Grüße aus fernen Welten Der Frieden bleibt ein Traum. John Neumeier präsentierte die „Nijinsky-Gala“ 2023 mit dem Hamburg Ballett

Szene aus dem „Reigen seliger Geister“ mit Edvin Revazov und Anna Laudere aus „Orphée et Eurydice“ von John Neumeier auf der Nijinsky-Gala 2023. Foto: Kiran West

Kann man in diesen Zeiten fröhlich feiern? Das mag sich auch John Neumeier gefragt haben. Das Programm seiner „Nijinsky-Gala XLVIII“, also der 48. Nijinsky-Gala, war denn auch kein typisches Hochglanz-Programm, wie man es von den Galas mit John Neumeier beim Hamburg Ballett kennt. Sonst jagt da ein Highlight das nächste. Gestern war alles etwas anders: Über weite Strecken eher verhalten, zählten an diesem Abend der Tiefgang und die Steigerung. Höhepunkte waren delikat choreografierte Neumeier-Juwelen, aber auch umjubelte Gastauftritte aus Japan und China, mit Stücken von Maurice Béjart und Fei Bo. Letzterer schuf ein ernstes, zugleich bezauberndes Glückwunsch-Stück, speziell Neumeier gewidmet. Auch ein Originaltanz von August Bournonville aus dem 19. Jahrhundert sowie der hier schon mehrfach gelobte letzte Satz aus der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ von John Neumeier, den der Gastgeber auch früher schon als fulminantes Gala-Finale präsentierte, begeisterten. Wer allerdings zum Saisonabschluss im Jubiläumsjahr vom Hamburg Ballett – vor 50 Jahren begann John Neumeier dort als Chef – ein funkelndes „best of“ als Gala-Programm erwartete, der hätte die „Jubiläumsgala“ in der vorletzten Woche besuchen müssen. Dort gab es Auszüge aus vielen Neumeier’schen Lieblingsstücken des internationalen Publikums: aus der liebenden „Kameliendame“, aus der betenden „Matthäus-Passion“, aus dem irre tollen „Njinsky“, aus dem fabelhaften Jugendstück „Yondering“ sowie den kapriziösen Männer-Paartanz „Opus 100“. Die gestrige fünfstündige „Nijinsky-Gala“ bot, zum Abschluss der ausnahmsweise vierwöchigen Hamburger Ballett-Tage 2023, einen anderen Schwerpunkt: überlegt und überlegend, sophisticated, tiefgehend, reduziert, fast puristisch, mit eher überraschenden Höhepunkten. Die einzelnen Werke wirkten dabei wie Grußbotschaften aus bekannten oder auch unbekannten Welten. Eine Poesie der Verständigung – das sollte Tanz sein, und John Neumeier beherrscht dieses choreografische Spiel wie niemand sonst.

Vorab spielte die KI dem Hamburg Ballett einen Streich. Statt zur Gala wurde man plötzlich zur „Nijinsky“-Vorstellung eingeladen. Auch schön! Später kam dann die Korrektur-Mail. Motto: Alles wird gut – oder fast alles. Bei der Vorstellung gab es spät am Abend dann ein technisches Problem mit dem Vorhang, der nur noch von oben, nicht aber seitlich schließen wollte. Man konnte das Problem aber ganz gut umgehen.

Nur das mit dem Frieden fällt der Menschheit bekanntlich schwer. Dazu später mehr.

Der Weltfriede als Utopie hat im Ballett aber immer eine Chance. Er grundiert symbolisch die meisten großen klassischen Tänze, und gerade John Neumeier ist ein Choreograf, der diese Tradition mit modernen Tanzmitteln fortsetzt. Zivilisation und Kunst statt Bomben – das ist das demokratische Credo von Kultur.

Man sollte übrigens auch dort spenden, wo man liest – und nicht dort, wo das Radio es sagt oder die Fernsehmoderatorin oder der bekannte Schauspieler.

Lesen Sie bitte hier, was nicht in BILD und SPIEGEL steht! Und spenden Sie! Journalismus ist harte Arbeit, und das Ballett-Journal ist ein kleines, tapferes Projekt ohne regelmäßige Einnahmen. Wir danken es Ihnen von Herzen, wenn Sie spenden, und versprechen, weiterhin tüchtig und gewissenhaft aufrichtig zu sein.

Heutzutage muss man deutlich dazu sagen: Gewalt ist nicht Diskussion, ist nicht offene Kritik – Gewalt ist ein körperlich-tätlicher oder auch ein psychologisch-nötigender Akt.

Für alle Ballettchefs und solche, die es werden wollen, und auch für alle Politiker: Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem, was zum Beispiel  Wiebke Hüster, Kritikerin, tat, und dem, was Marco Goecke, Choreograf, in Hannover im Opernhaus tat, als er ihr aus Rache für ihre Kritik echte Hundekacke ins Gesicht schmierte. Rachsucht, Selbstsucht, Machismo und womöglich auch Gier nach Aufmerksamkeit waren offenkundig die Gründe.

Ist so jemand ein Vorbild für die Jugend? Nein. Das ist einfach zu beantworten.

Dass Ivan Liska, früher Neumeier-Tänzer, dann Ballettdirektor in München und heute dortselbst Leiter einer Nachwuchs-Balletttruppe, nebenbei auch als Alt-Tänzer einer der Stars auf Neumeiers „Jubiläumsgala“, kürzlich ein Stück von Goecke von seinen Jungtänzern in München premieren ließ, ist typisch für die unerträgliche Ignoranz der Ballettszene dem frauenfeindlichen, menschenverachtenden Impetus von Marco Goecke gegenüber. Goecke hat nicht ein bisschen beleidigt, sondern er war enorm tätlich übergriffig. Trotzdem wird er Nachwuchstänzern als Vorgesetzter präsentiert – ein Skandal.

Vielleicht ist das auch ein Hinweis darauf, dass Liska – der im übrigen Antworten auf meine Fragen in dieser Sache ganz verweigerte – seinen Job besser quittieren sollte. Hochmütig so zu tun, als müsse man der Öffentlichkeit gar keine Rechenschaft ablegen, ist nichts, auf das man stolz sein kann.

So ein Verhalten wäre bei Neumeier zum Beispiel undenkbar. Es wäre schon undenkbar, dass sich das umstehende Publikum in Hamburg bei so einem Vorfall im Opernhausfoyer so verhält wie eine stumm glotzende Meute. Ich war mal Zeuge, als jemand in Hamburg Hilfe benötigte – und sie sofort von anderen Zuschauern erhielt.

