Tatjana weiß es wohl selbst nicht: Ist ihre Ehe mit Fürst Gremin eine echte Liebe, eine langsam gewachsene und sicher gefestigte Partnerschaft – oder eine einzige Farce, eine pseudoharmonische Zweckbeziehung, bestenfalls ein liebevolles Trostpflaster, weil sie den Mann, den sie eigentlich aus vollem Herzen begehrt, nicht haben kann? Am Ende muss der Zuschauer entscheiden, wie er Tatjanas Verhalten interpretiert. Aber über Eines kann man nicht hinwegsehen: Tatjana liebt Onegin, den arroganten Titelhelden des russischen Nationalepos, und im abendfüllenden Ballett von John Cranko – seinem gelungensten – äußert sich diese Liebe in einem fulminanten Schluss-Pas-de-deux. Ksenia Ryzhkova und Ivy Amista tanzen alternierend in „Onegin“ beim Bayerischen Staatsballett die Rolle der Tatjana: beide mit einer umwerfenden Lust im schönen Leib, die den technischen Raffinessen der Partie zusätzlich den Geschmack der ganz großen Leidenschaft verleiht.
Ryzhkovas Tatjana ist zunächst ein fast vernünftig zu nennendes Mädchen. Was für ein liebliches Ding!
Zu Beginn von „Onegin“ – zu der von Kurt-Heinz Stolze cineastisch aufgemotzten Musik von Peter I. Tschaikowsky – bezaubert sie mit Bescheidenheit und Grazie, mit Neugier – und mit einem Intellekt im Blick, der erklärt, warum sie sich zunächst am meisten für Bücher interessiert.
Aber kaum taucht Onegin auf – der mit Erik Murzagaliyev sehr jung, aber durchaus angemessen besetzt ist – verändert sich die Welt Tatjanas.
Ksenia Ryzhkova spielt und tanzt diese unerhörte Verliebtheit eines unerfahrenen Backfischs mit jener Verve, die nur Ballerinen haben: voll Schwung lässt sie sich emotional auf eine Fantasie ein, die bald ihre Fallstricke und Tücken zeigen wird.
Doch zunächst beginnt das alte Spiel: Onegin, der Dandy aus der Großstadt, beeindruckt mit seinen Macho-Attitüden die unerfahrene Tatjana.
Nur zu gern lässt er sie staunen über seine Weltverdrossenheit, seine schlechte Meinung zu allem und jedem – und über die sehr gute Meinung, die er von sich selbst hat. Ach, das kommt an bei jungen Frauen!
Doch Tatjana in ihrer Eigenart schießt übers Ziel hinaus, sie gesteht ihm – nach einem gemeinsamen Spaziergang – ihre Liebe in einem Brief.
Schließlich ist Onegin ihr im Traum erschienen, in einem fabelhaften Pas de deux voller Hebungen und Drehungen, voll Passion und Poesie und Heilsversprechen für die Zukunft…
Na, junge Frauen nehmen ihre Träume sehr ernst.
Als sie dann ihren Namenstag feiert, hofft Tatjana auf eine Antwort des weltgewandten Mannes. Doch, oje, er zerreißt ihren Brief und drückt ihr die Fetzen dessen gefühllos in die Hand. Er genießt es auch noch. Sie kann es nicht glauben. Was für eine Demütigung!
Um das verliebte Mädel noch mehr herabzusetzen – denn das ist das wahre Vergnügen Onegins – flirtet er öffentlich mit Tatjanas jüngerer Schwester Olga.
Mit Laurretta Summerscales ist diese ein Ausbund an sommerheller Lebensfreude, angereichert mit lebhafter, eleganter Präsenz. Was für ein extravertiertes, verführerisches Persönchen! Ja, sie und Onegin können fein miteinander tanzen.
Aber: Olga ist verlobt, und zwar mit dem zwischen Melancholie und Heiterkeit pendelnden Dichter Lenski.
Jonah Cook als Lenski ist eine Lebenserfahrung!
Wie einst nur Vladimir Malakhov bringt er die doppelgesichtige Liebenswürdigkeit dieses Galans auf den Punkt. Einerseits ist er der fast alberne, so sorglos glückliche junge Liebhaber. Andererseits ist er schnell reizbar, hat ein Temperament, das er nicht zu zügeln weiß. Etwas Selbstzerstörerisches gärt in ihm – und das bricht bald aus.
Denn Onegin lässt von Olga nicht ab. Obwohl oder weil Lenski sein Freund ist, tanzt er mit Olga den Paartanz des Charmeurs. Er neckt und animiert die junge Dame immer wieder.
Lenski vergisst sich. Wutschäumend fordert er Onegin zum Duell.
Die Winterlandschaft Russlands bei Morgenanbruch. Der Ausstatter Jürgen Rose – der schon die Uraufführung des Stücks 1965 / 1967 beim Stuttgarter Ballett illustrierte, wurde eine lebende Legende mit solchen Bildern!
