Der Vollmond steht unbeirrbar mit milchiger Aura am Firmament. Der Nebel bildet einen knapp überm Boden schwebenden Teppich. Und das Grab der Titelheldin von „Giselle“ ist mit Felsbrocken und einem Kreuz so eine Art christianisiertes Hünengrab, an altgermanische und urzeitliche Riten erinnernd. Durch diese improvisiert romantische Szenerie auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden trippelt Aurora Dickie vom Staatsballett Berlin wie eine Ikone aus einer anderen Zeit. Ihr wadenlanges Tutu umschmeichelt die schönen Beine, auf ihrem Kopf funkelt ein Diadem. Kühl und gefasst wirkt die edle Frau, doch ihre Ruhe täuscht: Myrtha ist ein rachedurstiger Geist, zugleich die Königin der Wilis, also all jener früh gestorbenen Mädchen, die vor der Hochzeit verführt und sitzen gelassen wurden. In ihrem Solo zeigt sie beherrscht tollkühne Sprünge und kühne Posen. Sie ist eine Majestät! Eine wandelnde Ordnungsmacht! Und die Schar aus vierzehn zierlichen Nebelgeistern, die sie dirigiert, kennt bei Männern kein Pardon: Mit unerbittlicher Anmut treiben die um ihr Leben als Frau gebrachten Damen die Vertreter des starken Geschlechts in den Tod. Für eine Ballett-Gala ist der Auftritt der fünfzehn weiblichen Rachegeister ungewöhnlich – und in Corona-Zeiten allemal! Umso höher ist der Genuss fürs Publikum, zu einer musikalischen Einspielung aus dem Bolschoi diesen graziösen Aufmarsch zu beobachten. Und er war nur einer von vielen Höhepunkten der Gala-Ausgabe „From Berlin with Love II“.
Dank sorgsamer Probenarbeit und auch mentaler Vorbereitung geriet dieser Auszug aus „Giselle“ in der choreografischen Umsetzung von Patrice Bart nach Jules Perrot zu einem Highlight des aktuellen Ballettlebens. Aurora Dickie erwies allen Anhängern der Nebelgeist-Fraktion große Ehren; ihre Myrtha atmete ein spirituelles Fluidum, und mit präziser Sprungkunst und dominanter, aber nicht herrischer Haltung gelang es ihr, den ganzen Zauber des zweiten Akts dieses seit 1842 begeisternden Balletts zu vermitteln. Ihr weißes Gefolge – allen voran Iana Balova und Marina Kanno als bezaubernde Novizinnen – wusste die Abstände zwischen den einzelnen Tänzerinnen dank raffinierter Aufstellung geschickt zu überspielen. So war die Bühne mit romantischen Rachefeen gut ausgefüllt, und am liebsten hätte man dann noch Giselle und Albrecht den nächtlichen Tanzkampf um sein Überleben gesehen. Aurora Dickie bewies derweil das größte mir bekannte Rollenspektrum einer Ballerina: Innerhalb weniger Jahre tanzte sie das Mädchen Clara aus dem „Nussknacker“, die Hexe Madge aus „La Sylphide“, diverse modern-abstrakte Partien und eben Myrtha aus „Giselle“, alles mit jeweils scharfem Profil und einem Höchstmaß an Wandelbarkeit. Brava!
Und noch eine feminin geprägte „Massenszene“, nun ja, gab es auf der Gala zu sehen: Dieses Mal trugen die Ballerinen knallweiße Tellertutus und Federn im Haar, denn sie gehörten zum „Schwanensee“, in ebenfalls von Patrice Bart behutsam in Szene gesetzter Ursprünglichkeit. Es sind dieselben Tänzerinnen und doch ganz andere Mädchen, die hier ihre schlanken Beine strecken: Hier stehen sie stolz und traurig ihre Frau, sind keine flirrenden Rachegeister, sondern tragisch verzauberte Schwanenhoheiten.