Goecke hingegen konnte in ersten Interviews seine Tat noch rechtfertigen, als sei sein Opfer selbst schuld. Im deutschen Staatsfernsehen, wohlgemerkt.

Nun auch noch Jugendliche Goecke tanzen zu lassen – das ist schlichtweg kaputt. Insofern trifft Liska da schon doppelte Schuld, wenn er nicht bemerkt, wie hier Messlatten des Verhaltens eingerissen werden. Was kommt danach? Kritikerinnen zusammenschlagen?

Der Clou: In Goeckes Werken, in denen die Frauen grundsätzlich wie kleine Jungs aussehen (mit abgebundener Oberweite und in Jungshosen), ist genau diese Frauenfeindlichkeit im Grunde schon angelegt. Man muss nur mal genau hinschauen, was er konkret choreografiert hat – statt immer nur mit der Musik mitzugehen und alles toll zu finden, was laut und „neu“ ist.

Madoka Sugai und Alexandr Trusch im „Fenster zu MOZART“ – superbe! Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Es ist falsch, wenn Ballettomane glauben, all das ginge sie nichts an. Dann sehen sie die Kunst offenbar nur als Berieselung, die sie isoliert von ihrem Umfeld – auch von der Kulturpolitik eines Landes – wahrnehmen. Dieser Blindheit nur um der Bequemlichkeit willen sollte sich niemand ergeben.

Das haben die Deutschen 1933 schon mal getan, und sie haben damals viel zu spät erkannt, dass das oberflächliche Hinsehen die erste Voraussetzung für Faschismus in der Kunst ist.

Der Komponist Richard Wagner und der Maler Emil Nolde waren zum Beispiel politisch nicht in Ordnung. Wagner war erklärter Antisemit und Nolde ein Anhänger der Nazis (was indes auf keine Gegenliebe stieß). Aber: Weder in Wagners noch in Noldes Werken sticht das hervor oder stößt negativ auf. Das ist der große Unterschied zu Marco Goecke, der in seinen Stücken ein Menschenbild von seelenlosen, eben auch frauenfeindlichen Robotern inszeniert und den Narzissmus zur Tugend erhebt.

Darum sollte man aufhören, Goeckes Werke zu zeigen: nicht nur wegen seiner Kot-Attacke, sondern weil seine Tat bestätigte, was kluge Menschen ohnehin schon an seiner desolaten, herzlos-bestialischen Ästhetik erkannten. Auch, wenn viele Leute es erstmal faszinierend finden, so etwas zu sehen.

Kunst, die zur Verrohung führt, brauchen wir nicht. Nur die Nazis, die brauchen so etwas.

John Neumeier hingegen ist es bislang über 170 Mal gelungen, in seinen eben rund 170 Stücken immer wieder der Menschlichkeit die größte Aufmerksamkeit zu schenken. Jede Geste, jeder Schritt, jede Pose, jeder Bewegungsabschnitt haben da ihren Sinn und Verstand, mit viel Gefühl, versteht sich.

Oder, wie es der chinesische Choreograf Fei Bo in seiner Referenz mit seinem Jubiläums-Geschenk, einem Pas de deux namens „One Thought for a Lifetime“ („Ein Gedanke für eine Lebenszeit“) für JN sagt:

„Dieses Werk ist Herrn Neumeier gewidmet, der im Laufe der Jahre mit seinen gesammelten Emotionen und seiner Weisheit für das Ballett unzählige prachtvolle Berührungen geschaffen hat.“ Tatsächlich empfinden viele Neumeier-Fans dessen Kreativität als nicht nur übersprudelnd, sondern auch als durchdacht und gerade darum so fesselnd. Und Fei Bo schlussfolgert: „Er hat seine höchst wertvollen künstlerischen Fähigkeiten in den Dienst der menschlich-geistigen Zivilisation gestellt, durch den zutiefst wahrhaftigen Ausdruck für Kunst und Liebe.“

Da ist sie wieder, die Zivilisation, hier im Zusammenhang mit Kunst und Liebe.

Wie ernst es John Neumeier damit ist, beweist das erste Stück, das gestern auf der Gala getanzt wurde: Es ist sein „Reigen seliger Geister“ aus Neumeiers Ballettoper „Orphée et Eurydice“ (von 2017, mit der Musik von Gluck), und der Tanzschöpfer zeigt darin das Menschliche sogar im Jenseits, in der antiken bzw. zeitgenössisch-überzeitlichen Unterwelt.

Drei solistische Paare sowie zehn weitere Tänzer vom Hamburg Ballett zelebrieren die ausgewogene, dennoch höchst raffiniert sich körperlich äußernde Liebe im Elysium. Die Stimmung dabei ist erhaben, die Kulisse und die Kostüme sind cremeweiß in cremeweiß, das Licht jedoch ist puderblau. Ein edles Ambiente für die paradiesische Glückseligkeit… und so friedlich ist es hier!

Glucks barockes Geplätscher, unter Simon Hewett live aus dem Orchestergraben kommend, wirkt nochmals betörender, wenn es von solchem Tanz optisch durchwirkt wird.

John Neumeier macht eine Balletttoper

Anna Laudere und Edvin Revazov in „Orphée et Eurydice“ in der Regie und Choreografie von John Neumeier gibt es auch als DVD. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Ein fantastischer Einstieg, der einem den Eindruck vermittelte, nicht auf einer sprunghaften Gala, sondern in einer collagiert komponierten Vorstellung zu sitzen. So nachhaltig strahlt das Gefilde der Seligen seine Ruhe in Bewegung aus.

Aber auch das zweite Stück reißt mit, und zwar zunächst in komisch-erotische, dann in sehnsuchtsvolle Sphären.

Es handelt sich um zwei Episoden aus Neumeiers „Fenster zu MOZART“ von 1991, und Alexandr Trusch – als Mozart – und Madoka Sugai – als seine heiße Jugendliebe – tänzeln zur schwelgerischen Musik von Max Reger, der ein Mozart-Thema variierte, durch einen schier feuchten Traum eines jungen Mannes.

Entsprechend trägt die Ballerina ein helles Miederkleid, das schon sehr nach Unterwäsche ausschaut – sie ist ein Fleisch gewordenes Ideal des wohl auch sexuell ziemlich stürmischen Komponisten. Mozart sieht in ihr die Sopranistin Aloysia Weber: als aufreizendes Modell seiner Vorstellungen von „Frau“. Doch letztlich sieht sich Mozart dem Traum allein anheim gestellt.

