Männer, nehmt euch in Acht! Denn dank „Giselle“ in der Inszenierung und Choreografie von Patrice Bart (nach der traditionellen Vorlage von Jules Perrot und Jean Coralli) geistern wieder die gefährlich schönen weißen Frauen, Wilis genannt, durch die Staatsoper Unter den Linden. Das Staatsballett Berlin beweist damit seine Befähigung zur Romantik auf ganzer Linie. Es ist ein Stück Hochkultur, wie man sich weltweit die Finger danach lecken kann: Ästhetisch und ausdrucksstark wird mittels Tanz und Musik live eine Geschichte erzählt, die nicht nur rührt sowie erschauern macht, sondern auch historisch Tiefgang hat. Derweil sollte man das bildschön sanierte Opernhaus einstweilen ganz profan umbenennen, und zwar in Staatsoper An der U-Bahn: weil draußen die historisch bedeutenden Linden einem aberwitzigen U-Bahn-Neubau geopfert werden.
Das Konzept zu „Giselle“ stammt im übrigen vom weltbekannten Dichter Heinrich Heine. Genau dieser Heine schrieb auch das berühmte Gedicht „Und grüß mich nicht Unter den Linden“: Es bezieht sich auf eine Liebschaft – und auf die Lindenbäume, die seit Jahrhunderten dem Mittelstreifen des Berliner Boulevard seinen Namen gaben. Jetzt sind bald alle der geschätzt rund 200 Linden gefällt, um einer völlig obsoleten Tiefbahn Platz zu machen. Es wird aussehen wie nach einem Krieg.
In jeder anderen Metropole wäre das ein Skandal. In Berlin zuckt man nur mit den Achseln. Denn die örtliche Politik hat so wenig Hirn, dass man annehmen muss, hier sei ein IQ über 90 bereits ein Ausschlusskriterium, ins Parlament zu kommen.
Es gibt auf dieser Strecke zwischen Hauptbahnhof und Alexanderplatz übrigens traditionell bereits Busse und die S-Bahnen – und beide sind fußläufig deutlich besser zu erreichen als die entstehende Tiefbahn. Aber Investoren wollen abkassieren, mit Steuergeldern werden Millionäre gemacht – das Wahlvolk darf dazu schweigen und blechen.
So sieht es aus in einer Gesellschaft, in der jeder nur ans eigene Salär denkt: Das Gemeinwohl bleibt auf der Strecke.
Und sagen Sie nicht, Naturschutz sei Ihnen egal! In diesem Fall sind Bäume auch Kulturgut, und wenn man sich vor Augen führt, dass neu gepflanzte Linden sechzig bis siebzig Jahre brauchen werden, bis sie stattlich aussehen, überkommt einen doch das kalte Grausen.
Man kann solche Entwicklungen übrigens auch im nicht weit entfernten Tiergarten beobachten, einem ebenfalls historisch verbürgten und in der deutschen Literatur bedeutsamen Berliner Ort für Bäume. Kahlschlag sorgte in den letzten Jahren dort für fragwürdige Transparenz, und für neue Bäume fehlt angeblich das Geld. Klar: Zum Durchrasen mit dem Fahrrad ist der entlaubte Tiergarten immer noch prima. Aber wer spazieren gehen und was von der Natur inmitten der Großstadt haben möchte, hat das Nachsehen.
Die Profitgier baut sich in Berlin Denkmäler, mit und ohne „Erinnerungskultur“.
Durch städtebauliche Verwüstung. Auch in Pankow-Nord, weit weg von der Mitte der Hauptstadt, soll gefällt und zugebaut werden. Auf Teufel komm raus. Hauptsache, ein paar Baumafiosi kassieren ab, was? Und die Landflucht muss natürlich auch gefördert werden. Auf dass immer mehr Menschen auf immer engerem Raum leben. Fortschritt ist das im Grunde genommen wohl sicher nicht. Aber schnelles Geldmachen!
Trost bietet hier allein der ätherische Tanz vom Staatsballett, akustisch unterfüttert von der taktsicheren, von Marius Stravinsky straff geführten Staatskapelle Berlin.
Nun hat die Musik von Adolphe Adam (inklusive einiger Ergänzungen von Friedrich Burgmüller und Ludwig Minkus) eher nicht den melodischen Feinsinn, den etwa ein Genie wie Peter I. Tschaikowsky seinen Kompositionen einzuhauchen wusste. Aber: Ihre Walzertakte sind eingängig und ohrschmeichelnd, und inmitten ihrer Schnörkel und Schlenker entfalten sich immer wieder auch tongewordene Fragezeichen.
