Welche Grazie! Welch Ausdruck! Welch historisch exakte, aber mit so viel neuem Leben gefüllte Pose! Polina Semionova als „Giselle“: ein Ereignis! Ein Triumph! Ein großer Abend! Sie kam damit zurück zum Staatsballett Berlin, sie tanzte und sie siegte. Dafür hat Polina Semionova, die internationale Starballerina Malakhov’scher Prägung, hart gearbeitet und viel geprobt, und mit ihr taten es die Mitstreiter vor Ort. Es hat sich gelohnt. Fürs Staatsballett Berlin, für die Zuschauer. Und für Polina. Ihr Comeback auf die Bühne des Schiller Theaters, und zwar als Stargast, war ganz sicher auch für sie persönlich einer der wichtigsten Momente ihres an Aufregung nicht gerade armen Primaballerinenlebens.
Vladimir Malakhov, der sie einst entdeckte und bekannt machte, kann stolz auf sie sein. Semionova setzte bei der Premiere mit Patrice Barts schlüssiger Inszenierung von „Giselle“ voll aufs Künstlerische. Sie präsentierte sich eben nicht als kühle Technikerin oder routinierte „Rampensau“. Im Gegenteil: Man hatte den Eindruck, dass hier eine Ballerina ihre Lebensrolle gefunden hat, nämlich jenes Surrogat an Kunst und Hochkarätigkeit, mit dem sie, metaphorisch gesehen, unsterblich wird und in die Ballettlegende eingeht.
Es war ja damit zu rechnen, dass sie gut sein würde. Man konnte sie auch schon als „Giselle“ sehen, aber nicht in Berlin und vor allem nicht in dieser für sie in Details nochmals überarbeiteten Version. Aber dass sie so gut sein würde wie bei der Premiere am Donnerstag – das haben selbst Kenner und Fans vielleicht nicht geahnt. Für mich am schönsten: die von ihr nachgebildeten historischen Posen, die an die Stiche etwa mit Carlotta Grisi aus dem 19. Jahrhundert erinnern. Es ist schier unfasslich, dass eine Tänzerin mit heutiger Schönheit – also mit langen Gliedmaßen, schmalen Hüften und verhältnismäßig großer Körperlänge – die Winkelgrade und auch die Poetik der Romantik so exakt verkörpern kann. Das Neckische, das Wolllüstige, das Verliebte von Giselle gerade im ersten Akt ist einfach wundervoll mit Polina Semionova wiedergeboren.
Es gab in den letzten Jahrzehnten viele herausragende Gisellen in der kosmopolitischen Ballettwelt, sehr viele sogar: von den weltweit bekannten Größen – wie der delikaten Alessandra Ferri und der Fastalleskönnerin Svetlana Zakharova – über die früher virtuos menschelnde Alina Cojocaru bis hin zur superzarten Elisa Badenes (der ganz jungen Giselle in Stuttgart). Von der keck und sportiv inspirierten Natalia Osipova bis zur extravagant-glaubhaften Anna Laudere in Hamburg (die die romantische Giselle bisher nur auszugsweise tanzen durfte). Polina Semionova ist zwar mit niemandem zu vergleichen, am ehesten noch mit Alina Cojocaru in ihrer besten Zeit. Aber sie vereint alle Tugenden in sich, die Giselle haben sollte: Sie ist brillant-fühlig und authentisch im Ausdruck, dabei aber so artifiziell wie notwendig in der Überformung.
Sie übertrifft damit sogar noch Galina Mezentseva, die in den 80er Jahren am Kirov Theater in Sankt Petersburg als „Giselle“ sowohl technisch als auch von der Gestaltung her – beinahe lautlose Landungen! – Maßstäbe setzte. Semionovas Güte knüpft hieran an, gerade in den typischen „Giselle“-Soli und Pas de deux, etwa im Minkus-Solo im ersten Akt und beim kreiselnden Solostart im zweiten Aufzug. Form und Inhalt sind da eins – beste Voraussetzungen für die Tanzkunst.