Neumeier moderierte diese Gala im Gegensatz zur Jubiläumsgala selbst, in ein marineblaues Jacket zu schwarzer Hose gehüllt. Sein erlesener Geschmack zeigt sich ja vor allem in seinen Werken. Aber er selbst weiß sich auch besonders gut anzuziehen, und seine Stehkragen-Hemden, die er schon in den 70er-Jahren für sich anfertigen ließ, sind nachgerade legendär.

Ebenfalls legendär: der überwältigend, doch sanft schillernde Männer-Pas-de-deux „To what you said“ („Zu dem, was du gesagt hast“) aus Neumeiers Leonard-Bernstein-Ballett „Songfest“. Wie sich hier zwei Männer einander annähern, ist immer wieder sehenswert. Aus Fremden werden Freunde, aus Freunden werden Liebende – und wieder einfach nur Menschen, die, wie viele andere Fremde und Freunde auch, in der Missionarsstellung für die weitere körperliche Liebe üben.

Christopher Evans und Félix Paquet in „To what you said“ aus „Songfest“ von John Neumeier. Ein tolles Männer-Pas-de-deux, zu sehen auf der 48. Nijinsky-Gala beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Christopher Evans und Félix Paquet geben sich der Musik und dem ihr zugrunde liegenden Gedicht von Walt Whitman vollauf hin. Es ist ein Tanz der Identitätsfindung, auch der Suche nach Austausch von Gleichgesinnten.

Die Selbstbefragung nach der Homosexualität steckt dahinter, mit ihr die Befragung der anderen Männer. Ja, man kann heute schmunzeln, aber damals, 1979, als das Stück in Hamburg uraufgeführt wurde, gab es noch keinen Schutz vor Diskriminierung für Schwule. Im Gegenteil: Noch 1978 führte die deutsche Polizei so genannte „Rosa Listen“, also Datensammlungen von Homosexuellen, um sie gegebenenfalls zu überwachen oder in Haft zu nehmen. Obwohl Homosexualität unter Erwachsenen damals längst nicht mehr verboten war, dafür aber stark geächtet.

Ich möchte bei dieser Gelegenheit darauf hinweisen, dass es im medialen Bereich vor allem auch heterosexuelle Frauen waren, die immer wieder für die Rechte von Schwulen gekämpft haben. Umgekehrt kann man das leider nicht sagen: Heute bilden Homosexuelle nicht selten feste Netzwerke, die für Frauen – zumal für heterosexuelle – eher verschlossen bleiben. Wir haben unseren Dienst getan, wir können gehen – und sollen weitere Männer, möglichst schwule, in die Welt setzen. Manche Homosexuelle scheinen wirklich so zu denken. Die Arbeit am Frauenbild in der Gesellschaft, an der Anerkennung von Frauen und an ihrer Gleichberechtigung ist also noch längst nicht erfolgreich genug. Wir sehen das im Ballett auch daran, dass es weiterhin nur wenige weibliche Chefs gibt, also auch ganz wenige weibliche Choreografen, denen man größere Arbeiten anvertraut.

Ich bin allerdings immer wieder davon beeindruckt, wie stark die Solidarität von Schwulen untereinander ist, bis hin zur absoluten gegenseitigen Bevorzugung. Wären die Frauen – statt auf Rivalität zu pochen – verhaltenstechnisch da mal hingekommen, die Welt sähe anders aus!

Lesen Sie hier bitte, was nicht in BILD und SPIEGEL steht! Und spenden Sie! Journalismus ist harte Arbeit, und das Ballett-Journal ist ein kleines, tapferes Projekt ohne regelmäßige Einnahmen. Wie idealistisch sein Sie? Unterstützen Sie Idealismus? Wir danken es Ihnen von Herzen, wenn Sie spenden, und versprechen, weiterhin tüchtig zu sein!

Die „Nijinsky-Gala“ von John Neumeier würde es aber trotzdem geben. Gerade mit ihren selten zu sehenden Highlights, die Neumeier schon immer beispielhaft in den manchmal sechs Stunden langen feierlichen Abschluss der Saison einflocht, die dieses Mal aber sogar  im Zentrum standen.

Gestern benannte er sogar den ganzen ersten Teil seiner Gala nach diesen Tänzen, von denen er als Schöpfer befürchtet, dass ihnen künftig zu wenig Beachtung zuteil wird: „Vergessene Tänze“ hieß dieser erste Akt darum.

Das betrifft auch ein ebenfalls musikalisches Kleinod, das in der tänzerischen Umsetzung den Retro-Stil vorweg nimmt:

Time after Time“, ein Neumeier-Stück von 1998, gehört zu seinen „Bartók-Bildern“. Diese, so erzählte Neumeier gestern live, erlitten das Schicksal, dass während ihrer ersten Aufführungsserie von den Bartók-Lizenz-Verwaltern entschieden wurde, dass nur noch Stücke des ungarischen Komponisten, die explizit für Ballett geschrieben wurden, auch vertanzt werden durften. Das war natürlich eine absurde Einschränkung der Freiheit der Kunst und roch danach, dass man hier eine ganze Kunstgattung, nämlich den Tanz, ausgrenzen und diskriminieren wollte.

Tatsächlich gibt es eine gewisse tanzfeindliche Prüderie, und es gibt sie fast in allen Kulturen. Sie sollte endlich als das enttarnt werden, was sie ist: diskriminierend.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Xue Lin und Karen Azatyan in „Time after Time“ aus den „Bartók-Bildern“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Da Bartók 1945 verstarb und das Lizenzrecht nur 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers gilt, kann man übrigens heute nach Bartók-Noten alles tanzen, wie man lustig oder traurig ist. Dummerweise ist Bartókgerade aber kein Modekomponist, sodass eine etwa zu erwartende Flut von Bartók-Balletten ausblieb. Die jungen Choreografen nutzen lieber Synthi-und Popmusik, um sich auszutoben.

Xue Lin und Karen Azatyan tanzten derweil mit superber Präzision den auch solistisch interessanten Pas de deux, in dessen Verlauf große Zeichen wie konkrete Poesie – das „R“, das Zeichen für „Frau“ und ein „C“ – hereingetragen werden. Zwei Individuen begegnen sich hier inmitten der Hieroglyphen der Welt, und ob die Zeichen eine Eins-zu-Eins-Bedeutung haben oder nicht – wer weiß das schon?

