Es gibt ein berühmtes Gedicht von Walther von der Vogelweide, in dem der mittelalterliche Auftragsdichter empfiehlt, drei Dinge zu erwerben, was indes unmöglich sei, ohne dass eines von ihnen zu Grunde gehe. Gemeint sind: Ehre, Besitz und Gottes Gnade. Der Volksmund macht es sich da einfacher – er rät ohne Einschränkung zu drei christlichen Tugenden: Glaube, Liebe, Hoffnung. Georges Delnon wiederum, Intendant der Hamburgischen Staatsoper und dort auch Regisseur, inszeniert den „Fidelio“, die einzige Oper von Ludwig van Beethoven, als starkes Polit-Melodram mit fast unwirklichem, hintergründigem Happy End: ganz im Zeichen von Liebe, Hoffnung und Freiheit stehend. Mit dem findigen, die Partitur fein auslotenden Musikchef Kent Nagano am Dirigentenpult, mit der schier umwerfend gesangsmächtigen Simone Schneider in der Titelrolle und mit dem mehr als nur akkurat getakteten Chor der Staatsoper Hamburg erstrahlt eine sowohl geistreich als auch ästhetisch höchst anregende Neuinterpretation der über 200 Jahre alten Schwarte. Fazit: So viel Moderne auf den Punkt ist selten im klassischen Opernbetrieb.
Die Ouvertüre – es ist hier die dritte, die Beethoven (1770 – 1827) für dieses Werk komponierte, während man sonst zumeist die vierte spielt, die indes viel langweiliger ist – lässt spannenderweise noch im Unklaren, wie die Sache ausgehen wird.
Dem eindringlichen Paukenschlag folgt eine absteigende Melodie, süß und empfindsam mutet das Klanggebilde an, aber ebenso fragil und gefährdet.
Lieblich erklingen Flötenmotive, vital zeigen sich die Streicher, pompös dürfen die Pauken, die für Beethoven so typisch sind, alle anderen zum leisen Erzittern bringen.
Liebe, Hoffnung – Liebe, Glaube – Liebe, Mut – Liebe, Freiheit:
Zwischen Mozarts konzilianter Leichtigkeit und Wagners innigem Pathos tanzt der wutrünstige Beethoven, wenn er ganz bei sich ist.
Und Nagano entführt ihn in diese ureigenen Gefilde der Wiener Klassik, als gebe es kein anderes verführerisches Labyrinth semantisch aufgeladener musikalischer Sinnlichkeit.
Ja, es ist, als hätte Mozart einen geistigen Sohn gezeugt, der ihm wiederum Wagner als Enkel zu schenken gedenkt.
Dass der taktsichere Nagano die Trompeten dann auch mal ganz zart – fast brüchig, so sensibel – intoniert, macht die Chose umso aufregender.
Die starke, aber nicht forcierende Mittellage der Streicher kommt ihm dabei hilfreich entgegen, und flugs ist Beethovens utopisches Potenzial erkannt: das harmonische Miteinanderstreben gilt als höchstes Ziel, als höchster Genuss sogar.
Und selbst, wenn nach einem unmerklichen Stopp der orchestralen Masse eine Vereinzelung der Orchestergruppen eintreten muss, so bleibt der harmonische Klang als Leitfaden doch erhalten, über einen Moment der Stille hinweg – als sei der Klangfaden eine Brücke oder ein Steg, vielleicht auch ein Element, das in viele Richtungen gleichzeitig zu vermitteln vermag.
Aber wohin wird es letztendlich gehen? Das verrät sich hier trotz der Hoffnung, die hörbar ist, nicht.
Wenn sich der Vorhang – kein wabernder Samt, sondern eine einzige Riesenjalousie – dann ganz langsam hebt, gibt er den Blick frei auf ein loftartiges Wohn- und Arbeitszimmer, dessen hinteren Wände aus großen Fensterscheiben mit dahinter grünendem Baumgebälk bestehen.
Ein großes altmodisches Radio legt als Spielzeit die 50er oder 60er Jahre des letzten Jahrhunderts nah; ein Esstisch, ein Schreibtisch, ein Klavier passen dazu. Aber auch die Gegenwart kommt in Frage – mit Nostalgiedetails.