Aber sogar die denkbar beste Ballerina aller Zeiten wäre nichts ohne ein Ensemble, das mit ihr tanzt und ihr zutanzt – und ihr auf ihrem Niveau begegnen kann. Das Corps de ballet vom Staatsballett Berlin übertrifft sich selbst mit sanft wiegenden Walzern in harmonischer Synchronizität sowie mit atemberaubend lyrischen, dennoch akkurat-präzisen Szenen im Ballet blanc im zweiten Akt! Jeder Szenenapplaus hier war berechtigt! Diese Leistungen bilden ein Meisterstück auch der Ballettmeister-Riege, sowie von Patrice Bart, der eigenhändig einstudierte. Bei diesem Corps stimmt stets auch der Ausdruck, variiert von sommerlich gelöster Heiterkeit im ersten Akt zur unheimlichen Geisteratmosphäre im zweiten Teil. Ein Hochgenuss!
Man muss dazu sagen, dass es eine weitere Hochleistung ist, dieses Ballett so vorzüglich auf einer Bühne aufzuführen, die an sich für raumgreifendes Handlungsballett zu klein wäre, wenn nicht solche Könner am Werk wären. Das Schiller Theater als Ersatzbühne für die sich schier endlos im Renovierungszustand befindliche Staatsoper Unter den Linden kann eigentlich kein vollwertiger Spiel-Platz für Ballett und Oper sein – und ist es doch gelegentlich, wenn eine Inszenierung so richtig maßgeschneidert angepasst wurde. Dennoch wünscht man sich manchmal, die Tänzerinnen und Tänzer hätten mehr Umfeld für ihre Sprünge und Läufe – und man glaubt fast an optische Täuschung, wenn der Corps im Schiller Theater ganz dicht aneinander vorbei tänzelt, ohne sich gegenseitig zu bedrängen. Eine fantastische Sache!
Das Licht von Franz Peter David tut hier ein Übriges, denn die Bühne ist nicht zu dunkel (was im Ballett oft eine Gefahr ist) und auch nicht zu knallig bunt, sondern sie transportiert die jeweiligen Stimmungen. Wie bei Filmdrehs schweben zudem viele Partikel von Trockeneisnebel in der Luft, was für die Lichtverhältnisse optimal ist. Es ist zu hoffen, dass hier künftig nicht gespart wird, sondern jede Aufführung (nicht nur die Premiere) diese vornehme und elegant dosierte Benebelung der Sphäre erfährt.
Musikalisch macht der Staatskapelle Berlin so schnell niemand was vor. Anton Grishanin dirigierte die Premiere mit zarter Hand, geschmeidig in den Wechseln der Instrumentengruppen, absolut harmonisch vom Rhythmus her – und mit genüsslicher Langsamkeit die Walzer atmend, sodass die Tänzer wie die Zuschauerohren jede Sekunde auskosten konnten. Es ist ja ein fataler Fehler so mancher Dirigenten, bei der „Giselle“-Musik von Adolphe Adam (ein Solo der Titelfigur im ersten Akt stammt indes von Ludwig Minkus) zu hetzen, um so das Ganze in Wallung bringen zu wollen. Hier jedoch wird von den Tänzern verlangt, die ohnehin stark fordernden Balancen der Choreografie noch zu verstärken – immer wieder ein erhebender Anblick.
Die beiden Momente des choreografischen Guts der „Giselle“ schmiegen sich fein aneinander: Da sind zum einen die historisch-tradierten Tänze von Jean Coralli, Jules Perrot und Marius Petipa (der besagtes Minkus-Solo kreierte) und zum anderen die ganz neu gestalteten von Patrice Bart. Beides greift ineinander, ergänzt einander, lässt einander aber auch eigenständiges Flair entwickeln.