Man kann rätseln. Ich tippe auf die Sehnsüchte eines heterosexuellen Tanzschöpfers oder Komponisten, der sich einsam fühlt. Vielleicht heißt er „R“ichard? Das „C“ könnte für „Copyright“ stehen. Die Tänzerin im lindgrünen Zweiteiler, die hier auch allein sehr aufregend tanzt, könnte Cosima – oh, noch ein „C“ – sein. Wagner also mit Bartók-Mitteln, also ganz modern?!

Jedenfalls gibt es in diesem Stück Friede zwischen den Geschlechtern, keinen Krieg.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Die „Pizzicato-Polka“ im amerikanischen Revuestil: mit Ida Praetorius (li.) , Jacopo Bellussi (re.) und Alessandro Frola (mi.) edel besetzt. Foto: Kiran West

Die „Neue Pizzicato-Polka“, die John Neumeier für das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2006 schuf, hat da ein ganz anderes Temperament, ist allerdings ebenfalls rundum friedlich. Zwei Jungs und ein Mädchen tanzen auf den ehrwürdigen Walzer eine kleine Revue, alle im Frack, mit Anzughose dazu und Zylinder auf dem Kopf. Ida Praetorius, Jacopo Bellussi und Alessandro Frola kokettieren da mit uns, dass es nur so eine Tanzlust ist. Walzer à l’Americaine. Erfrischend anders!

Dann wird es verzwickt. John Neumeier hält ja bekanntlich große Stücke auf sein Bundesjugendballett, das ihm viel Geld und auch Sympathien von der Bundesregierung und dem Parlament einträgt. Dafür muss die achtköpfige Nachwuchs-Truppe sich ganz schön verbiegen, stets und ständig allem unterordnen und überall mit scheinbar gefälliger Hüpferei präsent sein.

Die Unsichtbaren“ heißt ein Projekt, das unter Mitwirkung des umstrittenen geschaßten Ex-Chefs der Staatlichen Ballettschule Berlin namens Ralf Stabel zustande kam. Es soll im Stück um die verfolgten und ermordeten Tanzmenschen aus der Nazi-Zeit gehen.

Der Ausschnitt, den Neumeier auf der Gala tanzen ließ, zeigte allerdings die verführte Nazi-Jugend, die – sich selbst die Augen und den Mund zuhaltend oder auch imaginär und aggressiv die Zähne zeigend – vor allem den Gruppendruck, den Mitlaufzwang tänzerisch vorführte.

Dazu sang Bob Dylan mit seiner nölenden Stimme, dass er sein Leben lang gelernt habe, die Russen zu hassen. Ich mochte Bob Dylan tatsächlich noch nie und weiß gar nicht, was die Leute an diesem ungepflegt aussehenden, auch ungepflegt klingenden Mainstream-Typen so finden.

Der Tanz entlarvt den Text als Makulatur, als Credo einer fehlgeleiteten Jugend. Man kann dieses kleine Stück Kunst darum deuten, wie man will – Mut macht es keinesfalls. Da steht der Friede zur Disposition.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Das Bundesjugendballett in „Die Unsichtbaren“: ziemlich sichtbar tanzen in dieser Szene keine Opfer, sondern Täter, verführt vom Gruppenzwang. Foto: Kiran West

Was dann ohne Vorwarnung kam, war allerdings ein Schock: Das Orchester spielte die plump-pompöse Nationalhymne der Ukraine. Marsch ab in den Krieg? Die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine sind umstritten, und ganz ehrlich gesagt, gehe ich nicht in ein staatlich finanziertes Opernhaus, um mir dort plakative Regierungspropaganda anzuhören.

Die Hymne eines kriegführenden Landes sollte, wenn sie, wie hier, ohne jedweden künstlerischen Sinn dargeboten wird, jedenfalls draußen bleiben.

Man hat in der Elbphilharmonie in Hamburg schon letztes Jahr damit begonnen, diese Hymne vorab als politische Ouvertüre zu spielen. Kaum wer traute sich zu protestieren. Ob es in den staatlichen Kulturhäusern ebenso schwarze Listen wie in den Mainstream-Medien gibt? Ein falsches Wort und du bist raus? Dann passt diese Zwangsvereinnahmung der Kultur.

Wer Verwandte in Russland hat, konnte sich bei John Neumeier aber ironisch für diesen Hymnenkram bedanken. Falls es noch nicht bekannt war: Es sterben auch unschuldige Russinnen und Russen durch das kriegerische Geschehen, und wer dieses wirklich angefangen hat, ist strittig. Der Tod kennt dabei keine Nationalität.

Sagen wir es mal mit einer Songzeile von Sting: „The Russians love their children, too.”

Wer sich aber die Mühe macht und etwa bei Wikipedia über die ukrainische Hymne etwas nachliest, findet heraus: Der Text stammt von einem verschrobenen Nationalisten aus dem 19. Jahrhundert, der darin von einem großukrainischen Reich mit Ausmaßen „vom San bis an den Don“ träumt. Nun liegt der San in Polen und der Don in Russland. Soll die Ukraine drei Mal größer werden als sie je war? Nationalisten haben eben gefährliche und auch dumme Träume. Sie taugen nur zur Kriegstreiberei. Noch Fragen?

Bei der Gelegenheit sei vorsorglich auch darauf hingewiesen, dass der Nationalheld der Ukraine, Stepan Bandera, ein Massenmörder und ein persönlicher Freund von Adolf Hitler war. Massenmörder, das heißt hier nicht, dass er mit seinen Leuten in den Krieg gegen Soldaten zog, sondern dass er jenseits des Kriegsgeschehens systematisch Polen, Juden und Russen, also die Zivilbevölkerung, abschlachten ließ, um diese Gruppen aus Rassenhass auszumerzen. Auch das kann man unter anderem bei Wikipedia nachlesen.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Fotogen, aber nicht wirklich gut: eine ukrainische Tänzertruppe, die sich aus einem Tournee-Ensemble und einer weiteren Gruppe zusammensetzt, mit „Spring and Fall“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Was die aktuelle Bundesregierung ebenfalls übersieht, ist das hohe Nazi-Aufkommen in der Ukraine, das bis in deren Regierung reicht. Wolfsangel und Hakenkreuz sind in der Ukraine nicht verboten, sondern beliebte Nationalabzeichen, und Präsident Selenskij hat seit 2019 mehreren „Helden“ mit Nazi-Abzeichen, darunter dem Chef der NS-Organisation „Rechter Sektor“, Orden verliehen. Auch der WDR und das ZDF, der NDR und arte warnten seit 2014 und vor 2022 immer wieder vor der Unterwanderung der Ukraine durch Nazis. Die Sendungen, etwa von „Monitor“, „Panorama“ und „Frontal 21“, sind online anzuschauen, die Manuskripte dort zu lesen.