Der Sprechtheater und Opernregisseur Rudolf Noelte (1921 – 2002) war einer der Ersten, die solche Bühnenbilder entwerfen ließen, die einem das Gefühl gaben, dass sie selbstverständlich nur ein Ausschnitt aus der Welt hinter und neben ihnen waren.
Auch Kaspar Zwimpfer entwarf für Delnon nun so einen einvernehmenden Raum – und von links schiebt sich nicht von ungefähr ein hohes Regal herein, in dem erst Akten stehen, dann aber auch Gefangene wie in Lagerkojen eingepfercht sind.
Solche Bilder brennen sich ein:
Die resignierenden Menschen, ob Flüchtlinge, Armutsbetroffene oder politische Gefangene, im Regal.
Später steht ein nackter Guantanamo-Gefangener mit verhülltem Kopf, gefesselt und reglos wie eine Statue, mitten im Raum. Um ihn herum feixen Sicherheitsleute in Zivil, in bunten Lederjacken, die so lächerlich anmuten wie die Anstrengungen jedes Unrechtsregimes, sich vor Enthüllungen zu schützen, brachial sind.
Da rentiert sich die Detailfreudigkeit der Kostümbildnerin Lydia Kirchleitner, die es schafft, den Figuren individuelle und dennoch typisierende Merkmale ins Gewanddesign zu geben.
Das Bühnenbild wechselt öfters die Stimmung und das geschickt sich verändernde Licht (von Michael Bauer) als die Kulissen. Aber die Zelle des politischen Gefangenen Florestan wird als offener Kasten von links herein gefahren.
Der fast zu Tode gefolterte Liebhaber, ein Enthüller, kniet darin mit Handfesseln auf dem Rand einer Zinkwanne, an Marat gemahnend, den baldigen Tod erwartend, die Gattin als Freiheitsengel halluzinierend.
Sie wiederum steht vorm geschlossenen Vorhang und singt von ihrer Liebe, ihrem Mut, ihrer Entschlossenheit. Großartig.
Aber da ist auch eine unglücklich verliebte junge Frau im Brautkleid, leblos rückwärts auf der Klavierbank sitzend, den Oberkörper ans Piano gelehnt. Ihr Gesicht ist vom Brautschleier unkenntlich gemacht – außer sexueller Belästigung und dem Vergewaltigungsversuch eines abgewiesenen Verehrers hatte sie nicht viel vom Liebesleben.
Es ist Marzelline, die sich in Fidelio verknallte und auf Verheiratung mit ihm hoffte, ohne zu wissen, dass dieser eine Frau und Gattin namens Leonore ist. Was für ein trauriges Schicksal…
Die erste Szene vom ersten Akt aber gehört ihr. Mélissa Petit zeigt denn auch stimmlich mit Brillanz und schauspielerisch mit Elan, wie diese naive Tochter eines Kerkermeisters durch die Verliebtheit aufblüht.
Zuerst sitzt sie am Klavier und spielt, was sonst, Beethovens „Für Elise“. Ein netter Einfall der Regie! Sie ist ein unvorteilhaft gekleideter, aber niedlicher Pummel, ein Mädel, das sich ungelenk bewegt und sich im Babyspeck zu verstecken sucht.
Doch kaum sind ihr Vater und sein Helfershelfer, der unliebsame Marzelline-Verehrer Jaquino (tapfer bös und hinterhältig: Thomas Ebenstein) fort, holt sie sich ihre neuen Pumps aus der Tasche. Und reißt sich die Bluse auf, tanzt im BH auf den schicken, silbrig glänzenden Pumpsabsätzen zur klassischen Musik ein bisschen Rock’n Roll – das funktioniert, weil sie so verliebt ist und Mélissa Petit mit ihrem kristallklaren Sopran und ihrem sprechenden weiblichen Körper so überschwänglich klar machen kann, wie man sich dann fühlt.
Ihre Arie „Mir ist so wunderbar“ reißt mit – und mündet ins kontrastreich dargebotene Quartett, das aus den verschiedensten Interessen besteht.
Dass Delnon außerdem den Laubwald im Hintergrund mittels Computertechnik scheinbar auf uns zurasen lässt und dort ein erst glücklich äsendes, dann neugierig glotzendes Reh präsentiert, ironisiert das Lebensgefühl Verliebter und ist ein heftiger Schmunzler.
