hier vorfinden – hinter einem längs schwarz-weiß gestreiften Vorhang, ist ganz und gar nicht so düster-heilig wie die in „Altro Canto“. Sie ist das genaue Gegenteil: ein Südsee-Paradies, in dem man frohgemut in weißen Gewändern der Schönheit des Lebens frönt.

Dennoch lauern auch hier Gefahren…

Zunächst aber, nach dem Vorspiel des Orchesters mit der bekannt-beliebten Musik von Maurice Ravel unter dem Dirigat von Marius Stravinsky, erfüllt die Begegnung von Daphnis (Mikhail Kaniskin) und Chloé (Elisa Carrillo Cabrera) alle Sinne.

Benjamin Millepied, dessen Name (auf deutsch: Tausendfuß) natürlich sehr gut zum Tanz passt und der zudem wie Maillot einst den Prix de Lausanne gewann, um dann Spitzensolist beim New York City Ballet zu werden, schuf dieses Ballett 2014 für das Ballett der Pariser Oper, das er damals leitete, das ihn allerdings später als seinen Chef abwählte – die auch gewerkschaftlich stark organisierten Tänzerinnen und Tänzer in Paris haben dazu die Möglichkeit.

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Eine Primaballerina freut sich: Elisa Carrillo Cabrera nach der Premiere von „Daphnis et Chloé“ mit Blumenstrauß beim Schlussapplaus! Foto: Gisela Sonnenburg

Millepieds Mutter war übrigens als moderne Tänzerin aktiv, lange bevor ihr Sohn in Lyon eine klassische Ausbildung absolvierte. Seit 2001 ist er als Choreograf mit erkennbar klassischen Wurzeln weltweit tätig; mit der Amoveo Company gründete er ein Crossover-Netzwerk, das Künstler aus den neuen Medien zusammen führen will.

Seit 2016 widmet Millepied sich wieder hauptsächlich dem Choreografieren ohne feste Anbindung an ein Haus, wie es in Paris der Fall war.

Zunächst einmal aber passte sich Millepied dem edlen, gediegenen, klassisch geprägten Stil der Pariser Oper künstlerisch exzellent an.

Ihm oder auch Maillot nun das von manchen inflationär gebrauchte Etikett von der Neoklassik anzukleben, kann man sich derweil guten Gewissens sträuben. Neoklassik – das ist vor allem George Balanchine, und dessen strenge Gläubigkeit an gerade Linien oder auch an Geradlinigkeit im allerbesten Sinn steht den spielerisch-soften Linien von Nacho Duato, Jean-Christophe Maillot und eben auch Benjamin Millepied krass entgegen.

Gerade Millepied hat ganz andere Qualitäten, als an Balanchine anzuknüpfen, auch wenn er vom New York City Ballet kommt und dort Tänzer war.

Wie Millepied hier beispielsweise nicht nur die Soli und Paartänze, sondern auch die Corps-Gruppen auf der Bühne arrangiert, ist schon meisterlich. Nur definitiv nicht à la Balanchine! Aber:

Da sprühen Funken, wenn dieses wunderbar synchron tanzende, dennoch so sichtlich aus Individuen bestehende Ensemble vom SBB munter zu Ravels impressionistischen Walzern hüpft.

Zwei liebliche Paare, bestehend aus Marina Kanno und Alexander Shpak sowie Luciana Voltolini und Dominic Whitbrook, vermitteln glatt den Eindruck, auch sie könnten Daphnis und Chloé sein – die antike Lovestory könnte ja auch fast ein Muster für alle Paare darstellen, die zunächst unbelastet, dann aber von außen bedroht zueinander finden.

Allerdings ist die Klasse von Kaniskin und Carrillo Cabrera wirklich einzigartig!

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Er hat sie in der Hand, und sie vertraut ihm ganz: Mikhail Kaniskin trägt Elisa Carrillo Cabrera souverän und sicher auf alle nur erdenklichen Arten! Wackelfreies, köstlich verliebtes Ballett, zu sehen in Bemjamin Millepieds „Daphnis et Chloé“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Es ist atemberaubend, die beiden hier zusammen tanzen zu sehen. Sie waren schon immer extrem gut zusammen, sie sind ja auch privat ein Paar (sogar eine kleine Familie!) – aber in „Daphnis und Chloé“ übertreffen sie sich selbst an Grazie, Innigkeit, Souveränität und doch auch großer Warmherzigkeit im tänzerischen Ausdruck.