Der erste Akt, mit der Ausstattung von Peter Farmer in schmeichelnd gelbgoldbraunen Spätsommertönen gehalten, ist nicht nur der Tradition geschuldet, sondern wurde von Patrice Bart mit feinen Veränderungen im Vergleich zu den Originalversionen aufgepeppt. Da hüpfen gleich zu Beginn einige gut gelaunte Ensemble-Paare über die Bühne, mit diesem erfrischend leichtfüßigen Esprit, den ich so nur von Patrice Barts Choreografien kenne, der typisch für seine weltweiten Einstudierungen ist und der, auf das Ballett der Pariser Oper bezogen, ein typisches Flair Parisien hat: schnell, erotisch, auch mit Grandezza gesegnet.
Man fühlt sich schnell daheim in diesem französischen Dorf, das unter deutscher Vorherrschaft existiert, im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Weinernte, die hier glücklicherweise unspektakulär abläuft. Einige Körbe Weintrauben und Ranken werden angehäuft, ein kleiner Waggon ohne Personal darauf wird kurz hereingefahren. Kein Aufsehen erregendes Spektakel, sondern mehr ein kleiner dramaturgischer Kniff. Zuvor jedoch: Der Auftritt von Hilarion, der in dieser Version kein hässlicher Lückenbüßer ist, sondern endlich auch ein Schönling sein darf, wie der Held Albrecht, Hilarions Konkurrent bei Giselle.
Leonard Jakovina tanzt den Hilarion mit Herz und erfolglos heißem Bemühen: Dieser Wildhüter ist ja der Pechvogel im Dorf. In Bezug auf Giselle kommt er immer entweder zu früh oder zu spät, und am Ende kommt er auch noch ums Leben. Bei Bart stirbt er nicht an Erschöpfung, sondern ertrinkt im See. Das bringt ihn in Verwandtschaft zum noblen Prinz Siegfried in Patrice Barts tragisch endendem „Schwanensee“, der ja ab Januar wieder auf dem Spielplan beim Staatsballett Berlin steht.
Hilarion also hat keine Chance, versucht aber, diese zu nutzen. Choreografisch lebt er vor allem im Dreier auf: Wenn er das Paar Albrecht und Giselle aufstöbert und auseinanderzubringen sucht. Da stimmt jede Regung, jeder szenische Sekundenbruchteil!
Zuvor jedoch: Der Auftritt von Albrecht! Mit Marian Walter, dem lyrischen Zögling der Staatlichen Ballettschule Berlin, ist es ein Oh-wowow!-Auftritt, denn der junge Mann stürmt geräuschlos vom Horizont her ins Blickfeld, wie hereingeweht, mit einen rotsamtenen Umhang wedelnd. Oh, was Mann! Seine erste Pantomime ist denn auch mustergültig, so charmant, verliebt, so anmutig: Er erzählt mit Gesten von Giselle, diesem heißblütigen Mädchen, das so hübsch ist wie eine Blume und so viel Begehren in ihm weckt, wie er es bisher noch nie gefühlt hat. Obwohl er kein lammfromm-blutarmer Adliger ist, sondern ein Bruder Leichtfuß, im Grunde sogar ein Schürzenjäger.
Dann kommt Giselle, also Polina! Szenenapplaus begrüßt sie, und sofort setzt sie zu Giselles weltberühmter Rotunde aus frohgemuten Hüpfern an. Welch ein graziöses Mädchen, von gesundem Selbstbewusstsein, mit einer sprühenden Lebenslust ausgestattet und von einer hinreißend erotischen Silhouette! Polina Semionova spielt nicht nur, sie ist für diese Aufführung wie geschaffen! Sie IST dieses Bauernmädchen, das zuviel Herz hat, um alt zu werden, sie IST dieses bedenkenlose Liebesbegehren, aus dem zwangsläufig eine Liebe über den Tod hinaus werden muss. Weil es so stark ist, dieses Gefühl!
UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/
Die Ästhetik des Naiven liegt Polina zudem immens. Keiner ihrer Schritte wirkt eitel oder selbstbezogen, im Gegenteil: Man hat, ohne dass sich technisch Fehler einschlichen würden, den Eindruck, die im Ballett übliche Selbstkontrollierung wurde zu Gunsten des spontanen Ausdrucks vernachlässigt – so etwas gelingt wirklich nur ganz großen und auch sehr fleißigen Talenten.