Da strebt die Melodie bergauf, um leichthin Serpentinen zu schlagen. Insofern ist die originale Partitur „Giselle“ ein kleines Wunderwerk! Stravinsky arbeitet diese Widerhaken in den Berg-und-Talfahrten schön sauber heraus, ohne den rhythmischen Zusammenhalt des Ganzen aufzugeben. Ein Ohrenschmaus!
Aber ohne die wunderschön gestreckten Füße der Ballerinen und Ballerinos wäre das Vergnügen niemals vollkommen. Wie leicht und fein sie über die Bühne wirbeln!
In der Ausstattung von Peter Farmer dominieren im ersten Akt die Spätsommer- und Herbstfarben. Denn es ist Erntezeit im Winzerdorf – und das ist auch eine Zeit der Feste und Freuden.
Bestgelaunt tänzeln und springen denn auch die ersten jungen Dörfler herein.
Und dann ist da der Wildhüter Hilarion – von Dominic Hodal nicht nur hervorragend gespielt, sondern auch präzise und mit wundervoll abgefederten großen Sprüngen getanzt.
Dieser Hilarion ist erstens Wildhüter und zweitens verliebt: ein lebenserfahrener Mann, der sein Herz der hübschen Giselle zu Füßen legt.
Ach, und da kommt sie! Iana Salenko ist eine Giselle wie aus dem Bilderbuch, mit liebeshungrigem Blick und aufgeschürztem Schmollmund.
Und ihre Arme! Wie Lindenzweige im Wind streifen sie sanft durch die Luft, während die eleganten Füße die schnellsten Battements und Ballonés zu springen wissen.
Allerdings erscheint Giselle nicht für Hilarion. Sondern für Albrecht, den charmanten Schwindler, er ist ein bestaussehender Windhund, der sich das niedliche Dorfmädchen zum Zeitvertreib gesucht hat.
Dinu Tamazlacaru verkörpert diesen Herzensbrecher mit jeder Faser seines gepflegten Körpers – hui, er springt so hoch, dass einem schon beim Zuschauen schwindlig werden könnte! Seine doppelten Cabrioles, seine Spagatsprünge, seine Sautés, seine Pas de basques, seine im Sprung quirlig gedrehten Retirés – man weiß gar nicht, wo man zuerst hingucken soll, so schnell und blitzsauber absolviert er all das. Und mit einer Lust!
Die Verführungslust quillt ihm sozusagen aus jeder Pore. Ach, und es fällt ihm so leicht, die süße Giselle zum Paartanz zu bewegen…
Sie ahnt derweil nicht mal, dass er ein Herzog ist – bei Patrice Bart der Herzog von Schlesien – und dass er sich nur als einfacher Bursche ausgibt, um seiner erotischen Eroberungslust nachzugehen. Als sie die Blütenblätter eines Blümchens abzupft („Er liebt mich, er liebt mich nicht…“) gelingt es dem Schwerenöter sogar, sie zu betrügen. Er hält einfach ein abgerissenes Blättchen zusätzlich an die fast kahl gezupfte Blüte – ach, schon ist das Ergebnis zur Zufriedenheit der jungen Dame gefälscht.
So machen es viele Pharmakonzerne mit ihren Studien, um ihre Ware mit weniger Nebenwirkungen und besseren Effekten anzupreisen.
Albrecht könnte also auch aus einem pharmazeutischen Konsortium kommen. Fakt ist: Er gehört der Oberschicht an, Giselle hingegen hat nicht mal ein eigenes Zimmer in der Hütte ihrer Mutter Berthe.
Keine Liebe sprengt solche Fesseln der Armut! Der soziale Unterschied bestimmt das Schicksal eines jeden – Chancengleichheit war schon immer ein Märchen, das die Regierenden ihren Untertanen nur zu gerne vorgaukeln. Als Nebelbombe gegen die Aufdeckung von Korruption!
Wer jemals ohne Protektion auf Stellensuche war, weiß das nur zu gewiss.
Wie kommt es übrigens, dass die Besetzungscouch der großen Verlage oder der öffentlich-rechtlichen Medien in der „Me, too“-Debatte komplett ausgespart bleibt?! Gibt es dort nur Schutzheilige? Ach nein, man ist dort nur darin geübt, die eigenen Sauereien sehr gekonnt zu verschweigen, um mit dem Finger immerzu auf andere zu zeigen!