Lenski tanzt hier sein letztes Solo. Hingegeben an die Sehnsucht, ob nach dem Tod, ob nach mehr Leben – er weiß es selbst nicht. Aber er ahnt, dass er seine so hoffnungsvolle Zukunft vielleicht nicht mehr erleben wird.
Jonah Cook ist ein todessüchtiger Lenski wie aus dem Bilderbuch. Sein roter Haarschopf leuchtet vor der verschneiten Winterkulisse, seine hohen Beine wirbeln lautlos durch das autoerotisch aufgeladene Adagio. Auf Knien im Cambré beschwört er seinen Schutzengel – umsonst.
Onegin macht dann, was er tun muss. Er will es nicht. Aber sonst stirbt er selbst. Er muss Lenski töten.
Das sind die perfiden Regeln des Duells: du oder ich. Eine elegante Zwischenlösung gibt es hier nicht. Zu entschlossen ist Lenski, es auf den Tod ankommen zu lassen. Auf den eigenen oder auf den des ehemaligen Freundes.
Onegin hatte Lenski gewarnt. Auch die jungen Damen Tatjana und Olga versuchten mit verzweifelt schönen Bitten, Lenski im letzten Moment vom Duell abzuhalten.
Doch vorbei sind die Tage der Freundschaft, vorbei ist das gemeinsame Vergnügen auf den Bällen.
Vorbei die Sommerlaune im Garten, wo die Mädchen aus dem Dorf ihre sanften Reigen und Kreise tanzen.
Wo die Jungs fulminante Folkloretänze springen – die im übrigen nur aussehen wir russische, die faktisch aber vollauf der griechischen Folkore entsprechen. Cranko leistete sich diesen Kunstgriff, in Anlehnung an Mikis Theodorakis, dessen männlich-gutturale Kraft er verehrte.
Und es kommt in diesen festlich-freien Szenen in „Onegin“ auch zu fulminanten Spagatsprungserien des Ensembles – das Bayerische Staatsballett zeigt hier längst, was vitaler Corpsgeist ist.
Doch das Duell entscheidet dann im Stück alles. Es ist ein Wendepunkt.
Danach sind die Hauptpersonen Feinde: Onegin und die Schwestern.
Die Tat wird zwischen ihnen stehen. Lenskis Tod steht zwischen ihnen.
In der Erstbesetzung in München knistert diese Spannung auch schon vor dem Duell. Die Zweitbesetzung mit Prisca Zeisel als Olga und Alexey Popov als Lenski ist da nicht ganz so überzeugend – dafür sind beide Darsteller noch sehr jung und gemessen am Schwierigkeitsgrad dieser Rollen auch noch längst nicht am Ende ihres Könnens.
Das Libretto zeigt dann Onegin als bereits tragisch gewordenen Hauptprotagonisten:
Onegin überlebt, aber er muss jetzt gehen. Muss Tatjanas Welt wieder verlassen – als ein weltgewandter, selbstbewusster, jetzt aber innerlich gebrochener Sieger.
Erst zehn Jahre später sehen sie sich wieder. Da ist Tatjana längst verheiratet, mit Fürst Gremin, einem milden, wohlwollenden Menschen.
Der Rote Pas de deux von Tatjana und Gremin ist Ausdruck der vollendeten ehelichen Liebe. Welche Harmonie! Welche Sicherheit! Welches Glück!
Die Liebe hat hier viele Gesichter.
Aber dann taucht Onegin auf – er sieht Tatjana, erkennt ihren sozialen Aufstieg und wird eifersüchtig.
Jetzt will er sie! Sie ist nicht mehr das unerfahrene Mädel vom Land, sondern eine selbstbewusste Aristokratin. Sie weckt seinen Jagdinstinkt.
Hier punktet die Zweitbesetzung beim Bayerischen Staatsballett: Vladimir Shklyarov umschleicht Tatjana wie ein Raubtier seine Beute. Hungrig, nicht lauernd.
In einem Brief kündigt er Tatjana seinen Besuch an. Sie erschrickt. Vergeblich fleht sie ihren ahnungslosen Gatten an, er möge bleiben.
Onegins Besuch wird die Prüfung ihres Lebens.
Myron Romanul – der die Partitur hervorragend in all ihren Höhen und dramatischen Tiefen interpretiert – ist am Dirigentenpult gefordert.
Wir alle sind gefordert, denn die Nerven Tatjanas sind zum Zerreißen gespannt, und man fiebert mit ihr.
Oh, Onegin! Dann kommt er, zerknirscht und unterwürfig, um die Gnade der Liebe bettelnd.
Sie beherrscht sich. Sie muss ihn ansehen. Ihr Herz blutet, sinnbildlich gesprochen. Zwischen ihnen sprühen die Funken. Was für eine Passion!
Ein Jahrzehnt lang kontrollierte Tatjana ihre Leidenschaft für diesen arroganten Wüstling. Und er? Er hatte viele Affären. Aber ihm wurde klar, dass die Sinnlosigkeit des schnellen Abschieds von den Frauen sein Leben nicht ausfüllt. Jetzt will er die Eine, die ihn vom ersten Anblick an geliebt hat.