Als Gegenstück wird später, vor und während der versuchten Vergewaltigung Marzellines durch Jaquino, dort ein weißer Wolf gezeigt – ein wenig zu brav schaut der aus seinem Wald heraus.
Aber ach, Fidelio! An dir wird wirklich deutlich, was im Untergrund der bürgerlichen Scheinidylle an Unglück brodelt.
Simone Schneider – mit blondierter Tolle rückwärts im hochgebürsteten Kurzhaar ein burschikos-anziehender Galan – begeistert als Leonore (Fidelio) mit jeder Silbe, die sie singt oder spricht. Im dunkelrosa Mantel der Dienstuniform wirkt sie vor allem tatkräftig und klug – und genau deshalb wird Fidelio von Rocco, bei dem sie sich als Mitarbeiter einschlich, ja auch so geschätzt. Was für ein Frauenbild! Die Frau als besserer Mann – kein Wunder, dass ganz am Ende von allen unisono ihre Interpretation von Gattenliebe gepriesen wird.
Das Libretto von „Fidelio“ wirkt, was in den Theater- und Filmkünsten nicht eben selten ist, indes märchenartig konstruiert. Dabei beruht es bereits auf einem anderen Libretto einer bereits bestehenden Oper: „Léonore au l’amour conjugal“ wurde 1798 uraufgeführt und ist, zusammen mit ihrem Komponisten Pierre Gaveaux, heute weitgehend vergessen. Der Stoff wurde indes als so zugkräftig bewertet, dass es noch zwei weitere (ebenfalls unbedeutende) Opern nach der ausgedachten Geschichte gibt.
Das mag an der gelungenen Verknüpfung von politischen und emotionalen Aspekten liegen, die es unzweifelhaft zu bieten hat.
Delnon macht daraus ein Faszinosum aus Politik und Herzenskraft – entstaubt und entkitscht, gibt die Substanz des Librettos umso mehr her.
Es geht, ungewöhnlich genug, um eine willkürliche, widerrechtliche Verhaftung.
Kein Opernthema? Von wegen. „Fidelio“ lehrt alle, die auf den „fidelen“, also scheinbar „lustigen“ Namen der Oper reinfallen, Mohres!
Denn: In dieser Oper, die in ihrer Endfassung 1814, in ihrer Erstfassung aber schon 1805 uraufgeführt wurde (beide Male in Wien), geht es ums Menschenrecht, um Gerechtigkeit, auch um das Recht, die Verbrechen anderer aufzudecken und zu benennen.
In gewisser Weise ist „Fidelio“ sogar ein musikalisches und dramatisches Plädoyer für die moderne Meinungsfreiheit, denn Florestan, das Opfer von Willkür und Tyrannei, ist der erste Whistleblower oder gar Enthüllungsjournalist der Oper – lange, bevor es diese Vokabeln überhaupt gab.
Konkret wird zwar gar nicht gesagt, was den mit Hunger- und Dunkelfolter fast zu Tode gebrachten Florestan mit Don Pizarro, den ihn peinigenden Gouverneur, verbindet. Doch deutlich wird ist, dass Florestan einem Verbrechen auf die Spur kam, welches Pizarro zu verantworten hat. Bevor der Enthüller sich nun öffentlich äußern konnte, wurde er gefangen genommen und in unterirdischer Gewahrsam illegal festgesetzt.
So machen es Tyrannen in allen Systemen, gleich, welcher politischer Couleur: Ihre Kritiker werden kriminalisiert und ausgemerzt, ausgehungert oder umgebracht. Die Unterdrückung der Wahrheit und auch des Rechts der Allgemeinheit, von ihr Kenntnis zu bekommen – allzu leicht entgehen solche Verbrechen auch den wachsamsten Augen.
Ein kleiner Einwurf hierzu: Heute ist es vor allem die produktherstellende Industrie, die sich über Lobbyisten und mit Druck- und Korrumpiermitteln illegal Einfluss zu verschaffen sucht. Ihre Kritiker werden in Grund und Boden geklagt, mit Rufmord und Intrigen weggemobbt oder gleich an die Psychiatrie verwiesen. Selbsthilfe- und NGO-Vereine werden aufgekauft, bevor sie unabhängig kritisch werden könnten. Allen voran rangieren die Pharma- und die Lebensmittelindustrien, die Beton- und die Waffenhandelmafiosi: mit Sauereien, die eigentlich angeprangert gehören, für die aber im Gerangel nach persönlichem Vorankommen keiner mehr ein offenes Ohr hat.