Edelmütige Linien, eine gleitende, zarte Hingebung, Sicherheit beim Halten, „Fliegen“ und Führen – ob Pirouetten, Balancen oder Hebefiguren: Man kann hier sagen, dass Ballett mit Kaniskin und seiner Gattin in jeder Hinsicht zur wackelfreien Zone wird!

Und die Choreografie ist absolut schwierig, verlangt ein hohes Maß an Selbstbeherrschung wie auch an Einfühlung in den Partner.

Da springt Elisa etwa eine mehrfache Tour en l’air direkt in seine Arme, er fängt sie frontal auf, so sicher, als handle es sich um eine ganz normale Umarmung. Fantastisch!

Aber wie es so ist, weckt eine schöne Frau auch hier bei anderen Begehrlichkeiten.

Denis Vieira ist als Dorcon genau der Richtige, um mit kräftigen Sprüngen und schnellen Entrechats zu beeindrucken.

Mit bubenhafter Haltung versucht er nicht nur beim Publikum, sondern auch bei der schönen Chloé zu punkten.

Doch Chloé bleibt standhaft – und lässt ihren Daphnis für sie antworten.

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Rechts außen sieht man auch Denis Vieira und Iana Balova – mittig Dinu Tamazlacaru, Elisa Carrillo Cabrera und Mikhail Kaniskin mit Ensemble vom Staatsballett Berlin nach „Daphnis et Chloé“. Foto vom Applaus: Gisela Sonnenburg

Der lässt sich nicht zweimal bitten! Allerdings ist er schlau, und statt mit Kraftprotzerei die Männlichkeitsbeweise von Dorcon zu toppen, verlegt er sich auf das Zarte, Lyrische, und er tanzt, solide und bis ins letzte Detail durchgearbeitet, das Solo eines ganz besonders sanften Mannes.

Komplizierteste Schrittkombinationen sind dabei, die langsam, aber sicher eine Spannung aufbauen, die sich steigert, bis es von der liebenden Ergebenheit über das neckische Spiel bis zum auftrumpfenden großen Sprung geht.

Benjamin Millepied ist mit diesem Solo des Daphnis ein Coup gelungen, der Mikhail Kaniskin denn auch prompt heftigen Szenenapplaus einträgt.

Ja, so empfiehlt sich ein Lover auf der Ballettbühne, wenn er seinem Konkurrenten originell etwas entgegen zu setzen hat!

Die Nymphen, in hellen, durchsichtigen langen Röcken tadellos ätherisch und dennoch sehr erotisch getanzt von Maria Boumpouli, Elinor Jagodnik, Marina Kanno, Aeri Kim, Jordan Mullin, Christiane Pegado, Alicia Ruben, Luciana Voltolini und Patricia Zhou, stellen allerdings eine Größe für sich dar. Sie heizen das Klima nochmals an.

Und weil Dorcon die schöne Chloé nicht freiwillig haben kann, lässt er sie entführen.

Die Damenwelt hilft ihm dabei…

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Fließende Bewegungen, geschmeidige Körper, absolute Synchronizität: Highlife in „Daphnis et Chloé“ von Benjamin Millepied beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Ein Mädchen lockt Chloé von Daphnis weg, eigentlich nur für einen Moment, aber da sind die beiden Liebenden auch schon auseinander gerissen.

Lycéion, eine selbstbewusste Schönheit mit hohem Raffinement-Faktor – absolut verführerisch von Iana Balova getanzt, die damit endlich an ihre Erfolgsserie früherer Tage anknüpfen kann – hat sogar ihr eigenes Interesse an der Sache:

Sie versucht mit großer Tatkraft, Daphnis für sich zu gewinnen.

Erregt und verwirrt ist er ihr schier ausgeliefert. Aber er ist seiner Liebe letztlich doch treu.

Derweil wird es für Chloé brenzlig. Denn Dorcon verschachert sie an die Piraten, deren Anführer Bryaxis ein tollkühner, gefährlicher Mann ist.

Kein Geringerer als Dinu Tamazlacaru tanzt und springt diese Rolle (Dinu erinnert dabei an seine inspirierende Darstellung des Bergkönigs in Heinz Spoerlis „Peer Gynt“).

Was für ein Kerl! Was für ein Diabolo! Was für ein feuriger Gott der hohen Sprünge!

Aber er ist halt eben auch ein raubeiniger Pirat, kein Frauenversteher. Chloé kommt in Bedrängnis…

Zwei Choreografen - ein Abend.