Wird sie ihn erhören?
Beide Darsteller von Onegin haben hier Hoffnung im Blick, wenn sie zu Tatjana stürmen. Erik Murzagaliyev, dem die grauen Schläfen sehr gut stehen, wirft alles in die Waagschale. Sprünge, Blicke, enger Tanz. Und: Ein paar heiße Küsse auf ihre Schultern – und sie scheint ihm nachzugeben.
Doch eine noch größere Prüfung erduldet Ivy Amista als Tatjana. Denn ihr Onegin ist Vladimir Shklyarov – und er hat viele Jahre als Erster Solist getanzt, kennt alle Finessen des Machismo, weiß um die Lustantennen der Damenwelt. Was für ein Verführer!
Bei beiden Paaren klappt das Hin und Her, der innere Kampf Tatjanas reißt mit, fasziniert bei jedem Atemzug.
Ja, sie liebt ihn! Aber nein, sie will sich nicht auf ihn verlassen. Sie kennt doch seinen schlechten Charakter, seinen Narzissmus, seine Arroganz, seinen Chauvinismus. Was könnte er ihr bieten? Heißen Sex vielleicht. Sehr heißen Sex. Aber ist das alles im Leben? Und Männer, die darauf stehen, Frauen zu erniedrigen, taugen oft nicht mal als Liebhaber.
So sprechen die Hebungen in Tatjanas Onegin-Traum – dem Spiegel-Pas-de-deux – eine ganz andere Sprache als die im Schluss-Pas-de-deux, als der reale Onegin ihr Partner ist. Und:
Ihre Ehe hat Tatjana eine ganz andere Form zu lieben gezeigt.
Rückhaltlose Verliebtheit ohne doppelten Boden tanzte Ksenia Ryzhkova ebenso wie Ivy Amista im Roten Pas de deux mit Emilio Pavan, der für beide den Fürsten Gremin darstellt.
Und jetzt dieser Sturm der Leidenschaft? Was passiert, wenn sie Onegins Drängen nachgibt?
Ihre Ehe wäre vernichtet. So oder so. Von innen her. Sie könnte ihrem Ehemann nie wieder in die Augen sehen. Vielleicht würde sie ihn sogar dafür verachten, dass sie ihn hintergangen hat.
Und für ein zukünftiges Leben in Gemeinsamkeit scheint Onegin nun wirklich nicht gemacht. Sein Egoismus ist grenzenlos. Tatjana wäre schlecht beraten, sich zu seiner Beute zu machen.
Sie ist klug. Aber sie leidet selbst unter ihrer Entscheidung. Sie bleibt hart. Ein paar Mal sieht es fast so aus, als… und da springen beide Tatjanen, Ksenia Ryzhkova wie Ivy Amista, an den Händen ihres jeweiligen Verehrers die so genannten Hexensprünge, also Spagatsprünge, dass es eine Wonne ist!
Vom Boden zieht Onegin sie hoch, lässt sie den Spagat springen, einmal, dann wieder, ein zweites Mal. Was für eine Kraft, was für eine Wolllust! Eigentlich müssen diese Spagatsprünge vertikal erfolgen, Ivy Amista führt sie horizontal aus, dafür aber mit Rasanz und starkem Ausdruck. Ihr Partner, der starke Mann, hält sie dabei fest an beiden Händen.
Sind sie nicht wie gemacht füreinander? Der wilde Kerl und die sanfte Frau?
Eben. Sie sind es nicht. Die Gegensätze, die sich hier so anziehen, sie sind zu groß, um nur von Erotik überbrückt zu werden.
Tatjana verzichtet auf die Liebe ihres Lebens. Aber sie bewahrt sich dafür ihre Ehe – und auch ihre Würde.
Onegin muss gehen. Zerstört und seelisch verwundet verlässt er Tatjana.
Und sie? Sie leidet nicht minder. Kämpft noch einmal mit sich, läuft ihm ein paar Schritte nach. Kommt er etwa zurück?
Nein, er verschwand. Für immer?
Tatjana weiß nicht, ob sie es hoffen oder fürchten soll.
Diese wenigen Minuten Herrenbesuch haben auch ihr Leben radikal zerstört. Von innen her.
Ihr bleibt der Sieg über das eigene Begehren.
Voll zäher Kraft senkt sie die geballten Fäuste.
Sie hat Onegin überlebt. Seine Liebe aber wird sie ihr Leben lang verfolgen, wie ein Wahn, den sie nicht abschütteln kann.
Das Risiko, auf eine solche tiefgreifende Leidenschaft einzugehen, war Tatjana zu hoch. Aber das Angebot steht. Für immer.
Und was ist das Leben ohne eine Amour fou?!
Ach, Onegin, das lehrst du uns, in deiner grausamen, rücksichtslosen Art, die uns doch so zuvorkommend und zärtlich erscheint…
Franka Maria Selz / Gisela Sonnenburg
Termine: siehe „Spielplan“
Weitere „Onegin“-Beiträge:
http://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-polina-semionova-onegin/