Die synchron ausgeführte Arabesque, im Takt dazu noch als kleiner Sprung ausgeführt, ist einer jener Ballettschritte, der beide Stücke verbindet. Doch während das romantische Corps de ballet weich und sensibel wirkt, darf es im klassischen „Schwanensee“ etwas aggressiver auftreten. Im Kontrast dazu tanzt Iana Salenko als Schwanenkönigin voll Geschmeidigkeit die Liebe und die Sehnsucht, wieder ganz Mensch zu sein – Marian Walter steht ihr als verliebter Galan zur Seite.
La Salenko hatte aber noch einen ganz anderen Auftritt: als Medora in „Le Corsaire“, ihrer aktuellen Glanznummer mit Daniil Simkin.
Simkin dreht hier nun mächtig auf. Wie schon bei der „Only Soloists!“-Gala kürzlich beim Ballett Dortmund zeigt er die Partie des ehemaligen Sklaven Ali mit neu variierten Hochsprüngen, die mit einschlägiger Garantie das Publikum begeistern. Allerdings sind die dekorativen Zusätze zur Choreografie zu Beginn nicht wirklich musikalisch – und im weiteren Verlauf des Pas de deux alles andere als rollenkonform. Denn Ali tanzt eigentlich nicht, um zu brillieren, sondern weil er Medora befreit. Er feiert ihre Befreiung aus den Fängen eines Sklavenhändlers!
Dabei hat er sie nicht für sich erobert. Sondern für seinen Boss, der wiederum ihn einst befreit hat. Das ist das Besondere am Libretto von „Le Corsaire“. Der erotisch angelegte Sklave dient mit Leib und Seele seinem Herrn und Freund, dem Titelhelden, also dem Korsar Konrad. Es handelt sich um eine Männerfreundschaft besonderer Art. Denn ein Korsar ist ein Pirat, er steht außerhalb der Gesellschaft und des Rechts, und die Geschichte vom moralisch hochstehenden Seeräuber entstammt denn auch den lyrischen Ergüssen des romantischen britischen Dichters Lord Byron. Es ist ein äußerst gesellschaftskritisches Stück, mit einer sehenswerten Fassade aus Emotion und Tatendrang.
Freundschaft und Loyalität spielen aber eine große Rolle. Das sollte man inhaltlich bei diesem Pas de deux erkennen können: einen rasant auftretenden Mann, der sich keine Geliebte erkämpft, sondern den Freundschaft und Loyalität antreiben. Ali ist ein treu dienender Freund, ein Mann, für den seine Ideale wesenhaft sind.
Diese Rollengestaltung bleibt beim furiosen Daniil Simkin allerdings komplett auf der Strecke. Er schafft, was viele Startänzer weltweit seit vielen Jahrzehnten versuchen zu vermeiden: Er macht aus „Le Corsaire“ endgültig eine Zirkusnummer.
Nun ist ein bisschen Zirkus ab und an ganz hübsch, sogar im Ballett. Aber bei einer so bekannten Gala-Nummer wie dieser erwarten die nicht ganz unbedarften Zuschauer schon ein bisschen mehr als ausgestellte Technik und ein nachgerade peinliches Grimassieren. Wenn ein Tänzer eine Mimik wie ein Pornodarsteller entwickelt, sollte er sich fragen, ob er sein Publikum nicht doch in die falsche Richtung führt.
Demonstrativ gespitzte Lippen kann auch Donald Trump. Dafür gehe ich nicht ins Theater, schon gar nicht ins klassische Ballett.
Leidenschaft äußert sich im Tanz auch anders als durch aufgesetzte Posen. Das Bolschoi mariniert nachzuahmen, heißt noch lange nicht, seinen Nimbus zu verkörpern.
Eigentlich sollte in der Ballettkunst jede Bewegung sichtlich von innen kommen, nur dann ist sie Kunst, nicht Akrobatik. Es gibt viele großartige Weltstars, die das können – Daniil Simkin aber erfüllt dieses Kriterium leider nicht immer.