Auch ein feiner Pas de deux, nur etwas konventioneller besetzt: Iana Balova als Lycéion und Mikhail Kaniskin als standhafter Daphnis. Nur in „Daphnis et Chloé“ so zu sehen, beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Die Pas de deux der beiden sind dennoch vom Feinsten – und es tut ja so gut, endlich mal einen Mann mit einer Frau hoch erotisch aufgeladen tanzen zu sehen, obwohl sie ihn, zumal auf Zehenspitzen stehend, um Einiges überragt.

Es ist doch vorgestrig zu meinen, die Frau müsse stets zum Mann aufsehen können. Das ist ein Anachronismus im Ballett, den wir uns alle ganz schnell abgewöhnen sollten.

Sehr rasch findet man dann Gefallen auch an Paaren, bei denen die Frau die größere Person ist. Das kann, wenn die Chemie zwischen beiden stimmt, sogar eine besondere Delikatheit haben.

Dinu Tamazlacaru beweist hier jedenfalls, dass er überhaupt kein Problem damit hat, eine relativ hoch gewachsene Dame wie Elisa Carrillo Cabrera schnittig empor zu heben, sie scharf zu schultern, sie launig hin- und herzuwerfen, sie dann wieder zu umgarnen, ihr Liebesdienste anzutragen – und auch erpresserisches Machotum.

Elisa wiederum ist eine so weiche, sich hingebende Tänzerin, dass man sich die beiden glatt auch mal als Liebespaar auf der Bühne wünscht. (Mikhail Kaniskin verflucht mich nun hoffentlich nicht…das hat er indes nicht nötig!)

Zwei Choreografen - ein Abend.

Dinu Tamazlacaru als wilder Pirat und Elisa Carrillo Cabrera als seine Geisel – wow! Unbedingt ansehen, in Benjamin Millepieds „Daphnis et Chloé“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

So tanzt sie zum Gotterbarmen um ihr Leben und um ihre sexuelle Unversehrtheit. Aber Bryaxis kann und will sie nicht verstehen – letztlich lässt er sie von seinen Piratenjungs (tolle wilde Jungs in Schwarz, getanzt von Paul Busch, Shahar Dori, Dominic Hodal, Cameron Hunter, Konstantin Lorenz, Sacha Males, Alexander Shpak, Wei Wang und Dominic Whitbrook) umzingeln.

Im Zentrum ihrer Manneskraft will er sich an ihr mit Gewalt verlustieren.

Da taucht – ein Wunder – in letzter Sekunde Daphnis auf, viel kämpfen muss er nicht, denn die Natur hilft ihm mit göttlicher Kraft: Das Licht wechselt von Rot auf Orange, und die Piraten fallen geblendet und geschwächt zu Boden.

Vorhang! Es ist wieder der gestreifte, der an die Sommerfrische der Entstehungszeit von „Daphnis und Chloé“ erinnert, an die Jahre zwischen 1909 und 1912, als Serge Diaghilev Ravel die Partitur komponieren ließ. Das ging damals allerdings nicht reibungslos vonstatten, Ravel fühlte sich von den Ballettleuten missverstanden und ließ die Suite der Musik vorab uraufführen. Bis zur Premiere des Balletts fand Ravel sich von Diaghilev irgendwie benachteiligt. Zumal kurz zuvor auch noch „L’Après-midi d’un Faune“ von Claude Debussy mit den Ballets Russes aufgeführt wurde. Mit einem enormen Skandal! Aber es war auch, wie der „Daphnis“, ein antikisierendes Ballett mit impressionistischer Musik.

Aber das Unternehmen „Daphnis et Chloé“ glückte letztlich doch, wurde ein großer Erfolg – und ging in die Ballettgeschichte ein als jenes antikisierende Ballett, das am stärksten den Geist von Isadora Duncan, der großen Anti-Ballerina jener Zeit, inhalierte.

Mikhail Fokine war für die Choreografie verantwortlich und wurde damit – auch wenn Ravel hier Probleme sah – gebührend gefeiert.

Zwei Choreografen - ein Abend.

Mikhail Fokine schwirrt auch auf Facebook herum, hier 2013 selbst in seiner damals wieder aufgenommenen Version von „Daphnis et Chloé“ tanzend… Foto: E. O. Hoppe/ Facebook-Faksimile

Nach dem Zweiten Weltkrieg choreografierten dann Größen wie Frederick Ashton, John Cranko, Hans van Manen und John Neumeier das Stück jeweils neu (vor allem die Fassung von Neumeier ist maßgeblich: so märchenhaft wie psychologisch nachvollziehbar). Da ist es nicht ganz einfach, noch eine eigene überzeugende Version zu verfassen.

