„Remember me“ – da fehlt fast ein Ausrufezeichen. Remember me! Denkt an mich! Das wäre ein kultureller Befehl. Kurz und knapp. Es ist aber auch so zu lesen: „Erinnert euch an mich, denkt an mich!“ Fast flehend wirkt es. Remember me. Bitte. Denkt an mich. Zart und leise hingehaucht hat es auch noch eine spezielle Nuance. Im Sinne von: Vergesst mich nicht! Und es könnte auch nicht nur die Mehrzahl gemeint sein. Es gilt auch als intimer Anruf des lyrischen Du: Vergiss mich nicht. Du! Denk an mich. Wie eine warnende Mahnung klingt es sowieso, aber auch wie ein schmeichelnder Lockruf. Oh ja, an John Cranko, der vor 50 Jahren viel zu früh und viel zu jung verstarb, erinnert man sich gerne. Das Stuttgarter Ballett benennt seine aktuelle Premiere – heute abend – mit dieser Aufforderung: „Remember me“ – und die Buchstabenreihe des Titels erinnert auch gleich an das erste Stück des Programms: „Initialen R.M.B.E.“, welche für die Vornamen der vier Lieblingsbühnenstars des Choreografen Cranko stehen. Richard (Cragun), Marcia (Haydée), Birgit(Keil) und Egon (Madsen) waren die ersten Interpreten seiner großartigen Stücke, und im Januar 1972 durften sie dieses Stück aufführen, das genau für sie maßgeschneidert war. Dieses Jahr coachen Marcia Haydée und Egon Madsen die jungen aktuellen Stars vom Stuttgarter Ballett wie Elisa Badenes und Matteo Miccini in diesen historisch-persönlichen Partien, zusammen mit weiteren Solisten und dem Corps de ballet, das Cranko nicht ohne Grund in diesen Tanz mit einband. Eine hochkarätige Show! Nach der Pause berückt dann das ergreifende „Requiem“ von Kenneth MacMillan: Der britische Choreograf war ein enger Freund von Cranko und schuf dieses Stück 1976 als Andenken an den so tragisch Verschiedenen. Es ist ein lebendes Monument, wenn man so will – gerade richtig, um über den Wert der Ewigkeit in der Kunst nachzudenken.
Zunächst aber das vitale, bei aller Melancholie vor Kraft nur so strotzende, den Tanz ebenso wie die Kunst der Musik verherrlichende Initialen-Stück von Cranko.
Die Musik stammt von dem gebürtigen Hamburger Johannes Brahms, und John Cranko wählte mit Bedacht genau jenes Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 B-Dur, op. 83, das Brahms selbst in Stuttgart als deutsche Erstaufführung am Piano gespielt hat. Rund 50 Minuten dauert es, zart und fein beginnend, sich dann rasant steigernd – und alle Farbigkeiten, die Cranko für die Portraits seiner Tänzerinnen und Tänzer brauchte, in schillernden Facetten abbildend.
Warum überhaupt Brahms? Dazu gibt es ein Statement von John Cranko:
„Ein Ballett für die Freunde Richard, Birgit, Marcia und Egon zu Musik von Johannes Brahms, dessen leidenschaftlicher Sinn für Freundschaft und Liebe durch sein Werk wie seine Briefe und auch durch Zeugnisse anderer belegt ist.“
Die Freundschaft und die fürsorgende Liebe bilden also das Band, das die vier Teile des Stücks zusammen hält, sowie das Tableau, vor dem es überhaupt erst entstehen konnte. Mehr Friedensabsicht geht schon fast nicht im Ballett. Der Blick auf die Welt ist allerdings zwar ein zärtlicher, dennoch aber ungetrübter, was die Verschiedenheit menschlicher Tugenden und Qualitäten angeht.
Marcia Haydée sagt denn auch: „Dieses Stück ist eines der wichtigsten von John Cranko.“ Weil alles von ihm drinsteckt, und weil er zehn Jahre lang daran gedacht hat, es zu machen, bis es soweit war, bis seine Company soweit war, all das auszudrücken, was er ihnen abverlangte.