Entsprechende Bundestagsdebatten aus den Jahren vor 2022 stehen auf YouTube. Dort kann man sich ansehen, wie grüne Politikerinnen brüllen, es seien Einzelfälle, wenn in der Ukraine Russen umgebracht würden. Aber schon die Berichte anderer Bundestagsabgeordneter, die vor Ort waren, standen dagegen.

Die Gretchenfrage heute: Putin soll allein schuld sein am Kriegsgeschehen zwischen Ukraine und Russland? Ein Volk, das sowas und damit so ziemlich alles glaubt, was ihm seine Regierung mit einseitiger Berichterstattung vorgaukeln lässt, ist wirklich nicht weit gekommen in seiner geistigen Entwicklung. PISA lässt grüßen.

Karrieristen nutzen die unreflektierte Ukraine-Sympathie allerdings für ihre Zwecke. Auch daran sollte man denken. Solidarität, um sich selbst damit wichtig zu machen, ist eigentlich leicht zu durchschauen.

All das sollte man bedenken, wenn irgendwo die ukrainische Nationalhymne ertönt oder diese blaugelben Fahnen wehen. Es gab denn auch gestern abend nicht nur Applaus aus einer bestimmten Ecke für diese Einlage, sondern auch ein herzhaftes „Buh!“

Auf die Hymne folgte eine Darbietung von zwei zusammen gelegten ukrainischen Tanzgruppen, die aus sechzehn namenlosen Tänzerinnen und Tänzern bestand. Eine Truppe nennt sich nach einem Maler und Lyriker aus der Leibeigenenschicht des 19. Jahrhunderts in einer Mischung aus deutsch und englisch Ensemble des Taras Shevchenko National Opera. Die zweite nennt sich Ballet Theatre of Ukraine und sie tourt vor allem durch die USA und Kanada.

Seit letztem Jahr tingeln nun so viele angebliche Kiewer Nationalballette durch die westliche Welt, dass man nicht genau weiß, wer sie aktuell leitet und aus wem sie bestehen. Oft sollen darin auch russische Tänzerinnen und Tänzer vertreten sein. Gestern abend sollen es aber echte ukrainische Tänzerinnen und Tänzerinnen gewesen sein, soviel steht fest. Nur ihre Namen wurden aber nicht im Programmzettel abgedruckt, obwohl bei allen anderen Stücken auch die der Ensembletänzer genannt waren.

Jedenfalls weiß man jetzt, warum man vor 2022 noch nie von den Ballettcompagnien aus der Ukraine gehört hat: Sie tanzen nicht gut. Die Tänzerinnen und Tänzer gaben sich Mühe, aber sie konnten die Füße teils nicht immer strecken, und ihr Ausdruck wirkte eher abgerichtet als lebendig. Die begabten Ukrainer tanzen wohl eher woanders, in Ländern, wo sie auch adäquat ausgebildet werden können.

Das liegt vielleicht daran, dass die Ukraine zwar viele Oligarchen, also Superreiche, hat, diese ihr Geld aber nicht in die Kultur stecken. Was es früher an Kunst dort gab, verdankte sich  den Russen, die die ukrainischen Talente ausbildeten. Das Bolschoi-Ballett, das uns ursprünglich als Gast-Company für die Hamburger Ballett-Tage 2023 versprochen worden war und das dann auf politischen Druck aus Deutschland hin nicht kommen durfte, ist hingegen unvergleichlich besser. Das ist wirklich ein sehr großer Unterschied.

"Ballette für Klavier und Stimme" läuten beim Hamburg Ballett den Herbst ein

Anna Laudere und Edvin Revazov in „Um Mitternacht“: Ein Tanzstück mit Kultstatus, es war zu sehen im regulären Programm  „Ballette für Klavier und Stimme“. Auch dieses Neumeier-Stück hätte gut auf die letzte Nijinsky-Gala gepasst. Foto: Kiran West

Auch Edvin Revazov, der Vorzeige-Ukrainer vom Hamburg Ballett, verdankt seine Ausbildung dem sowjetischen bzw. russischen System der Talenteförderung. Er erhielt seine Ausbildung zunächst im russischen Moskau und kam dann von dort auf die Ballettschule vom Hamburg Ballett.

Seine vaterländischen Freundinnen und Freunde durften nun endlich große Kunst in Hamburg zeigen – nach vielen Proben, für die die als Ballettmeister agierenden Neumeier-Teamer Alexandre Riabko und Konstantin Tselikov teilweise sogar in die Ukraine reisten, und zwar mutmaßlich in sicheren deutschen Regierungsflugzeugen.

John Neumeier ließ die zusammen gewürfelte ukrainische Truppe gnädig „Spring and Fall“ („Frühling und Herbst“) tanzen, das ist ein beliebtes Stück von ihm zur Musik von Antonin Dvorak, das er 1991 begonnen und 1994 fertig gestellt hatte.

Sanft fließende Bewegungen in Paartänzen, aber auch in dynamische Gruppenpulks beschwören den gegensätzlichen Esprit der Jahreszeiten. Zunächst blaues, dann grünes Licht wechselt mit sandgelben Tönen. Das Ganze ein einziger Friedenstanz! Eine langhaarige Ballerina schien mir dabei sehr begabt, der Rest der Truppe war mühselig auf Linie gebracht.

Politik und Kunst, das geht halt nicht immer gut.

Viel angenehmer ist es da natürlich, sich nach der Pausenerfrischung den „Piano Ballets“, den „Klavier-Balletten“ von John Neumeier zu ergeben, und am besten ist es, so etwas mit einem großen Quantum Wissen zu tun.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Aleix Martínez und Edvin Revazov im „Beethoven-Projekt I“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Michal Bialk spielte dabei unermüdlich die verschiedenen Werke am Stück, denn dieser Mittelteil der Gala wurde als großes Ganzes präsentiert, mit inszenierten Übergängen, in denen die Tänzer vom folgenden Stück stets auf die Bühne kamen, wenn das vorangegangene Stück noch nicht beendet war. Manche Menschen empfinden es als störend, wenn ein Kunstwerk nicht in Ruhe zuende betrachtet werden darf, weil es im Hintergrund unpassend dazu rumort. Aber hier hat diese Technik den Vorteil, dass man schnell mit den Dingen durchkommt.

