Verführung zur heißen Klamotte „Alice“ von Mauro Bigonzetti beim Ballett Dortmund: klamottenlastig und leider sehr provinziell

Alice turnt nicht an

Die Herzkönigin ist bei Lewis Carroll eigentlich ultrafies – hier aber tanzt sie relativ gesittet mit den anderen in mehr oder weniger sinnlosen, dafür aber dekorativen Figuren. „Alice“ von Mauro Bigonzetti beim Ballett Dortmund hat letztlich gute Chancen, der Reinfall der Saison zu sein. Foto: Bettina Stöß / stage picture

Hui! Ein heißes Eisen! Das Thema „Alice im Wunderland“ verführt Ballett- und Filmemacher gleichermaßen stets zu aufwändigen Kostümen. Darüber hat schon mancher den Inhalt vergessen. Schon der britische Starchoreograf Christopher Wheeldon konnte anhand der Vorlage des Kinderromans von Lewis Carroll von 1865 nicht widerstehen. Aber auch Mauro Bigonzetti scheiterte 2014 an der Inszenierung seiner vorgeblich italienisch aufgezäumten, im Titel italienisch ausgesprochenen „Alice“: Sie geriet ihm zur herzlosen Materialschlacht. Diese, einst fürs Stuttgarter Theaterhaus kreiert, gibt es jetzt unverändert beim Ballett Dortmund zu sehen. Für eine Neuinszenierung war entweder kein Geld oder kein Wille da – so triumphiert eine geschmacklose Buntheit, im Kostümbild wie auch in Videos mit Drei-D-Effekten als Hintergrund, die das Bühnenbild ersetzen. Das soll nun Kult sein? Für Leute, die sonst nur „Let’s dance“ auf RTL gucken, vielleicht. Alle anderen meiden bitte diesen halbgaren Aufguss all jener Bigonzetti-Tricks, die der Choreograf, Jahrgang 1960, bereits in anderen Stücken und dort weitaus wirksamer vorführte.

Man bedauert es, dass der Abend so daneben geht und bestenfalls gutmütige Gernzahler befriedigt, aber man kann es nicht ändern.

Es tut einem umso mehr Leid, als der superbegabte und ebenso fleißige junge Tänzer Giacomo Altovino – der den Märzhasen tanzt – sowie Denise Chiaroni und Giuseppe Ragona als Katzenpaar alles, was sie künstlerisch haben, aufbieten, um das Desaster zu retten.

Ein Lichtblick: Giacomo Altovino als „Rabbit“, im Carroll-Original „Märzhase“ genannt, in „Alice“ beim Ballett Dortmund. Foto: anonym / Facebook

Aber wo allein der oberflächliche Effekt zählt, hat die Tanzkunst ihre Rechte abgegeben.

Bigonzetti hat seinerzeit für Eric Gauthier, Bandleader und Chef der nach ihm benannten Tanztruppe am Stuttgarter Theaterhaus, eine leichtherzige, sich auf technische Wow-Effekte verlassende Show inszeniert.

Warum nun hier alle barfüßig tanzen müssen, bleibt indes ungeklärt. Vermutlich deshalb, weil es bei Gauthier Dance keinen Spitzenschuhtanz gibt.

Oder soll das seltsame Traumleben von Alice eine einzige grüne Sommerwiese sein? Dann hätte man das gern so auf der Bühne umgesetzt gesehen.

Statt dessen tummeln sich bunte Bilder aus der Retorte des Computers.

Mal ist es eine altmodische Bibliothek, mal eine Schlossruine, mal eine Museumsgalerie, dann wieder sind es abstrakte Farbrauschwelten, die den Handlungsablauf mit erklären sollen.

Handlung? Bigonzetti war noch nie ein Könner des Handlungsballetts. Auch bei seinem rundum gelungenen Meisterwerk „Caravaggio“ – 2009 fürs Staatsballett Berlin entstanden – gelang es ihm nur unter großen Mühen aller Beteiligter, aus zauberhaften Einzelszenen eine chronologisch sinnvolle Collage zu basteln. Immerhin: Durch eine atemberaubend schöne Aufzeichnung von Andreas Morell für eine DVD – übrigens mit Polina Semionova – ist „Caravaggio“ unsterblich geworden und noch heute zu empfehlen.

Einprägsame choreografische Arrangements aus „Caravaggio“ wiederholt Bigonzetti auch in „Alice“, allerdings ohne, dass man das ein Selbstzitat nennen könnte. Denn der Sinn, den etwa das Besteigen von Männerknien durch eine Frau oder das Bilden eines reliefartigen Reigens mit antiker Anmutung hat, ist im Neuaufguss komplett verloren gegangen.

Es geht in „Caravaggio“ nicht nur um den Maler gleichen Namens, sondern vor allem um das bedrückende Lebensgefühl von Aufsteigern neben Absteigern, von Mordintrigen neben Malerfolgen, von Liebe und Gewalt am Abgrund zum Tod, die quasi in einem Atemzug stattfinden. „Caravaggio“ ist Renaissance von unten auf ballettöse Art, unter starkem Einsatz von Spitzenschuhen.

Alice turnt nicht an

Das Corps de ballet darf mal aus sich heraus gehen: in „Alice“ von Mauro Bigonzetti beim Ballett Dortmund. Foto: Björn Hickmann / Theater Dortmund

So tiefschürfend kann das bewusst alberne Sujet von „Alice“ nun nicht sein. Aber auch dieses Kunstmärchen, das von absurden, aberwitzigen, durchgeknallten Alpträumen mit fiktiv verfremdeten Tieren und einer bösen Herzkönigin handelt, hat gesellschaftskritische Tiefenschärfe.