Selbstvergessen tändelnd, ohne unnötigen Zierrat einzuflechten: So überzeugt Polinas Interpreation der Giselle vom ersten Anblick an. Und es funkt, zwischen ihr und ihrem Herzbuben! Marian Walter spielt das fantastisch, das Drängen des sich an sie heranmachenden Kavaliers, der zugleich, trotz versierten Flirtens, sein Herz an sie verliert – ohne das selbst zu bemerken. So ist es ja im wahren Leben auch, hier machen das die Künstler einmal fein sichtbar.
Zwischen ihnen brennt die Luft, aber sie sind nicht allein. Berthe, die Mutter Giselles, taucht auf und verkündet mit der Miene einer Heiligen Warnungen. Weronika Frodyma füllt diese Rolle mit Souveränität und Ruhe – und auch mit Jugend, denn in Patrice Barts Sicht ist Berthe keine verbitterte alte Frau, sondern eine noch jugendlich bewegte, vitale Person. Sie hat ja auch ein Geheimnis, das erst später eine gravierende Rolle spielen wird. Ihre Tochter Giselle ist nämlich womöglich auch die Tochter des Prinzen von Kurland, und Giselle wäre damit eventuell die Halbschwester des Mannes, den sie liebt. Geschwisterliebe – ein heißes Thema, das Patrice Bart hier intendiert haben möchte (siehe Artikel: „Wenn Liebe stärker ist als der Tod“, hier im Ballett-Journal).
Zunächst herrscht eitel Sonnenschein, wenn das Ensemble und die Hauptdarsteller ihrer Lust am Tanzen frönen. Bart komponierte Gruppen- und Grüppchentänze – mit Paaren und in Reihen – die an Brillanz und Zauber nichts zu wünschen übrig lassen. Als derart frei und glücklich kann man das Landleben im Sommer sehr wohl empfinden!
Der Bauern-Pas-de-deux erhält zudem die Anmutung eines Grand pas de deux: Ulian Topor bietet technisch alle Finessen, bis hin zu den Tours en l’air. Seine hoch geworfenen Beine, auch ein solides Partnering machen ihn für den Part passend. Vielleicht ist er einen Hauch zu brav, zu lieb in der Ausstrahlung, so ein Bauernbursche muss sich nicht nur hochsprungmäßig ins Zeug legen, sondern auch mit einem Hauch Machotum brillieren. Das ist indes schwer in diesem technisch rasanten Pas, Roberto Bolle, der sich darin als ganz junger Tänzer mit Patrice Barts Hilfe übte, weiß das ebenfalls. Als Visitenkarte mit guter Empfehlung für weitere Aufgaben taugt Topors Rollendebüt aber allemal. Seine Partnerin, die charmant-schöne Iana Balova, war in den verzwickten halbhohen Sprüngen denn auch exakt auf Linie mit ihm – die beiden könnte man sich auch in anderen Stücken als Pärchen vorstellen.
Dass hier dennoch Polina Semionova das absolute Zentrum ist, ist normal – so ist das Stück angelegt, so soll es sein, und die Interaktion dieser Giselle ist allemal beachtenswert. Als „Weinkönigin“ posiert sie für ein paar Sekunden, mit den Jungs aus dem Dorf flirtend, einen Kranz auf dem hübschen Köpfchen – und sie wirkt dabei wie eine Ikone aus dem 19. Jahrhundert. Bis ins Schultervorschieben und bis in die Fingerspitzen. Und alles kommt von Herzen, von innen, da ist nichts aufgesetzt oder routiniert lediglich vorgezeigt. Was für ein Wechselwesen, diese herrliche Polina Semionova!