Dass Crankos Lieblingsausstatter Jürgen Rose die Kostüme dafür schuf – wie hingetuscht, so fein wirken sie – versteht sich fast von selbst.
Richard Cragun („R.“) personifiziert darin den ersten festlich-feierlich gehaltenen Satz, der voll virtuos-dramatischer Brillanzen und Sentenzen ist. Cranko zitiert sich zwar nicht selbst, aber er bringt in dieses Initialenstück viele für seinen Stil typische Bewegungen ein, gerade im ersten Satz. Der Tausendsassa Cragun darf hier nach Herzenslust springen und pirouettieren, sodass einem schon beim Zuschauen schwindlig werden kann. Hintergründig rauscht in der Musik aber immer eine fast herbstlich-melancholische Stimmung, die dem Gezeigten jedweden Zirkuscharakter mit leichter Klavierspielerhand nimmt. Es ist eben nicht oberflächlich, was Cranko schuf. Zwei Solistinnen und das Corps ergänzen hier die Sperenzien des Danseur noble.
Birgit Keil („B.“) steht dann im zweiten Satz für die alles umarmende, statische Eleganz. Ihre edle körperliche Schönheit, ihre geraden Linien, ihre fast hochmütige majestätische Ausstrahlung machten sie für viele zum Sinnbild einer klassischen Ballerina. Zwei Damen und drei Herren betonen dieses in ihren ergänzenden Darbietungen.
Marcia Haydée („M.“) darf dann im Andante die große Seele des Balletts verkörpern. Ein Partner und das Corps de ballet unterstützen sie dabei, unter anderem mit Hebungen à la Bolschoi, wie Cranko sie liebte. Die Grande Dame war Marcia auf der Bühne schon damals – und ihre Paartänze sind unerreicht, auch mit ihrem liebevollen Augenspiel, das sich auf den ganzen Körper fortsetzte.
Egon Madsen („E.“) schließlich, quirlig und aufgeweckt, braucht nur das Corps de ballet, um sein Temperament wie vor einer Folie zu entfalten: charmant, scherzhaft, wie ein Wirbelwind aus Witz. Lauter schalkhafte Energie, gebündelt in menschliche Gestalt. Er ist der Joker forever…
Cranko schafft es, somit gleichermaßen die vier Temperamente stilistisch überformt zu zelebrieren: Egon als Sanguiniker, Birgit als Phlegmatikerin, Marcia als Melancholikerin und Richard als Choleriker. Und aus dem vierteiligen Stück wird ein Panorama der menschlichen Wesensart, ein Kosmos der Gefühle.
Nicht ohne Grund wurde „Initialen R.M.B.E“ auf der ersten Tournee des Stuttgarter Balletts in die Sowjetunion gezeigt. Die russische Rezensentin und Ballettexpertin Vera Krasovskaya schrieb enthusiastisch: „Was für ein Reichtum an Fantasie. Die Tänzer demonstrieren ihre Virtuosität mit Präzision, Disziplin und Einfühlungsvermögen.“ Und: „Es ist eine Hommage an die ganze Compagnie.“
Der US-amerikanische Kollege Clive Barnes von der New York Times konnte dem nur beipflichten: „Dieses Ballett gehört ins Repertoire jeder Compagnie, die auf sich hält.“
Wie schade, dass Barnes bislang nicht erhört wurde – vielleicht sollte das Stuttgarter Ballett in Zukunft stärker darauf pochen, Cranko auf Gastspielen zu zeigen und auch Stücke von John Cranko wie dieses bei anderen Compagnien einzustudieren.
Aber wer weiß – vielleicht steht uns ein wahres Cranko-Revival noch bevor. Wir wissen nicht, was die Zukunft bringt. Wir können nur hoffen! Und Überzeugungsarbeit leisten, damit unsere internationale Ballettwelt nicht auseinander fällt.