Benjamin Millepied ist das aber zweifelsfrei gelungen, wenn sein Stück auch leichte Längen hat. Aber wer die Illusion sorgloser Leichtlebigkeit zu schätzen weiß, wer die Liebe als größte Macht mit hervorragend dekorativen Arrangements sehen möchte, wer einzelne Charaktere virtuos aufblitzen und ein Corps mit Akkuratesse und dennoch starker Emotion sehen mag, der ist hier genau richtig!

Zu kurz kommen hingegen jene, die vor allem das aktionsreiche Handlungsballett lieben. Denn Millepieds Spezialität sind breitflächige Stimmungs- und Beziehungstableaus, nicht die Darstellung der daraus resultierenden äußeren Handlungen. Das ist einfach ein anderer Ansatz – hier geht es um den Flow von Sinnlichkeit! Unterstützt wird diese Interpretation seines „Daphnis“ noch durch die sich im Zeitlupentempo auf der Bühne auf und ab bewegenden Skulpturschablonen des bildenden Künstlers Daniel Buren.

So vereinnahmt diese Inszenierung für sich, und das verdankt sie vor allem den selbstlos sich in sie einfügenden Körperkünstlern vom SBB!

Da Millepied nun mit der Handlung ziemlich schnell durch ist, folgt bei ihm ein zweiter Teil des Stücks: in neuer Farbigkeit.

Die Kostüme von Holly Hynes sind jetzt nicht mehr in Schwarz und Weiß, sondern in den knalligen Farben der mediterranen Natur gehalten: Blau, Grün, Orange.

Zwei Choreografen - ein Abend.

Girls, Girls, Girls: Die Mädels vom Staatsballett Berlin erweisen sich als wandelbare Schönheiten, die bis in die Fingerspitzen ein hochkarätiges Ensemble bilden. Hier beim Applaus nach „Daphnis et Chloé“ von Benjamin Millepied. Foto: Gisela Sonnenburg

Blau wie der Himmel und das Meer, Grün wie die Palmen und Büsche, Orange wie die mit Hitze sengende Sonne.

Fröhlichkeit und Harmonie spiegelt dieser zweite Teil, und wo im ersten eine latente Spannung, Neid und Eifersucht einer funktionierenden Gemeinschaft im Wege standen, da ist jetzt das große Jeder-versteht-jeden ausgebrochen.

Paare, die zueinander passen, finden sich – nach dem Vorbild der erprobten Liebeskraft von Daphnis und Chloé üben jetzt auch andere das Miteinander.

In der Originalversion ist es ja so, dass Daphnis bei Pan, dem wilden, skrupellosen Sexgott, der gern mal Angst und Schrecken mit seinen Exhibitionismen verbreitet, Verständnis für seinen Kummer findet. Pan ist derjenige, der darum Geister zu den Piraten schickt, um Chloé zu befreien. Pan hilft übrigens nicht nur aus Altruismus, sondern auch aus Geilheit: Die Geschichte der beiden Liebenden Daphnis und Chloé erinnert ihn an seine leidenschaftliche Affäre mit der Nymphe Syrinx.

Zwei Choreografen - ein Abend.

Blumen für die Bühne und die Künstler! In der Deutschen Oper Berlin nach der Premiere von „Daphnis et Chloé“. Foto vom Schlussapplaus: Gisela Sonnenburg

Das Dankesfest zu seinen Ehren kann man sich ja vorstellen!

Und so tobt im Finale auch von Benjamin Millepieds Version von „Daphnis et Chloé“ das Leben und nichts als das fröhliche Leben – und wenn Elisa Carrillo Cabrera blitzschnell von Mikhail Kaniskin auf seine rechte Schulter gesetzt wird, dann dürfte jedem schlagartig klar sein, warum Männer im Ballett so muskulös und Frauen so zart sein müssen.

Einen Triumph der Liebe in jeder Hinsicht erleben wir hier – voilà!
Gisela Sonnenburg

Zwei Choreografen - ein Abend.

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Termine: siehe „Spielplan“

Zur Rezension der Neubesetzung bitte hier klickenwww.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-maillot-millepied-neubesetzung/

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