Auch in Hamburg hat sich kürzlich wohl niemand darum gekümmert, als beim Bahnhof Dammtor zwei sehr schöne, Jahrzehnte alte, also stattliche Bäume ohne Sinn und Verstand gefällt wurden.
Ihr Holz wird verkauft, der Ort dort baulich weiter verschandelt, passend zur riesigen Baugrube, die wenige Meter weiter im Park Planten un Blomen entstand, wo ein Biergarten der Kommerzgastronomie in Planung ist.
Das sind nun nur kleine Beispiele, anderes mag noch schwerer wiegen. Aber was ist los in diesem Land, dass man hier nur noch über Flüchtlinge und die AfD redet? Gibt es sonst nichts zu tun?
Die Zuckerindustrie darf ungestraft und heimlich, still und leise mehr und mehr Zucker in Medikamente mischen. Lesen Sie mal die Inhaltsliste Ihrer Pillen! Zucker macht bekanntlich süchtig, fett und verursacht Diabetes – und jedes Milligramm davon an falscher Stelle ist ein Milligramm zuviel. Aber weil die Zuckerindustrie ihr Zeug los werden will und daran verdient, wenn immer mehr Zucker konsumiert wird, muckt niemand auf.
Man spricht sich nur noch für eine Sache aus, wenn man unmittelbar Vorteile davon hat. Das ist Lobbyismus. Nicht Freiheit!
Und so werden tagtäglich in den Städten wie auf dem Land viele Bäume gefällt, die eigentlich Naturdenkmäler sein müssten – wie die Linden, nach denen der historisch bedeutsame Boulevard Unter den Linden in Berlin benannt ist. Das ist eine jahrhundertealte Allee, die mangels Baumbestand bald besser An der U-Bahn hieße. Denn für den obsoleten U-Bahn-Bau dort wird gefällt. Als würden Busse und die S-Bahn auf der Strecke nicht genügen.
Aber auch die beiden Stämme am Bahnhof Dammtor hatten ihre Berechtigung – man nahm sie ihnen, und ob überhaupt mal nachgepflanzt wird, ist derzeit nicht ersichtlich.
Dabei ist es wissenschaftlich bewiesen, dass Menschen ohne Bäume, ohne Blumen, ohne das Gezwitscher, Geflatter, Gehupfe von Wildvögeln viel eher krank werden als mit. Der Mensch ist kein Roboter, sondern für einen energetischen Austausch mit anderen Lebewesen geschaffen.
Allergien entstehen hingegen durch unsachgemäße Zusatzstoffe in der Nahrung und im Lebensraum. Ein Vergleich mit der damals abgeriegelten DDR zeigt: Dort, wo es aus Gründen der Einfachheit kaum Zusatzstoffe wie Xanthan in den Lebensmitteln gab, nämlich in Ostdeutschland, gab es auch deutlich weniger Allergien.
Doch wann wird es die ach-so-intelligente Menschheit begreifen, dass zuviel Naturvernichtung zwecks Profitgier nur wenigen was bringt, während die Allgemeinheit ganz andere Handlungsmaximen nötig hätte?
Da gibt es wohl Zusammenhänge. Delnon zeigt, dass der Wald, den er spektakulär auf uns zurasen lässt, in der Realität vor uns davon laufen würde, wenn er könnte: Am Ende der Sequenz rast das Bild wieder zurück.
Ohnehin ist die Natur in dieser Inszenierung durch das Bühnenbild stark präsent, ein großes Plus, das unser Bewusstsein weckt. Denn:
Jeden Tag werden Wiesen, Hecken, Wälder in Deutschland abgeholzt und zubetoniert, im Namen des Profits. Einige heimische Insektenarten sind schon ausgestorben, manche Vogelarten sind in Gefahr. Ohne Natur, ohne Insekten, ohne Vögel fehlt uns aber ein Stück unserer Kultur, auch unserer Gesundheit.
Tokio und Peking sind da eben keine Vorbilder: Sie machen es falsch, wenn sie die Hochhäuser dicht an dicht bauen und keinen Raum dazwischen lassen, um Licht und Schatten zu unterscheiden und reichlich Grünzeug wachsen zu lassen.