Der Anfang war mitreißend, es handelte sich um den Beginn von Neumeiers „Beethoven-Projekt I“ von 2018, und Aleix Martínez, dieser megabegabte Supertänzer, windet sich darin am Boden um das Einbein des Flügels, auf dem der Pianist spielt.

Ach, es ist zu schön zu sehen, wie Beethoven hier – mit nacktem Oberkörper, aber Fliege um den Hals – um Inspiration und Perfektion ringt. Einmal scheint er in das oben geöffnete Instrument hineinzukriechen, aber sein gestählter Körper bleibt waagerecht und lässt den Tänzer beinahe über dem Instrument schweben.

Kollektives Nachdenken und Nachfühlen kommt dann in „Dämmern“ von 1972 zur Musik des russischen Komponisten Alexander Skrjabin. Wer frühere Aufführungen erlebt hat, weiß, welche Magie von diesem Kammerballett ausgeht. Es ist, als träumten junge Menschen gemeinsam und doch individuell von einer besseren Welt. Entzückende, auch gestisch starke Soli gerade der Damen – hier von Emilie Mazon und Yaiza Coll getanzt – hinterlassen bleibenden Eindruck.

Dämmern“, noch in Frankfurt / Main von Neumeier kreiert, bevor er 1973 nach Hamburg kam, bildete die erste Ballett-Premiere unter Neumeier in der Hamburgischen Staatsoper. Eine passende Reprise jetzt also!

Wer damals schon gejubelt hat, kann auf sich stolz sein. Das Stück zeigt musterhaft Neumeiers Talent für sensible, dennoch stabile Beziehungen innerhalb einer Gruppe von Menschen. Welch eine getanzte Harmonie… Frieden in Vollendung.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Atte Kilpinen rasend vor Tanzlust im hamleteischen Solo „Hamlet Connotations“ von John Neumeier. Yeah. Im Hintergrund liegt Mathias Oberlin, frisch gekürter Erster Solist, noch aus dem vorangegangenen Stück. Für Hamlet könnte er der ermordete Vater sein. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West

Aber dann! Dann ist es aus mit der beschaulichen Ruhe und Kontemplation. Dann trumpft  nämlich Atte Kilpinen in einem 1976 für Mikhail Baryshnikov kreierten, wild-schönen Solo namens „Hamlet Connotations“ auf. Wow!

Kilpinen war mal Mitglied vom Hamburg Ballett, ein hoffnungsvoller Shooting Star, ging dann aber nach Finnland zurück, um dort der führende Tänzer seines Landes zu werden. Jetzt kam er als Gast auf die Gala – und beglückte, beglückte, beglückte.

Zappelig, energisch, mit hohen und kleinen Sprüngen durchsetzt, ist das Solo der  tanzgewordene hamleteische Selbstzweifel. Wunderbar.

Der Komponist dazu war übrigens der US-Amerikaner Aaron Copland, und auch der Komponist des nächsten Stücks stammte aus den USA: George Gershwin. Das getanzte Stück  für sieben schöne Damen entstammt „Shall We Dance?

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

„Shall We Dance?“ von John Neumeier in sechsfach femininer Umsetzung beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Ana Torrequebrada, Hayley Page, vor allem Olivia Betteridge und Madoka Sugai, aber auch Charlotte Larzelere, Greta Jörgens und Patricia Friza vermitteln hierin soviel feminines Flair, dass man die schmelzende Stimme der vom Band kommenden Sängerin Ella Fitzgerald fast nicht mehr braucht, um die Atmo im Stück nachzuempfinden. 1986 entstand das Stück.

Dem Auge schmeicheln – das kann so geschehen oder auch auf viel kompliziertere Weise.

Ein Pas de deux aus „Parzival – Episoden und Echo“ von 2006 zeigt das. Edvin Revazov, der „Parzival“ der Uraufführung, tanzt es mit Anna Laudere in der Rolle als „Das Fräulein, das nie lacht“. Letztere entspricht der mythischen Kondwiramur, ist nur viel fantastisch-fasslicher als diese, denn Parzival tanzt mit ihr in seiner Fantasie, ohne sie als künftige Gattin in Erwägung zu ziehen. Mütterlich ist sie dennoch zu ihm – und willig, sich in etliche riskant-raffinierte Posen heben zu lassen. Mit hohem, spitz zulaufenden Pierrot-Hut in der Farbe Hellblau zum glitzernden Abendkleid ist die Robe der Ballerina hier gewagt – und das Lächeln ist ihr qua Namensgebung untersagt. Als Metapher für die Schrägheit mittelalterlicher Mythen taugt das allemal, ebenso als charmanter Witz über die Liebe.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Edvin Revazov und Anna Laudere in „Parzival – Episoden und Echo“ von John Neumeier. Foto von der Nijinsky-Gala XLVIII: Kiran West

Die „Nocturnes“ von Frédéric Chopin stellen immer wieder Choreografen vor schöne Aufgaben. Neumeierillustrierte einige von ihnen, so das Nocturne Nr. 32. „Lieder der Nacht“ heißt das Stück dazu, und Mathias Oberlin, Lizhong Wang und Nicolas Gläsmann tanzen dazu – für Chopin’sche Verhältnisse außerordentlich munter und ausgelassen – die Freundschaft im Jungentrio. Heißa, die drei haben Spaß! Wie Matrosen auf Landgang erkunden sie zusammen die Welt, zu der auch drei schöne Frauen gehören…

Einen Kontrast dazu bietet „Désir“, wieder zu Musik von Skrjabin, und dieses Stück erfüllte am 9. September 1973 die allererste Ballett-Werkstatt, die John Neumeier (in Hamburg) abhielt. Was für eine Legende! Es war jene Matinée, bei der der damals neue und so junge Ballettboss in Hamburg vor Nervosität glatt den Faden verlor, er nicht mehr wusste, was er sagen wollte, wofür er sich entschuldigte – und herzlicher Applaus kam ihm entgegen.

Bei dieser Ballett-Werkstatt war es wohl, dass das feste Band, das Hamburg und Neumeier seither verbindet, geschmiedet wurde.