Auch zu den reichen Deutschen, die auf die Bühne kommen, also zum Prinz von Kurland und seinem Gefolge, hat diese Giselle sofort eine Beziehung, sie übertreibt darin auch nicht, wie es manchen Ballerinen, die häufig gastieren, passiert. Polinas Giselle kommt, guckt, staunt, ist instinktiv neugierig – und darin rücksichtslos gegen sich selbst. Da ist Kurlands Tochter Bathilde, die prächtig repräsentiert wird von Sarah Mestrovic, sie ist die Verlobte von Albrecht – was Giselle zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß. Als sie es erfährt, bricht für sie eine Welt zusammen, Semionova spielt diese Momente weitaus moderner als die anderen Bart-Ballerinen.
Sie bleibt einfach völlig reglos in der hinteren Bühnenmitte stehen, schräg zur Seite, halb nach vorn gebückt, wie innerlich zerbrochen, ganz regungslos. Die Arme hängen ohne jede Haltung, auch ohne Anmut, vielmehr mutlos herab. Als sei Giselle in dieser skurrilen Pose versteinert. Als sie sich aus der Erstarrung löst, hat sie die erleuchtete Miene einer Wahnsinnigen, dabei einen missionarischen Eifer im Gesicht, als sei sie eine Jeanne d’Arc – sehr bewegend, dieses mimische Szenario, das für Polina maßgeschneidert ist.
Ein letztes Mal erzählt sie von ihrer Zukunft, gestisch, pantomimisch, es ist gespenstisch, nicht mehr von dieser Welt, aber von einer widersinnigen Hoffnung beseelt, von einer Parallelwelt, die es nur in ihren Träumen gibt. Das ist bereits ihre Verwandlung zur Wili, zur untoten Geisterfrau, die Giselle im zweiten Akt abgibt. Hier ist sie schon vor ihrem Tod ein solcher Typ, das ist psychologisch gelöst und brandneu: 2000, als Patrice Bart seine „Giselle“ das erste Mal in Berlin einstudierte, war dieser Aspekt so noch nicht vorhanden, und auch die anderen Ballerinen, die ich in Barts Version kenne, blieben bis Ende des ersten Akts das dörflich-weltliche Mädchen, wenn auch in der „Wahnsinnsszene“ verzückt und weltentrückt. Polina aber ist in diesem Moment bereits auch von großer lyrischer Schönheit.
Polina Semionova aber vermag es, mit ihrer Wahnsinnsszene eine Brücke in den zweiten Akt hinein zu bauen, sie verkörpert die Vergeistigung und Transzendierung der enttäuschten Liebe als geisterhaft-erotische Figuration sogar im Dirndl. Wer will, kann hier für einige Sekunden eine Zitierung von John Neumeiers Version erkennen. Wie sich diese Giselle auf den Boden wirft, sich von der Mutter das Haar lösen lässt, mit dem Schwert des untreuen Geliebten spielt, das hat höchste darstellerische Qualität und ist zu Tränen rührend. Polinas Giselle stirbt unter Schock, im Sprung – der geliebte Mann, Albrecht, kann nur noch ihre Leiche auffangen. Ergreifend. Weil besonders traurig. In anderen Interpretationen stirbt sie nämlich erst in seinen Armen. Diese kleine Genugtuung hat sie hier nicht. Und Semionova bricht mit der klassischen Tradition, die auch das Diktat zur absoluten Schönheit umfasst. Denn sie macht sich als Leiche wirklich schwer, riskiert kurze Zeit sogar sowas wie Hässlichkeit, während Marian Walter als Albrecht sie aufrichtet und auf den Boden bettet.
Man betrauert sie dann in einem wie gemalt wirkenden Gruppenbild, das an Feinheiten und Details die ganze dörfliche Gesellschaft darstellt. Deren Vorzüge – die Geborgenheit und die Unmittelbarkeit im Umgang miteinander – wie die Nachteile: die Naivität und Hilflosigkeit vielen Phänomenen gegenüber. Wäre Giselle in einer städtischen Gesellschaft vor dem Tod sicherer gewesen? Mit Giselle ist jedenfalls das Beste, was so ein Dorf zu geben hat, dahin: die Liebeslust in ihrer deutlichsten Façon.