Es ist hingegen unsere Aufgabe, es ihnen nicht nachzumachen.
Sind wir zu doof dazu? Anscheinend ja.
Da nützt aller technischer Fortschritt gar nichts.
Und auch in Deutschland gibt es, wie in „Fidelio“, Justizirrtümer, Willkür und grobe Ungerechtigkeiten. Je mehr Urteile gefällt und je mehr Menschen inhaftiert werden, desto mehr irrtümliche oder schlicht falsche Vorgänge befinden sich wahrscheinlich darunter. Nicht alle werden aufgeklärt. Und auch die, die aufgeklärt werden, können nicht rückgängig gemacht werden.
In Deutschland muss man tatsächlich in die Oper gehen, um zu solchen Dingen Denkanstöße zu erhalten.
Die Politik konzentriert sich derweil auf Machtgewinn durch Massenverblödung. Wenn eine Wahl eindeutig ein Patt zeitigt, sodass Neuwahlen dringend fällig wären, was macht man dann in Deutschland? Eben. Man beratscht die Lage monatelang, um eine Kompromissregierung hinzuschustern, die im Grunde keiner will. Ein Gesetz gegen freiheitsfeindliche, rechtslastige Parteien wie die NDP, die AfD und ähnliche lässt hingegen auf sich warten. Freiheit? Fehlanzeige!
Vielleicht hat sich seit dem Mittelalter nicht so sehr viel geändert wie erhofft.
Liebe, Hoffnung, Freiheit – wer hat diese drei Dinge? Schließen sie etwa einander aus, so wie Ehre, Besitz und Gottes Gnade es für Walther von der Vogelweide taten? Ist es nur eine Utopie, sie zu haben?
Eine personifizierte Utopie ist Simone Schneider als Fidelio, sie ist die Hoffnung und die beglückende Tatkraft in Person: So, wenn sie von ihrer Zuversicht singt – oder wenn sie furchtlos mit Rocco, dem Kerkermeister (hervorragend gesungen und gespielt von Falk Struckmann) über die Erlaubnis, Florestan zu besuchen, verhandelt.
Dabei macht Rocco ihr eine ganz andere Vorgabe: Pizarro (stimmlich mephistophelisch schillernd: Werner Van Mechelen) hat ihn gedungen, das Grab für Florestan in dessen Zelle auszuheben. Rocco lehnte die Mordausübung ab, ist aber zur Beihilfe bereit. Pizarro will den ohnehin von Hunger und Folter sehr geschwächten, unliebsamen Wissenden dann eigenhändig umbringen („ein Stoß – und er verstummt“).
Der Minister, der sich kurzfristig auf Visite ankündigte und der ein Freund von Florestan ist, soll solchermaßen nicht bemerken, dass es diesen illegalen Gefangenen gibt.
Auch die anderen Häftlinge werden tyrannisch behandelt. Aber vor allem Florestan ist Pizarro ein Dorn im Auge – ganz so, wie es Intellektuelle und politische Häftlinge stets und zu allen Zeiten waren und sind.
An sich weiß man, wie solche Geschichten in der Realität oft ausgehen: tief traurig.
Natürlich denkt man heutzutage auch an den Journalisten Deniz Yücel und an viele andere kritische Wortmächtige, die von Erdogans Hass in und von der Türkei aus verfolgt werden.
Nun sind wir aber in der Oper. Und Beethoven, Delnon und andere erkennen hier die Möglichkeit, das Publikum zugleich aufzuklären und es zu läutern – und ihm sogar noch Hoffnung mit auf den Weg zu geben.
Florestan, puristisch, aber zugkräftig gesungen und gespielt von Eric Cutier (der für den erkrankten Christopher Ventris einsprang), ist derweil so geschwächt, dass seine Frau und Rocco ihn schlafend oder ohnmächtig wähnen.
Als sein Grab – unter zahlreichen Manövern des geschickten Zögerns durch Fidelio – ausgehoben ist, erscheint Pizarro, mit einer Goldmaske getarnt. Doch bevor er zum Mord schreiten kann, tritt Fidelio ihm todesmutig entgegen, mit dem berühmten Ausruf „Töt’ erst sein Weib!“ Da Regisseur Delnon ihr eine Pistole zur Wehr gibt, scheint ihr Aufopferungscredo jetzt aber eine aberwitzige Provokation zu sein. Ha! Sie scheint die Stärkere. Aber auf lange Sicht hätte sie alleine wohl keine Chance, auch nicht, wenn sie Pizarro erschießen würde.