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko tanzen jetzt den subtilen Pas de deux eines Paares, das viel gemeinsam und synchron tänzelt, das aber dabei auch so etwas wie Beziehungsarbeit zu leisten hat. Und es ist wunderschön, darüber nachzudenken, wer schon alles so eine Choreografie getanzt hat und tanzen wird…

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Silvia Azzoni und Alexandre Riabko in „Désir“ von John Neumeier auf der Nijinsky-Gala beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Um es gleich zu sagen: Einige Talente wurden, wie es sich traditionell gehört, nach der Gala für den kommenden Spielzeitbeginn beim Hamburg Ballett befördert. Herzliche Glückwünsche gehen an:

Karen Azatyan, der endlich und nach fast einem Jahrzehnt in Hauptrollen auch Erster Solist wird; Mathias Oberlin, der auch darauf jahrelang hingearbeitet hat und auch Erster Solist wird – und Alessandro Frola, der noch sehr jung, aber supersupersuperbegabt und fleißig ist und es darum unbedingt auch verdient, Erster Solist zu sein. Und Louis Musin, der aktuelle, famose Romeo vom Hamburg Ballett und ebenfalls superjung, wird ab jetzt Solist! Vor allem verdient es auch das Publikum, diese vier wunderbaren Herren in aufregenden großen Partien zu erleben!

Die Damenwelt vom Hamburg Ballett hält auch News bereit: Die charmante Olivia Betteridge, die laszive Charlotte Larzelere und die elegante Ana Torrequebrada werden Solistinnen! Hipp-hipp, hurrah!

Ja, und in den ersten beiden Teilen dieser interessanten Gala war von den Fertigkeiten dieser Künstlerinnen und Künstler ja auch schon eine Menge zu bewundern…

Nach der zweiten Pause dann der mit Spannung erwartete dritte Teil, schlicht „Guests – and Final“ („Gäste – und Finale“) benannt.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Ida Praetorius und Francesco Gabriele Frola im „Blumenfest von Genzano“. So fein, der Bournonville-Stil! Foto: Kiran West

Aus dem „Blumenfest in Genzano“, einem romantischen Klassiker der dänischen Schule mit der Originalchoreografie von August Bournonville, stammt ein Pas de deux, in dem Ida Praetorius, die ja aus Kopenhagen kommt, und Francesco Gabriele Frola (der auf der Schule vom Hamburg Ballett war, zudem der Bruder von Alessandro Frola und derzeit Jungstar vom English National Ballet ist) brillieren, brillieren, brillieren. Das Publikum spürt die Qualität des Tanzes sofort und springt, wie es immer im Ballett ist, auch auf den historisch-klassischen Impetus sofort an. Welche Begeisterung!

EIne Gala ohne die Kameliendame wäre keine in Hamburg.

„Napoli“ von Lloyd Riggins nach August Bournonville, dritter Akt, feurig und utopisch – im Dezember 2014 in Hamburg premiert, war die Szene auch mal ein Abschlussknüller auf der Nijinsky-Gala. Man würde es so gern wieder sehen! Am liebsten in friedvollen, glücklichen Zeiten…  Foto: Holger Badekow

Man erinnert sich dabei auch an das furiose abendfüllende Programm „Napoli“, ebenfalls im feinen Bournonville-Stil, das Lloyd Riggings  2014 für das Hamburg Ballett hingezaubert hatte. Und man wünscht sich, dass es wieder aufgenommen wird oder Riggins eine zweite Mischung aus Rekonstruktion und Neukreation wagen darf. Es war so schön!

Frola springt derweil so akkurat wie aufgezogen, dabei aber mit Herz und Ausdruck. Und Praetorius zeigt sich von ihrer besten Seite, leichtfüßig und erotisch. Ein Top-Team!

Die Schlussfigur der beiden möchte man am liebsten über zwei Vorhänge lang sehen, so niedlich und gelungen ist ihre Attitude und seine Standpose.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

„Bhakti III“ von Maurice Béjart – ein getanztes Superevent auf der Nijinsky-Gala XLVIII in Hamburg. Foto: Kiran West

Aber es kommt noch eine Steigerung: „Bhakti III“ von Maurice Béjart, dem verehrten Großmeister der elegischen Moderne, der mit Neumeier zudem befreundet war.

Das Tokyo Ballet, 1964 gegründet, tanzt Béjart-Stücke traditionell, und entsprechend hoch ist auch die Qualität des Tanzpaares, das den hochmodernen Grand Pas de deux hier zelebriert.

Die liebreizende Akimi Denda – im pinkroten „Jeannie“-Zweiteiler – und der bildschöne Dan Tsukamoto – im passenden Herren-Outfit – zeigen, wie viele schöne Seiten die Liebe hat, wenn sie indisch inspiriert ist.

Er im Schneidersitz, sie auf ihm, face to face; sie in Spitzenschuhen im Wiggle walk; er in sich seitlich hin und her schiebenden Ausfallschritten, den Oberkörper nach vorn, bis nach unten beugend. Sie eine Illusion aus Vollkommenheit; er eine kraftvolle Verkörperung der Zärtlichkeit. Welch ein Paar.

Der Applaus tost nur so, man ist begeistert – Béjarts ganze Power hat sich vorzüglich übermittelt.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Applaus für die „Bhakti“-Tänzer Akimi Denda und Dan Tsukamoto vom Tokyo Ballet. Foto von der Nijinsky-Gala: Kiran West

Aber dann, dann kommt noch etwas, das so etwas von besonders ist, dass man jede Sekunde festhalten möchte, um sie noch stärker zu genießen.

One Thought for a Lifetime” nennt Fei Bo seine Hommage an John Neumeier. Es soll um den seit 50 Jahren umgesetzten Gedanken des großen Meisters gehen, um sein Hamburger Lebenswerk. Rund 170 Choreografien, die meisten davon abendfüllend. Die Company, die Schule, das Bundesjugendballett – Gastspiele, Gasteinstudierungen, Gala, Ballett-Tage… John Neumeier tut wohl nichts, das nicht direkt oder indirekt seiner selbst gewählten Aufgabe im Leben zuspielt.

5431 Vorstellungen absolvierte das Hamburg Ballett in den letzten 50 Jahren mit Neumeier. Jede einzelne Sekunde davon hatte ihren Sinn.

Wie das umsetzen? Fei Bo fand eine hervorragende Lösung, angelehnt an die chinesische Tradition, einen symbolischen Rebstock als Metapher zu verwenden. Ein großer Stab also begleitet das Tanzpaar. Der Mann streckt diesen manchmal aus, als Verlängerung seiner diversen Gliedmaße. Die Frau hält sich den Stab in den Nacken, ihr Partner zieht sie daran hoch. Kein Zweifel: Der Mann ist John Neumeier, die Frau ist seine Company, das Hamburg Ballett.