Der zweite Akt dann steckt voller Überraschungen choreografischer Art, wenn man Barts Version mit anderen vergleicht. Die Bart’ schen Formationen der „Wilis“ – der untoten Mädchen, die unverheiratet für die Männer, die sie liebten, verstarben und fortan wie Bräute gekleidet durch den Wald spuken, um sich an allen Männern zu rächen – verströmen erneut einen Esprit Parisien. Fast Cancan-artig muten manche Sprünge mit vorn gehaltenen Attitüden an, allerdings mit zutiefst sublimierender Strenge ausgeführt.
Myrtha, sehr sauber und fehlerfrei getanzt von Elena Pris, ist die Anführerin dieser seltsamen Frauenschar, und ihre beiden Gehilfinnen Zulmé (erhaben: Sarah Mestrovich) und Moyna (elegant: Ilenia Montagnoli) üben sich bereits in Herzlosigkeit, um, wie Myrtha, den Männern bald sicher den Tod zu bringen.
Historisch formulieren sich hier die Ängste und das schlechte Gewissen vieler Generationen von Männern, die Frauen verführt haben und sitzen ließen. Näheres dazu findet sich hier im Ballett-Journal in den Berichten über Neumeiers „Giselle“ sowie im Vorabbericht zur Berliner „Giselle“ von Patrice Bart. An dieser Stelle sei auch das Programmheft der Berliner Aufführung gelobt: zwei spannende, auch enthüllende Aufsätze von Marion Kant und Annegret Gertz schildern abwechslungsreich die sozialen und (tanz-) historischen Hintergründe zu „Giselle“.
Polina ist vom ersten Schritt an im zweiten Akt ganz bei sich, eine transzendierte Giselle mit Tatendrang; kein fad gelangweilter, somnambuler Geist ohne Ambition, sondern ein Mädchen, das mit dem Leben noch längst nicht abgeschlossen hat. Das macht sie so heutig! Man muss dazu sagen, dass Polina die „Giselle“ schon tanzte, Barts Version ist nicht ihre Jungfernfahrt mit der Rolle. Dennoch: So überwältigend dürfte sie jetzt erstmals sein. Ihr Loskreiseln auf dem Platz, auf Myrthas Geheiß, ist denn auch bildschön, soghaft, berauschend. Ihre Arabesken und Attitüden, ob gehalten oder gedreht, entzücken. Ihre Arme sind fließend und auch in Zeitlupe niemals ruckhaft oder unregelmäßig. Diese Frau ist Mensch gewordene Musik!
Es wird Zeit, sich bei Nacho Duato dafür zu bedanken, dass er sie nach Berlin zurück geholt hat. Der neue Berliner Ballettintendant kennt Polina gut und erarbeitete mit ihr unter anderem seine moderne Version von „Romeo und Julia“, in Sankt Petersburg, am Mikhailovsky-Theater. Jetzt hat er Berlin eine „fertig gebackene“ Primadonna geschenkt, die in den zwei Jahren ihrer Abwesenheit aus der deutschen Hauptstadt noch so Einiges gelernt hat.
Polina Semionova, in Moskau am Bolschoi zur Tänzerin erzogen, wurde in Berlin von Malakhov ad hoc zur Primaballerina gemacht – und gastierte schon früh und dann immer öfter in Mailand, New York und dem Rest der ballettbegeisterten Welt. Bis sie das Berliner Staatsballett verließ und vorwiegend beim American Ballet Theatre tanzte. Ihren Wohnsitz und ihren Ehemann – sympathischerweise ist es ein Ensembletänzer vom Staatsballett – ließ sie in Berlin, sie war von daher nie ganz weg aus der Stadt.