Doch da naht auch schon der deus ex machina, die Rettung in höchster Not in Person des Ministers. Trompeten kündigen ihn an – ihr Klang, der zu Beginn so fein und beinahe filigran erschien, ist auch jetzt nicht übermäßig gepusht, sondern wirkt vor allem rein und klar.
Es ist das Signal der Peripetie: Jetzt wendet sich das Blatt. Von nun an geschieht Gutes, Gerechtes, Zukunftsträchtiges. Was Glück, dass Florestan, das Opfer, ein alter Freund des Ministers ist! Auch hier birgt das Libretto harsche Gesellschaftskritik: Ohne private Protektion würde nämlich noch nicht mal das deus-ex-machina-Prinzip hier greifen.
Nur Marzelline, die von Jaquino fast geschändete, verharrt so oder so wie leblos auf ihrem Piano, ihr Leben ist vorbei, bevor es wirklich begann.
Auch solche Schicksale haben mit „Mee, too“ zu tun.
Die Debatte, die aktuellerweise mit Beschuldigungen bei Matthias Hartmann, einst Intendant der Wiener Burg (Burgtheater in Wien), ankam, verschweigt derweil noch immer die Vorgänge in den mainstreamigen Verlagen und Medien.
Im „Fidelio“ in Delnons Regie erbarmt sich sogar der Bösewicht Pizarro und verscheucht den Belästiger Jaquino. Doch dadurch steht das junge Mädchen Marzelline glatt in seiner Schuld… wird er das am Ende selbst ausnutzen wollen?
Dagegen sieht das Libretto ein gnadenlos unrealistisches, aber rundum glückliches Ende vor.
Dass sich – nachdem das heroische Sextett von den Solisten mit Hingabe absolviert wurde, nachdem Leonore und Fidelio sich liebend bei der Hand nahmen, nachdem die Gefangenen befreit sind und ihre Würdigung im Radio verkündet wurde – der im übrigen fantastisch singende Chor ganz nach vorn an die Rampe schiebt, um in weißer Kleidung auszusehen wie in China verfolgte Falun-Gong-Mitglieder, mag auf den ersten Blick verwirren.
Georges Delnon gibt damit aber auch jenen ein Recht, sich zu zeigen, von denen man in Europa nicht wirklich weiß, was man von ihnen zu halten hat. Er bezieht – und das ist in einer globalisierten Welt nur folgerichtig – auch Kulturen mit ein, die einem so fremd sind, dass es schwer fällt, Position zu beziehen.
Oder ist die unzweideutige Anspielung auf Falun Gong hier ein Warnsignal?
Die auf radikaler Disziplin und hoch gezüchteter Technik beruhende Tanzshow Shen Yun gehört typischerweise zu dieser Organisation, die derweil abstreitet, überhaupt eine zu sein. Aber auch eine lockere Vereinigung kann und muss man als Organisation sehen, zumal wenn sie wohl nicht ganz zu Unrecht als Sekte bezeichnet wird.
Die verlogene Werbung für Shen Yun, die in reißerischem Ton nahe legt, Menschen seien schon vor Jahrtausenden beim Tanzen so hoch gesprungen wie heutige Generationen, macht mich außerdem skeptisch. Und Meditation und Körpertraining halte ich gewiss in allen Ehren – aber Fanatismus brauche ich nicht.
Menschenrechtsverletzungen allerdings auch nicht.
Wer ist nun gut, und wer ist böse? Lauert da draußen schon die nächste totalitäre Gesellschaft?
O Fidelio, in Wahrheit hast du also noch viel mehr zu tun, als nur deinen Gatten zu befreien. Aber das besprechen wir besser in aller Ruhe. Denn politische Taten werden in Deutschland, das wissen wir ja, sehr lange im Voraus geplant.
P.S. Wenige Tage nach der Veröffentlichung dieses Beitrags kommt Deniz Yücel frei!
Gisela Sonnenburg
Wieder am 27. April 2018, am 2., 5. und 9. Mai