Und wo wir gerade dabei sind: Er sollte endlich lernen, das Reißen mit den Armen beim Schwungholen für die Pirouetten zu unterlassen. Schon Teenager in den Ballettschulen werden dazu dringend angehalten. Aber wenn ein hochbezahlter Superstar immer stärker diese Angeberbewegungen macht, bevor er mit seinen immerhin tadellosen Vielfach-Drehungen auftrumpfen kann, dann stimmt da was nicht.
Da mag das leicht verführbare Publikum noch so johlen und begeistert mitgehen – Starqualität ist etwas Anderes. Und dabei hat Simkin selbstverständlich das Talent zu mehr, zu großer Kunst statt zu Zirkus. Er braucht aber auch Chefs, die ihm das sagen und die mit ihm hart auch inhaltlich arbeiten, statt ihn nur aufs Jubelgebrüll durch das Publikum abzurichten.
Hier haben Christiane Theobald und ihre Ballettmeister noch viel zu tun. Denn es ist sicher nicht ganz einfach, einen gefeierten Star in der zweiten Hälfte seiner aktiven Karrierezeit von einem falschen Ross noch herunterzuholen. Hoffen wir das Beste!
Iana Salenko verblasst neben dem Superangeber Simkin jedenfalls zur Tanzpuppe. Das ist der zweite unangenehme Effekt solcher Pseudoerotik. Halbherzig spielen die beiden ein flirtendes Liebespaar, das sie dem Drehbuch nach aber gar nicht sind. Also fokussiert auch Salenko sich auf die Technik, beeindruckt mit agilen Pirouetten und wunderschönen, elegant ausgeführten Posen in den Hebungen.
„Le Corsaire“ hat viel mehr zu bieten – zumal es sich hier eigentlich um einen Pas de trois handelt. Wenn man das virtuose Stück von Marius Petipa um die Titelfigur einkürzt, was für Gala-Auftritte üblich ist, so müssen die beiden Tanzenden dennoch klar zum Ausdruck bringen, dass sie vor allem Freundschaft und der Kampf für dieselbe Sache – nämlich die Freiheit – verbindet. Und nicht etwa erotische Liebe zueinander.
Das ist schwierig und knifflig und wirklich was für Könner. Drehsprünge alleine und ein ohnehin verkrampft wirkendes Cambré während der letzten Pirouette reichen da mitnichten. Darum gibt es hierfür leider keine Pluspunkte.
Dass Daniil Simkin in schauspielerischer Hinsicht mehr kann, zeigt er später mit dem Adagio als Prinz Siegfried aus dem ersten Akt vom „Schwanensee“. Hier ist es wieder die Bart-Inszenierung, die auch das Kostüm – ein grünes Wams – anliefert. Und siehe da: Ohne den Leistungsdruck im Nacken, immer noch höher als beim letzten Mal springen zu müssen, entfaltet Simkin die notwendige Sensibilität, um eine Rolle mit Tanz und Gestik zu gestalten. Siegfried geht in dieser Szene mit sich ins Gericht, er ist verwirrt und bestürzt zugleich, denn er muss erkennen, dass er für das höfische Leben, für das er geboren und erzogen wurde, nicht geeignet ist.
Anrührend sucht Simkins Blick Halt, zart suchen seine Hände in der Luft nach etwas, das er begreifen kann. Und sein Körper gehört ganz der beinahe weinenden Musik, ganz der abgrundtiefen Melancholie, die die Choreografie hier formuliert.
Den jungen Prinzen bedrückt die Beziehung zu seiner übermächtigen Mutter, die ihm kaum Raum zur Selbstfindung lässt. Zuviel seiner eigenen Seele soll er unterdrücken, um der Mutter als ihr Nachfolger zu gefallen. Ein inneres Aufbegehren, eine starke Sehnsucht nach Weltflucht sind die Folgen. Aber ist er dabei noch er selbst? Diesen inneren Konflikt macht Simkin in den elegischen Balance- und Bravourstücken des Adagios sichtbar. Dafür ein rundes Da capo!