Berthe, die Mutter von Giselle, ist nicht so dumm wie die Masse der rbb-Zuschauer. Sie bemerkt, dass ihre Tochter in Gefahr schwebt. Mit deutlicher Gestik, die der traditionellen Ballettpantomime entlehnt ist, warnt sie ihr Kind.
Berthe, sehr mystisch-aufregend von Weronika Frodyma dargestellt, ist das heimliche Zentrum des ersten Akts. John Neumeier hat die außergewöhnliche Rolle dieser Mutter beim Hamburg Ballett sogar angeregt, sie in seiner Version des Stücks zu einer blinden Seherin zu verwandeln.
Vor ihrer Hütte spielt denn auch das ganze Geschehen; an ihre Tür klopfte der Schürzenjäger Albrecht, um Giselle herauszulocken.
Und als später die Verlobte des Herzogs, die schöne Bathilde, nebst väterlichem Prinz und ihm folgender Jagdgesellschaft auftaucht, ist Berthes gute Stube der Quell der Erquickung: ihr Wein wird in zünftigen Holzbechern für die Herrschaften serviert.
Und nicht nur Giselle, sondern auch ihre sechs entzückend anmutigen Freundinnen (Julia Golitsina, Anastasia Kurkova, Danielle Muir, Tabatha Rumeur, Alizée Sicre und Aoi Suyama) tänzeln aus Berthes Hütte hervor.
Die Stimmung steigt – Tanzen ist angesagt! Schließlich ist Giselle hier die Weinkönigin, stolz reckt sie das blütenumrankte Zepter in die Höhe!
Und Giselle schlägt die Warnungen ihrer Mama in den Wind. Sie tanzt ja so gerne, ungeachtet ihrer schwachen Gesundheit, und wenn sie damit ihren schönen Fremdling beeindrucken kann – umso besser!
Von den edlen Gewändern der Adligen ist sie nichtsdestotrotz schwer beeindruckt. Und Bathilde schenkt ihr, der Mittellosen, aus Mitleid und wie aus einer antizipierten Entschädigungsgeste heraus, ihre goldene Kette.
Bathilde! Ach! Sarah Mestrovic verkörpert auch ohne viel Gehüpfe, dafür mit starker Bühnenpräsenz diese adlige junge Dame, die das Unglück unserer armen Giselle ist. Ohne voneinander wirklich etwas zu wissen, sind sich die beiden Frauen sympathisch. Ja, sie haben denselben guten Geschmack – nicht nur, was Kleidung angeht.
Hilarion beobachtet das Geschehen mit Skepsis. Er hat schon bemerkt, dass mit dem jungen Fremden etwas nicht stimmt. Und er fand dessen kostbares Schwert, das ihn als Adligen ausweist, im Schuppen.
Nach dem lieblichen, lebensfrohen Bauern-Pas-de-deux, den Alexander Shpak und vor allem Marina Kanno so dynamisch wie stilsicher zelebrieren, durchsetzt von Reihentänzen des glückseligen Corps de ballet, spitzt sich die Lage zu.
Schließlich konfrontiert Hilarion seinen Rivalen mit dem Schwert, mit der Wahrheit: Er ist kein argloser Dörfler, sondern ein Herrschender, der gekommen ist, um zu lügen.
Giselle kann es nicht fassen. Ihr Geliebter ein Betrüger? Ihr Verführer ist mit einer anderen verlobt, auch noch mit der schönen reichen Bathilde, deren Kette sie als Geschenk annahm?
Alles dreht sich um sie – und sie entrinnt der Wirklichkeit, flüchtet in den Wahn.
Ihre Frisur löst sich auf, die Blumen der Weinkönigin fallen zu Boden. Eine Umarmung noch, dann ist Giselle endgültig verloren.
Sie stirbt beim Sprung in die Arme ihres Liebhabers, den linken Arm noch hoffnungsvoll erhoben.
Berthe kann nur noch die Leiche ihrer Tochter beweinen. Albrecht, der Schuldige, muss fliehen, und sein Knappe – sehr fein und dramatisch: Taras Bilenko – hängt ihm den wehenden Umhang so rasch um, als wolle er sagen: „Hau ab, bevor sie dich lynchen!“
Hilarion hingegen liegt zu Füßen der toten Giselle, ihren schönen Fuß liebkosend – und das ganze Dorf betrauert mit Entsetzen den plötzlichen Tod seiner schönsten Jugendknospe.