Eine Brücke in die Vergangenheit und in die Zukunft baute Kenneth MacMillan, als er in Angedenken an seinen Freund Cranko das „Requiem“ nach Musik von Gabriel Fauré schuf.
Man muss nicht katholisch sein, um dieses Werk zu genießen. Kenntnisse über das musikalische Ritual eines Requiem schaden aber nicht. Hier ist interessant, dass Fauré, der 1886/87 den Tod seiner Eltern mit seiner Komposition opus 48 beklagte, sich an der gregorianischen Totenmesse orientiert: In sieben Teile gegliedert, entfächert die Musik ein jenseitiges Universum aus Schmerz und Überwindung. Allerdings geht es nicht um den großen Aufschrei einer Vision, sondern vielmehr um Trost und Verklärung.
Es sind also – nach den deftig-kräftigen Gesten von John Cranko – die zurückhaltenden Nuancen, die hier ins Spiel kommen.
Mark Pritchard schuf ein Licht, das schon fast die Bezeichnung „Lichtregie“ verdient: Es ersetzt ein Bühnenbild, erschafft darüber hinaus eine mit der Musik stimmige Atmosphäre.
Seit ihrer Jugend in London kannten sich MacMillan und Cranko, und sie verstanden sich nie als Konkurrenten, sondern immer als Freunde, die sich gegenseitig stützten.
So ist das einleitende Kyrie ein exquisit choreografierter Massenauflauf, und die ganze Menschheit scheint sich hier zu versammeln, um Cranko zu huldigen und um ihn zu trauern.
Die Solisten – bei der Uraufführung und den folgenden Vorstellungen waren wieder die vier Stars aus dem Initialen-Stück glorios vertreten – haben aber auch Passagen zu tanzen, die manchmal wie ein Stück-im-Stück wirken. Als Soli, zu zweit, aber auch als Kleingruppenstück.
Erinnerungen und Zukunftsträume mischen sich hier – es ist kaum möglich, sich diesem Zauber zu entziehen.
1977 wurde das Stück auf der USA-Tournee gezeigt und stürmisch umjubelt. Marcia Haydée war zur Zeit der Uraufführung von „Requiem“ die Chefin der Truppe – und sie achtete darauf, dass die Bezüge zu John Cranko herausgearbeitet wurden und erhalten blieben.
Kenneth MacMillan wiederum war damals in Stuttgart kein Fremder. Dank seiner guten Beziehung zu Cranko hatte er bereits fünf Stücke vom Stuttgarter Ballett uraufführen lassen – zu Lebzeiten von John Cranko. Während der Kreation von „Requiem“ ließ er sich sowohl von dem umfangreichen musikalischen Material inspirieren als auch von den Improvisationen seiner kleinen Tochter Charlotte, die mit in den Ballettsaal durfte.
Ihm gelang nicht nur eine Totenmesse, sondern vor allem ein Portrait der „hinterbliebenen“ Compagnie. Hierbei erhebt er das Stuttgarter Ballett zum Sinnbild für Tanz überhaupt.
Insgesamt ist es immer wieder eine bedeutende Gelegenheit für das ganze Ensemble, eine künstlerische Trauerarbeit zu leisten, um die Balance zwischen Erhabenheit und Tragödie nicht zu verlieren.
Pas de deux, kleine Gruppen, große Gruppen – alle müssen einander hierin Halt geben.
Die Britin Yolanda Sonnabend schuf für „Requiem“ die passenden Kostüme, und der aktuelle Ballettintendant Tamas Detrich wird sich hüten, daran etwas zu erneuern: Sie sind modern, mit viel Weiß, etwas Hautfarben, mit verlaufendem, etwa blau-auf-grau-blau-weiß gehaltenem Farbspiel.
Am Ende gehen alle dem Licht entgegen. Was sonst. Und nur nicht ans Aufgeben denken! Wie wichtig die Erinnerung für die Zukunft ist, zeigt dieser Ballettabend par excellance.
Gisela Sonnenburg