Bei den bisher genannten Auszügen aus „Schwanensee“ schafft es übrigens ein Musiker-Trio von der Staatskapelle Berlin, praktisch das ganze Orchester zu ersetzen. Lothar Strauß an der Violine, Andreas Greger am Cello und Alina Pronina am Klavier zelebrieren die unkaputtbare Musik von Peter I. Tschaikowsky mit der gebotenen Wehmut, auch mit dem notwendigen Trotz in den schnelleren und höheren Passagen. Sehr schön.
Eine weitere „Schwanensee“-Passage muss indes mit Musik vom Tonträger auskommen. Und das tut sie! Olaf Kollmannsperger und neun weitere Ballerinos sprühen nur so vor Tanzlust, während sie die „Mazurka“ aufführen, ein Juwel aus dem Schatzkästchen von Patrice Bart, das mit relativ einfachen Mitteln vieles an Charme und Corpsgeist vermittelt.
Die Kostüme von Luisa Spinatelli wirken vor dunklem Hintergrund nachgerade expressiv, und auch der Tanz gewinnt an Bedeutung, wenn keine Kulissen und weitere aufgezäumte Ballgäste herumstehen. Das ist mal ein Vorteil vom erzwungenen Purismus!
Wie ein Pfeil formiert tanzen die wilden Jungs die ausgelassene Lebensfreude im Rhythmus der schwungvollen Mazurka, die hier allerdings kein Paartanz ist, sondern eben ein reiner Herrentanz. Sich in der Gruppe gemeinsam zu drehen, gemeinsam zu springen, gemeinsam zu lachen, ist ein Vergnügen, das man auf so einer Gala erst recht genießt. Das überträgt sich, und im Geiste ist man bereits eingecheckt für die nächste glamouröse „Schwanensee“-Party. Prima!
Ebenfalls ein reines Herrenstück sind die „Variations for Four“ von Anton Dolin, die schon in der ersten Ausgabe der „From Berlin“-Galas zu sehen waren und die nun in neuer Besetzung einhertänzeln.
Allen voran ist Murilo de Oliveira ein Augenschmaus! Sauber, elegant, mit Witz und schönem Lächeln zelebriert er seine Partie, die Wichtigste im Stück. Eine feine Manège mit Grands jetés, Sprünge auf der Diagonalen und feinste Tours en l’air scheinen ihm so leicht zu fallen wie ein verträumter Augenaufschlag. Das Scherzhaft-Schelmische steht ihm am besten, das bewies er schon als Cupido in Victor Ullates „Don Quixote“.
Aber auch Dominic Whitbrook schafft es, seiner Partie Kontur zu verleihen. Mal streng, mal spaßhaft wirken seine Arabesquen hier – und mit Olaf Kollmannsperger und Nikolay Korypaev ergibt sich ein putzmunteres Bubenquartett. Soli und Gruppentanz wechseln einander ab, ergeben ein stilisiertes Puzzle aus gediegenem Ballett.
Ohne die Bühnenmalerei, die bei „From Berlin with Love I“ in der Deutschen Oper Berlin (DOB) noch maßgeblich den surreal-witzigen Ton angab – sie zeigte eine knallbunte Raumfahrtsphäre – fehlt allerdings der Hinweis auf die Ironie, die von Beginn an die technisch verzwickten Tänze hier bestimmt. Denn den Kostümen nach handelt es sich hier um vier Prinzen, und ob sie von einem anderen Stern stammen oder dort erst noch hinwollen, darf man sich aussuchen – jedenfalls sind sie Ritter der Sternenfahrt, und als solche mit klassischem Ballett aufzuwarten, entbehrt nicht der Komik.
Dolins Stück von 1957 zur fanfarengeschwängerten Musik von Marguerite Keogh ist das modernste Stück auf dieser Gala. Hier liegt natürlich ein Problem.