Pause. 1841 wurde „Giselle“ in Paris uraufgeführt, und damals galten noch lebende Tiere – wie etwa Pferde – als Sensationen auf der Ballettbühne.
Aber auch die Inhalte wurden zunehmend dramaturgisch interessant und vielschichtig.
So folgt „Giselle“, in deren zweitem Teil eine fantastische Geisterwelt mit geflügelten weißen Frauen vorgestellt wird, der Elfenfabel „La Sylphide“ von 1832.
In diesem Todesjahr Goethes reüssierte Marie Taglioni in Paris mutmaßlich erstmals mit Spitzentanz: Ihre Schuhe hatte sie mit mehreren Lagen aus Pappe und Leim präpariert. Ihr Vater Filippo Taglioni war ein erfahrener Ballettmeister, und es ist wahrscheinlich, dass er ihr bei der Neuerfindung des Balletts hilfreich zur Seite stand.
Als nur neun Jahre später die Primaballerina Carlotta Grisi als „Giselle“ auf die Bühne kam, hatte sich das Publikum an den Effekt scheinbar schwebender Tänzerinnen bereits gewöhnt, mehr noch: Man war bereits süchtig geworden nach diesem romantischen Ausdruck zarter Weiblichkeit.
Das Libretto von „Giselle“ ist allerdings ungleich geistvoller und sozusagen nahrhafter als das der traurigen Liebesgeschichte von „La Sylphide“. Denn während in der Sylphiden-Geschichte der männliche Held im inneren Kampf zwischen zwei Frauen und somit zwei Welten zu Grunde geht – und zwar durch das verhexende Werk einer bösen alten Frau – hat „Giselle“ einen realen, gesellschaftskritisch begründeten Hintergrund.
Es handelt sich um die „rätselhaften“ Tode blutjunger Frauen, die zuvor unehrenhaft verführt worden waren.
Dichter wie Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Hebbel widmeten ihnen Dramen (wie „Faust“ und „Maria Magdalena“), auch Schiller und Lessing prangerte die Willkür der Männer den mittellosen Mädchen gegenüber in Dramen an („Kabale und Liebe“, „Emilia Galotti“).
Heinrich Heine störte sich vor allem an der Unterdrückung der Frauen, deren Liebe dann entweder für sie selbst oder für ihre Geliebten tödlich wurde (so auch in der herzzerreißenden Romanze „Ritter Olaf“).
In der auf einem slawischen Mythos beruhenden Geschichte der Wilis finden die Frauen ihre Rache.
Sie sind allerdings die schönsten Rachegeister, die man sich nur vorstellen kann und die die Kulturgeschichte kennt: Es sind geflügelte Frauen in Brautkleidern, Elfen und Nymphen ähnlich, aber mit scheußlichen Absichten, die sie mit edelmütig-graziösem Tanz zu verbergen wissen.
Diese Geisterfrauen sind nämlich verkappte Furien, Rachegeister, die – weil sie alle durch die Liebe zu einem verlogenen Mann starben – Männer des Nachts in den Tod hetzen.
Wenn der Vorhang sich nach der Pause wieder öffnet – in der Staatsoper An der U-Bahn ist es ein sattroter Samtvorhang mit goldenem, antikisierend-edlem Wellenmuster – sehen wir ins nächtliche Blau einer Mondnacht im Wald. Ein weißes Kreuz bezeichnet, an einem kreideweißen Felsen gelegen, das Grab von Giselle. Sie wurde außerhalb des Friedhofs, im Wald, verscharrt – offenbar befand die kirchliche Moral sie für schuldig: der unehelichen Schwangerschaft und bzw. oder des Selbstmords.
Das Libretto schweigt hiervon aus Gründen der Diskretion, aber das traditionelle Bühnenbild in „Giselle“ schreibt vor, dass sich ihr Grab solchermaßen wild im Wald befindet. Was im 19. Jahrhundert zweifellos einen Bann der Kirche und einen Ausschluss aus der christlichen Gemeinschaft bedeutete.
Der Nebel, der die Bühne zusätzlich verklärt, steht indes für die Natur, auch für ihre Gefährlichkeit. Denn die weißen Geisterfrauen scheinen in der Beschreibung von Heinrich Heine (in „Elementargeister“ von 1837) dem weißen Nebel zu entsteigen…
Hilarion wird in dieser Nacht ihr erstes Opfer sein.
Es ist Mitternacht.