Um diese herauszukristallisieren und auf die Tanzbühne zu übertragen, müsste man allerdings richtig Hand anlegen. Das scheut Bigonzetti – er lässt lieber seine Gedanken schweifen und konstruiert abstrakte Szenen, die auf kein besonderes Ergebnis abzielen.

Die Choreografie ist von daher total beliebig, und dass die Herzkönigin eigentlich furchterregend brutal ist, geht ebenso verschütt wie die Sehnsüchte des Mädchens Alice, das in der imaginierten Horrorwelt hinter dem Spiegel seine eigene Misere als rechtloses Kind erlebt.

Die überraschenden, schönen Momente in „Alice“ haben rein mit dem Engagement der Tänzer zu tun.

Giacomo Altovino als niedlicher, aber auch beschützender Hasenmann oder Anna Süheyla Harms als „große Alice“ tanzen sich die Seele aus dem Leib, wie man so sagt.

Harms hat zudem den Vorteil, das Stück sehr gut zu kennen, denn sie tanzte die Uraufführung und reiste jetzt von Stuttgart, von Gauthier Dance, an. Sie sprang für die verletzte Dortmunderin Jana Nenadovic von Raimondo Rebecks NRW Juniorballett ein (der gute Besserung gewünscht sei!).

Allerdings hat Bigonzetti ohne dramaturgische Notwendigkeit die Figur der Alice verdoppelt und mit zwei ungleichen Zwillingen besetzt. Im Laufe des Abends dividieren sie sich auseinander – anstelle einer Reifung Alices teilt sie sich.

Die Eine nennt er „große Alice“, die Andere, von Ida Kallanvaara mit viel Einsatz getanzt, die „kleine Alice“. Die erste soll wohl die bereits zur Frau reifende junge Dame in Alice darstellen, die zweite hingegen ihre kindlichen Anteile verkörpern. Konsequent umgesetzt ist aber auch dieses Konzept im theatralen Spiel nicht – man hat den Eindruck, Mauro Bigonzetti habe während des Kreationsprozesses an seinen eigenen Ideen die Lust verloren.

Überhaupt ist seine Karriere als Choreograf gewissermaßen tragisch. Sein erstes Werk entstand 1990, als er noch Tänzer war, auf Klänge von Bach: „Sei in Movimento“ war luftig auf die Partitur geworfen wie ein durchsichtiges, helles Tuch.

Nach seiner Ausbildung in Rom und nach zehn Jahren Berufserfahrung am dortigen Opernhaus war Bigonzetti zum moderneren Aterballetto in Reggio Emilia gegangen. 1992 sattelte er weiter um, wurde freier Choreograf. Fünf Jahre später kam er nach Reggio zurück, als Leiter des Aterballetto. Er verließ den Posten 2008, um nur der freien Kunst zu leben. Ohne für ihn lästigen Führungs- und Verwaltungskram. Fast zeitgleich trennte er sich von seiner Ehefrau, um auch privat größtmögliche Unabhängigkeit zu leben.

Come un Respiro“ („Wie ein Atmen“) und „Romeo e Julia“, in einer betont erotischen, viel Haut zeigenden Inszenierung, gehören zu seinen besten Stücken. Auch ein „Sacre“ hat er kreiert und sich dabei bemüht, neue Wege zu gehen. Sein Meisterstück „Caravaggio“ sticht aber von all diesen Choreos ab – und es sieht nicht so aus, als würde Mauro Bigonzetti in absehbarer Zeit mehr als ein guter Gebrauchschoreograf werden.

Große Themen und ganze Abende trauen wir ihm nunmehr kaum noch zu.

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Eigentlich ist seine „Alice“ zu belangloser, angeblich „süditalienischer“ Live-Musik etwa von der Gruppe Assurd ohnehin eher ein Möchte-gern-Mode-Spektakel als ein Tanzstück. Die Verführung zur heißen Klamotte war wohl zu groß.

Helena de Medeiros, die versierte Kostümbildnerin, hat sich denn auch mit viel Inspiration ausgetobt. Bunt und in den gefundenen Formen sehr fantastisch gemacht, sorgen ihre Einfälle immer wieder für Aha-Erlebnisse und Augenschmaus-Momente.

Zu retten ist so aber nicht wirklich was, denn solche munteren Klamotten machen – egal, wie lustig sie sind – keinen substanzlosen Ballettabend wett.

Aber was heißt überhaupt „Ballett“ hier?

Bigonzetti hat seinen sonst ans Ballett angelehnten Stil für die Truppe von Eric Gauthier gewandelt und von der modernen Klassik entfernt, um sich weit in den Contemporary Dance vorzuwagen. Mit welchem Erfolg? Formal passte das Stück so gut ins Stuttgarter Tanzhaus. Inhaltlich war damit aber noch nie was gewonnen.

Und so muss man dem Ballett Dortmund – trotz Premierenjubel von den eingefleischten Fans – für so einen provinziellen Abend das Beileid aussprechen. Und hoffen, dass die nächste Kreation von Ballettchef Xin Peng Wang wieder das gewohnte Niveau bietet.
Martin F. Emsig / Gisela Sonnenburg

Termine: siehe „Spielplan“

www.theaterdo.de

 

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