Nicht umsonst hat es sich bewährt, auf Ballett-Galas das 19. Jahrhundert mit der Moderne oder auch mit Uraufführungen zu kombinieren. Und während in „From Berlin with Love I“ die Einzelstücke noch mit viel Fingerspitzengefühl ausgewählt schienen, hat man jetzt das Gefühl, einem Sammelsurium klassisch-romantischer Exponate beizuwohnen. Das ist nicht langweilig, aber für eine nachhaltigere Wirkung hätte das Konzept ruhig etwas konkreter sein dürfen.
Auch beim Eingangs- und dem Abschiedsstück reicht es gerade mal von der Romantik bis zur Klassik. Der „Pas de Quatre“ zu Beginn stammt ursprünglich vom romantischen Choreografie-Titan Jules Perrot und wurde in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts von Anton Dolin überarbeitet. Die Quintessenz aber bleibt: Die vier großen Ballerinen der Romantik tanzen sich selbst in diesem Quartett.
Berlins Primaballerina Yolanda Correa, die in der DOB-Ausgabe „From Berlin with Love I“ noch die Rolle der Carlotta Grisi tanzte, ist nun in die Partie der tonangebenden Marie Taglioni gewechselt. Und sie fühlt sich sichtlich wohl darin! Zu schweben und zu walzern, sich zu biegen und wie vom Winde vorbei geweht zu erscheinen, die Arme stets in liebevolle Positionen gerückt, liegt ihrem Naturell ganz offensichtlich. Sie hat viel mit Mikhail Kaniskin, der beide Stücke von Anton Dolin hier gestaged hat, geprobt. Und sich darüber mit viel Konzentration ein eigenes Rollenbild erarbeitet.
Die historische Marie Taglioni, die 1832 erstmals ein abendfüllendes Ballett auf (selbstgebastelten) Spitzenschuhen tanzt – „La Sylphide“ – wäre vielleicht begeistert gewesen.
Eine schöne Überraschung ist aber auch Evelina Godunova, die als Lucile Grahn auftanzt. Zierlich gehaltene Arme, wie die Beine nicht zu hoch, dafür aber anmutig gespannt gehalten, kennzeichnen den dänischen Stil. Godunova bringt aber vor allem ihre Frische und unverstellte Lebendigkeit ein, und die ist auf der Bühne nun mal Gold wert! Weibliche Eleganz vollenden ihre Darbietungen.
Aya Okumura steht hingegen hier für Carlotta Grisi. Dabei ist sie doch ein ganz eigener Typus: niedlich, kindhaft, mit eifriger Liebe zum Tanzen ausgestattet. Sie ist die Süße im Reigen der vier Königinnen des romantischen Balletts.
Sarah Hees-Hochster verkörpert darin die Sinnlichste der Vier: die Italienerin Fanny Cerrito. Auf leisen Sohlen stellt sie die weniger lyrische als vielmehr dramatische Ballettqueen dar.
Zu viert absolviert die blumengekrönte Viererbande einen finalen Höhepunkt: mit aufgestellten Handgelenken, ganz wie Porzellanfiguren. Voilà!
Und auch das Schlussstück ist eine Überarbeitung einer klassischen Choreografie. Victor Ullate, dessen Company in Spanien schon vor der Corona-Krise ins finanzielle Aus schlidderte, ließ seine Version von Marius Petipas „Don Quixote“ 2018 beim Staatsballett Berlin premieren. Modern daran sind aber vor allem die Passagen, die die Zigeunertänze zeigen. Der Grand Pas de deux – historisch als Verlobungs- oder Hochzeitstanz konzipiert – bezieht in dieser Version acht adrette Freundinnen der Braut mit ein und ist somit ein weiß grundiertes, mit Blumen im Kostümdekor geschmücktes, zuckersüßes Ballettfest nicht nur für die Verliebten auf der Bühne.
Diese dürfen allerdings dennoch zeigen, was sie können.
Der famose Dinu Tamazlacaru und die graziöse Ksenia Ovsyanick dürfen etliche Leckerbissen der Petipa-Choreografie mit individuellem Flair aufpeppen.