Zunächst tanzt Myrtha, die Königin der Wilis – eiskalt, mit kalkweiß geschminktem Gesicht und von steinerner Schönheit: Elisa Carrillo Cabrera – ein großartiges Solo, das von der Einsamkeit wie auch von der Macht dieser Elfenherrscherin kündet.
Auch Myrtha war mal eine Giselle, war mal ein verliebtes junges Ding, das an der Enttäuschung aus Liebe zu Grunde ging.
Aber sie hat im Jenseits Karriere gemacht, sozusagen. Sie hat sich zum Oberhaupt einer militärisch organisierten Rache-Armee aus Frauen gemausert.
Stark erscheint sie im Licht des Schrittfolgers, aber fein und grazil sind ihre Schritte, ihr Trippeln, ihre Arabesken. Unbewegt sind ihre Gesichtszüge, diamanten glitzert ihr Diadem, aber der Tanz drückt Seele aus: Kalte Brillanz, ja spekulierende Rachelust spricht aus dieser Passion.
Ihre Mädchen gehorchen ihr auf den Fingerzeig. Husch, husch, rasch rücken sie an, allesamt im wadenlangen fliegenden Tüllrock, mit zartem Blumendekor und winzigen Flügeln bewehrt.
Diese Mädchenschar ist eine Sehenswürdigkeit Berlins!
In Barts Version schieben die Wilis sich vorzugsweise in Gruppen zu viert über die Bühne, sich auch manchmal majestätisch zu Posen gruppierend wie die vier Königinnen des romantischen Balletts im „Pas de Quatre“ von 1845. Bart gönnt sich und uns dieses Zitat, diese Anspielung. Denn:
Jules Perrot choreografierte den „Pas de Quatre“ für die vier berühmtesten Ballerinen seiner Zeit, also für Carlotta Grisi (die „Giselle“ der Uraufführung vier Jahre zuvor), Lucile Grahn, Fanny Elßler (die als die Sinnliche unter den vier Schönen galt) und ihre ätherische Gegenspielerin Marie Taglioni (der mit „La Sylphide“ die Erfindung des Spitzenschuhs zugeschrieben wird).
In der Choreo der Wilis tanzt das exquisite Corps diese Posen.
Mehr noch: Mit Sarah Mestrovic (die auch schon eine exzellente Myrtha tanzte) als Zulmé und Weronika Frodyma als Moyna tanzen zwei Wilis ihren individuellen Charakter. Sie sind Novizinnen, also noch relativ nah an ihrer einstigen irdischen Existenz.
Mestrovic bezaubert dabei mit klaren, hoheitsvollen Bewegungen. Was für edle Linien entstehen, wenn der Oberkörper so sachte gebogen wird und die Gliedmaßen so anmutig ausgestreckt sind!
Frodyma ist ihr Pendant: ganz weich und fließend, soft und süß ist ihre Erscheinung. Ein sehr anrührendes Damenduo!
Aber mit Hilarion kennen sie kein Mitleid!
Mann ist Mann, heißt es hier, und Myrtha überwacht, wie ihre Damen den verwirrten jungen Menschen zu Tode hetzen. Von allen Seiten scheinen die Wilis leichthin auf ihn zuzuströmen, sich um ihn zu drehen, und er springt um sein Leben!
Er bettelt um Gnade, doch die Königin der bösen Elfen wendet kalt ihr Antlitz ab.
Dominic Hodal tanzt und spielt den Sündenbock vorzüglich! Welche Akkuratesse und doch auch welche Verzweiflung sich seines Körpers bemächtigt, ist ein Schauspiel für sich!
Schließlich – er kann sich kaum noch auf den Beinen halten – ergreifen zwei Wilis den Armen und schleudern ihn zu Tode.
Wird es Albrecht auch so ergehen?
Auch er kann in dieser Mondnacht dem lautlosen Ruf der Waldeslust nicht widerstehen. Auch er findet sich am Grab Giselles trauernd ein. Schuldgefühle plagen ihn. Er hatte sich doch, kurz bevor sie starb, ganz ernsthaft in das junge Mädchen verliebt.
Aus dem Betrüger wurde durch den Tod ein Betrogener.
Doch seine Reue kommt spät. Als Giselle auftaucht – zuvor von den im Halbkreis um sie stehenden Wilis in einem atemberaubend sprungfertigen Solo mit Drehungen auf ganzer Sohle zu Beginn initialisiert – kann Albrecht sie zunächst nicht fassen.