Jetzt ist sie wieder da, schöner und ausdrucksvoller denn je! Und das einzige, das diese „Giselle“ betrüben könnte, ist, dass Marian Walter bei der Premiere anscheinend überprobt war und seine Kräfte nicht ganz richtig zu dosieren wusste. Er ist technisch sonst um Einiges besser, aber darstellerisch toppte er in meinen Augen sogar Roberto Bolle, den ich bisher für den passendsten aller klassisch-romantischen Liebhaber à la Albrecht hielt. Bolle tanzte eine konventionellere Version mit Svetlana Zakharova, die wiederum – mit einem anderen Partner – auch schon mal die Giselle von Patrice Bart war. (Man sieht: Das Thema „Giselle“ eröffnet ein unentwirrbares Geflecht aus Ballettwelten.)
Die Liebe zwischen Giselle und Albrecht im zweiten Akt ist eine logische Fortsetzung ihrer Pas de deux im ersten Akt, allerdings auf einer anderen, mehr zeitgelösten Ebene. Polina Semionova und Marian Walter trafen hier genau den Nerv der Inszenierung, es war ein prickelndes Gefühl, sie auch im Mondlicht miteinander tanzen zu sehen. Denn während die Wilis Hilarion ins getanzte Kreuzverhör nehmen und in den See hetzen, wo er ertrinkt, rettet Giselle ihren Albrecht, indem sie mit ihm gemeinsam bis zum Morgengrauen tanzt.
Albrecht, abwechselnd brillierend und erschöpft, sucht dabei mit wunderbar verliebten, auch Hilfe suchenden Blicken seine Giselle. Sie wiederum weiß ihre jetzt vor allem ernsthafte Liebe mit souveräner Geistermacht zu unterfüttern. Die Paartänze im Wald, umgeben von den erotisch-gespenstischen Wilis, bilden ein besonderes Entzücken, und da ist ganz egal, wie hoch oder wie niedrig Polina das Bein hält. Entscheidend ist die Frische des Ausdrucks, des seligen Leidens – selig, weil das Paar, wenn auch im Schmerz und sogar in Todesangst, immerhin noch eine Zeitlang vereint sein darf.
Dieses Fluidum macht den zweiten Akt aus, die Stimmung ist somit nicht nur melancholisch und dramatisch, sondern auch lyrisch erhebend. Die Kostüme von Peter Farmer sind passend, nämlich einerseits reduziert aufs Wesentliche, andererseits mit wenigen Details lockend. So haben die Mädchen im ersten Akt zwar Mieder, aber keine Schürzen, und die Geisterfrauen im zweiten Akt tragen zwar eine traditionelle Frisur (eine typische Pariser Mode des 19. Jahrhunderts: hohe Bögen über den Brauen, am oberen Hinterkopf toupiert, darunter, eng anliegend, der Dutt), aber keine Blumenkränze darauf. Auch diese Girls sind: Parisienne!
Und mag die Uraufführung von „Giselle“ mit 1841 wirklich schon weit zurückliegen – mit solchen Aufführungen wird der ballettöse Blockbuster wieder topaktuell. Das zeitigt Wirkung im Innersten des Zuschauers: Man erinnert sich an jeden Liebesschmerz, den man je durchlitt, und auch an jede Freude aus Liebe und Zuneigung, die man je empfand. Und man bedenkt sogar alle Hoffnungen, die man in dieser Beziehung noch zu hegen wagt. Es sind diese grundlegenden Emotionen, die Ballett zur überragenden Kunstform machen – so etwas kann nicht mal Kino!
Gisela Sonnenburg
Termine im Schiller Theater, Berlin, siehe: „Spielplan“
Auch die anderen Besetzungen werden sehenswert sein, siehe:
http://ballett-journal.de/wenn-liebe-staerker-ist-als-der-tod/
http://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-giselle-viktorina/
http://ballett-journal.de/der-schmelz-des-schicksals/
http://ballett-journal.de/der-reiter-der-luefte/
Weiteres zu „Giselle“:
http://ballett-journal.de/staatsballett-berlin-giselle-patrice-bart/
http://ballett-journal.de/weisse-furien-und-schwarze-magie-wahrheiten-ueber-romantizismen/
*
UND BITTE SEHEN SIE HIERHIN: www.ballett-journal.de/impresssum/