Die Hebungen der Dame in den Luftspagat gewinnen da betont luftige, erfrischende Nuancen. Und die Virtuosität in den Sprüngen und Pirouetten – darunter eine wie gezirkelt gesprungene Manège des Herren und eine schier endlose Fouetté-Serie der Dame – wirken wie deutliche Zeichen der ausgelassenen Lebenslust, der auch Petipas „Don Quixote“ schlussendlich gewidmet ist.
Spanien ist hier allerdings wirklich Folklore, zumal, wenn Basil – der junge Mann – immer wieder stolz an seinem Bolerojäckchen zupft.
Dem hat Kitri ihr Solo mit dem Fächer entgegen zu setzen – allerdings ohne die schwierigen, blitzschnellen Bewegungen des Oberkörpers nach unten, um den zugeklappten Fächer auf den Boden zu klopfen. Diese Raffinesse hat zum Beispiel die „Quixote“-Version von Rudolf Nurejew zu bieten, allerdings schon im ersten Akt, und hier bei Ullate beim Happy Ending bleibt die Primaballerina stolz und keck bei einem steten „Kopf hoch!“
Aya Okumura und Iana Balova unterstützen das werte Paar, ebenso Yuria Isaka, Elena Iseki, Tabatha Rumeur, Yuka Matsumoto, Alicia Ruben und Alizée Sicre. Es ist ein liebliches Fest des Tanzens, das sie uns mit viel Freude nahe bringen.
Und so hat das Schlussbild mit akkuraten Posen aller Beteiligten durchaus den Geschmack von großer weiter Ballettwelt – es verwöhnt den Blick!
Leider ist diese Gala nach drei Vorstellungen bereits abgespielt, aber ab dem 17. Oktober 20 gibt es die dritte Ausgabe! „From Berlin with Love III“ klingt natürlich absolut verlockend. Und in den kommenden Wochen gibt es dann (ab dem 28. Oktober 20) tatsächlich auch ganze Vorstellungen von „Giselle“ beim Staatsballett Berlin (SBB)! Das wird wie ein Fest in der Staatsoper Unter den Linden! Als Orchester kommt übrigens das der Deutschen Oper Berlin in den Osten – für 140 pausenlose Minuten wird man dann wieder vollkommen mit Live-Darbietungen verwöhnt.
Und bitte keine Bedenken haben: Sicherer als im Opernhaus ist man außerhalb seines Daheims derzeit nirgendwo!
Wer es lieber zeitgenössisch mag, kommt ebenfalls auf seine Kosten: modern choreografierende Tänzer vom SBB – wie Arshak Ghalumyan und Alexander Abdukarimov – bitten in die Komische Oper Berlin, zum Uraufführungsabend „Lab_Works Covid_19“, dessen zusammen haltendes Thema sich bereits aus dem Titel ergibt.
Wer die Zeit für eine kleine Reise hat, dem sei der jüngste sensationelle Coup der Ballettwelt wärmstens empfohlen:
Das Ballett Dortmund erreicht man von Berlin aus in drei Zugstunden. Dort zeigen Lucia Lacarra und Matthew Golding am 8. und am 9. Oktober 20 noch einmal ihr soeben uraufgeführtes Multimedia-Ballett „Fordlandia“ – mit dieser überwältigend modernen Arbeit machen die beiden Superstars nicht nur tänzerisch, sondern auch als Produzentenduo auf sich aufmerksam. In dieser Rezension mehr dazu.
Wo man doch in Berlin händeringend eine neue geeignete Ballettleitung sucht: Lucia Lacarra und Matthew Golding sind als Team bewährt, haben beste Kontakte in die internationale Tanzwelt, ein Gespür für Trendthemen und auch für gute Mitarbeiter – und sind wahrscheinlich noch zu haben. Man sollte nicht zögern, sie sich für Berlin zu angeln.
Gisela Sonnenburg