Ist sie nur ein Geist? Nur Nebel? Nur Vision?
Doch dann hat er sie berührt. Er erfasst sie, hält sie in der Taille, hebt sie senkrecht über seinen Kopf. Sie fliegt so über ihm, liegt also waagerecht in der Luft, nur von seinen starken Männerhänden gehalten.
Zwei Mal kommt es zu dieser superben Hebung, die für Dinu Tamazlacaru und Iana Salenko so einfach zu sein scheint wie ein Traum. Und traumhaft ist sie wirklich, diese Hebefigur – atemberaubend schön sieht sie aus.
Giselle bittet für ihn. Doch Myrtha befiehlt ihm zu tanzen. Mit hinreißenden, diagonal die Bühne kreuzenden Sprüngen und mit famos battierten Pas de quatre auf dem Platz erwärmt der reuige Albrecht die Zuschauerherzen. Nicht aber die der Wilis!
Er ist in höchster Gefahr!
Doch Myrthas böser Zauber wird von der Liebe von Giselle gemindert. So darf sie ihrem Geliebten helfen, darf, als er nach rasanten Pirouetten wie leblos zusammenbricht, an seiner Stelle weiter tanzen.
Zwei Mal bricht er zusammen, poetisch anzuschauen ist das im Ballett. Dann fällt Albrecht ein drittes Mal. Man befürchtet, es ist sein Tod.
Doch da ertönt der Glockenschlag. Die Geisterstunde ist vorbei. Albrecht hat überlebt, und Giselle darf ihm feinfühlig auf die Beine helfen.
Die Wilis ziehen sich trippelnd zurück, wie vornehme Heerscharen der Lüfte. Myrtha schwebt als letzte von dannen.
Einen letzten Pas de deux dürfen Albrecht und Giselle noch tanzen, und die Künstler legen ihre ganze Kraft und Erfahrung hinein, um diesen Tanz zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen.
Aber ach, die Liebe! Sie war hier der Tod für die Eine und die Rettung für den Anderen. Aber jetzt heißt es Abschiednehmen, für immer, und Albrecht muss zurück kehren in seine Welt…
Kniend dankt er Giselle, bevor sie sich für immer trennen.
Giselle wird wohl eine Wili wie die anderen werden, wird Männer tanzenderweise in den Tod treiben, sie an Erschöpfung oder anderem krepieren lassen, aber vergessen wird sie ihren Albrecht wahrscheinlich nie.
Und vermutlich wird sie das nur noch schöner und gefährlicher für andere Männer machen…
Verehrte Herren, nehmen Sie sich also in Acht! Die Wilis sind los, in der Staatsoper An der U-Bahn in Berlin, und sie sind magisch verführerisch, aber genau so rücksichtslos…
In der ursprünglichen Fassung tauchte übrigens Bathilde am Schluss bei Albrecht im Wald auf, um ihn aus der nächtlichen Zauberwelt heim an den Herd der Realität zu holen.
In den mindestens seit dem 20. Jahrhundert weltweit getanzten verschiedenen Versionen von „Giselle“ verzichtet man auf einen solchen nochmaligen Auftritt von Bathilde.
Stattdessen erwacht Albrecht am Grab Giselles wie aus einem Traum – und er findet all die Blumen, die er und seine Geliebte im Laufe der Nacht dort nieder legten.
In Barts Version ergreift Albrecht die Lilien, die er Giselle in der Nacht mitgebracht hatte, und selbstvergessen schreitet er mit ihnen im Arm langsam nach vorn, um uns sein entrücktes, geläutertes Gesicht offen zu zeigen.
Blume für Blume verliert er dabei, und es ist nicht gewiss, ob dieser Mann noch jemals Hochzeit feiern wird. Er gehört ganz seiner Liebe, einer jetzt spirituell gefärbten Liebe, in welcher die Dankbarkeit und die Demut das Schürzenjägertum ersetzen.
Männer, seid also vorsichtig!
Aber Eines kann man hier unbedingt auch lernen, und Goethe formulierte es in seinen „Regeln für Schauspieler“ so:
Dass der Mensch „nicht allein die Natur nachahmen, sondern sie auch idealisch vorstellen solle, und er also in seiner Darstellung das Wahre mit dem Schönen zu vereinigen habe.“
Dieser Zauber ist in „Giselle“ so stark, dass er die magische Gefahr, in die jeder Sünder hier gerät, durch Liebe aufzuheben in der Lage ist.
Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“
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