Gemeinsam sorgen sie dafür, mit dem Stab Ästhetik, Harmonie, Ausdruck, Energie zu erzeugen.

Eine durchaus ernsthafte, festliche, ritualhafte Stimmung prägt das Pas de deux. Und: der unerschütterliche Zusammenhalt von Mann und Frau, also von JN und seinen Mitarbeitern. Chapeau, das ist fantastisch choreografisch formuliert und zudem ein sehr berührendes Bild, Fei Bo!

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

„One Thought for a Lifetime“: das getanzte Geschenk von Fei Bo an John Neumeier zum Jubiläum. Toll – und toll getanzt von Qiu Yunting und Li Wentao. Foto: Kiran West

Der eine Gedanke aus dem Titel findet sich übrigens in der fernöstlichen Philosophie wieder: „Eins gebiert zwei, zwei gebiert drei, drei gebiert alle Dinge, und alle Dinge kehren im langen Fluss der Zeit zum Einen zurück“, heißt es bei Fei Bo selbst. Er hat übrigens 2017 schon einmal eine Arbeit auf der Nijinsky-Galagezeigt – und sich seither enorm entwickelt.

Sein Werk berückt, es benutzt auch die asiatisch-ätherische Gesangsmusik, aber es könnte auch ohne sie auskommen. Stille schwebt hier zwischen den einzelnen Bewegungsabschnitten, verleiht ihnen die Aura von Ewigkeit.

Am Ende steht der Stab allein, senkrecht und stolz reckt er sich in die Höhe – und das Pärchen umtanzt ihn, sachte, aufmerksam, ihn gleichsam aus der Nähe und aus der Ferne zu beobachten und weiter zu pflegen. So wird es John Neumeier tun, wenn er offiziell nicht mehr der Intendant vom Hamburg Ballett sein wird, ein Zustand, den niemand ersehnt, den er selbst aber für das Spielzeitende 2024 angesagt hat.

Viel Jubel gibt es für das absolut schöne chinesische Duo Qiu Yunting und Li Wentao vom Chinesischen Nationalballett aus Bejing. Und viel Dank sei Fei Bo und den Tänzern gesagt, denn dieses Stückchen Glück wird uns helfen, darüber hinwegzukommen, wenn der große Meister Neumeier nicht mehr bei jeder Vorstellung seine beschützende Hand über seine Kunst halten wird.

An diese übernächste Saison mag man aber im Moment noch gar nicht denken. Lieber erfreut man sich am nächsten Höhepunkt der Gala, der aus Paris kommt.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Dorothée Gilbert und Hugo Marchand aus Paris in „Le Rouge et le Noir“ von Pierre Lacotte. Foto von der Nijinsky-Gala 2023: Kiran West

Dorothée Gilbert und Hugo Marchand tanzen ein Pas de deux des dieses Jahr verstorbenen  Pierre Lacotte aus seiner letzten großen Produktion namens „Le Rouge et le Noir“. „Rot und Schwarz“ ist ein Roman von Stendhal, der einen Mann zwischen zwei Frauen zeigt.

Der gezeigte Paartanz mutet wie eine Antwort auf die Schlafzimmerszene aus „Manon“ von Kenneth MacMillan an. Aber die Frau hier hat Kummer, und der Mann, der spät und mit dem Leuchter in der Hand heimkehrt, muss sie trösten – und sie der Realität durch Verführung entführen.

Schließlich landen beide beseelt miteinander im großen goldfarbenen Bett, das auf der Bühne bereit steht – und das Laszive und das Edelmütige vermischen sich in der Tanzszene bis zum Schluss vollends.

Die Pariser Opéra hat Glück mit Gilbert und Marchand, die eine Zierde für jede Gala sind.

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

John Neumeier wandelt als Mitwirkender in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, der ersten Hamburger Kreation des Meisters. Foto von der Nijinsky-Gala 2023: Kiran West

Und Hamburg hat Glück mit John Neumeier und seinem Hamburg Ballett, welches mit dem sechsten Satz aus der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“ diese historisch einmalige Gala beendet.

„Was mir die Liebe erzählt“ – das Adagio gibt mit seinem Titel das Thema bereits vor.

John Neumeier wandelt nun selbst (wie in der Tournee-Gala „The World of John Neumeier“) durch die Tanzenden, die in feinnervigen Paarkonstellationen die Bühne füllen.

Alina Cojocaru und Edvin Revazov tanzen das Hauptpaar – und erinnern mit ihrer Kunst daran, dass dieses Stück die erste Kreation war, die Neumeier in Hamburg ausführte.

Liebe und Frieden – sie sind untrennbare Geschwister, oder? All ihr Zankwütigen da draußen, was meint ihr?

Später rief Neumeier, damals der Jungspund unter den deutschen Ballettdirektoren, jedenfalls beherzt den Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein an, um ihn zu bitten, die Aufführungen zu leiten. Bernstein konnte das aus zeitlichen Gründen nicht zusagen. Aber er sprach eine halbe Stunde mit dem ihm damals noch völlig unbekannten Ballettmann. Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft… die dann zu etlichen Premieren und Uraufführungen in Hamburg – von „West Side Story“ bis „Bernstein Dances“ – führte.

Liebe, Friede, Freundschaft – so wird eine heilige Dreieinigkeit daraus.

Jede und jeder, die oder der einige Stücke von Neumeier gesehen hat, dürfte zudem eine besondere Beziehung zu seiner Kunst haben. Vergessen Sie diese nie!

Das Hamburg Ballett gibt jetzt noch ein Gastspiel in Granada (Spanien), tanzt dort nachts open air unterm Sternenhimmel in den Gärten der Alhambra, es trägt seinen Geist also weit hinaus in die ferne Welt – und zwar mit „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier. Auch darin gibt es Krach und Friede – und viel, viel Liebe.

Erst dann endet für die Company eine ihrer aufregendsten Spielzeiten, nach einem vierwöchigen Festival, den Hamburger Ballett-Tagen, sowie der Nijinsky-Gala als Krönung. Genießen Sie den Sommer!

"Nijinsky-Gala XLVIII" 2023 beim Hamburg Ballett

Jubel beim Ade: Applaus, scheinbar ohne Ende, für John Neumeier, seine Mitarbeiter und seine Gäste! Foto von der Nijinsky-Gala 2023 aus Hamburg: Kiran West

Und wir danken John Neumeier  für sein Werk, für seine Anstrengungen, für seine Leistungen. Vielfach: Bravo! Und ein Extragebet für den Weltfrieden.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

ballett journal