
Aleix Martínez (vorn) als Jesus mit Pepijn Gelderman (li) und Florian Pohl (re) als Wächter in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Foto vom Hamburg Ballett: Kiran West
Welch eine Geduld hat dieser Jesus Christus, und welch ein Segen ist er! Aleix Martínez debütierte am Gründonnerstag als Jesus in der John-Neumeier-Inszenierung der „Matthäus-Passion“, und neben ihm tanzten noch einmal die hochbegabten, speziell für den Neumeier-Stil geeigneten Stars Madoka Sugai, Christopher Evans, Alexandr Trusch und Alessandro Frola. Es ging, zur gesangssatten Musik von Johann Sebastian Bach, um Verleumdung, Denunziation und Anklage, um Verurteilung, Passion und Tod, aber auch um Glaube und um Wiederaufstehung. Da war die eine oder andere Umarmung auf der Bühne besonders innig. Abschied lag in der Luft. Und viel Begeisterung der Zuschauer über die großartige Kunst des Hamburg Balletts, den kniffligen Stil Neumeiers grandios zu tanzen. Neumeiers Stücke sind nun nicht irgendwelche Tänze, die nett, hübsch, dramatisch, sportlich oder witzig sein könnten. Es sind Stücke von hohem Karat, vergleichbar den Werken von Mozart, Wagner, Goethe, Shakespeare, Leonardo, Picasso, Ellington. Das Hamburger Publikum weiß das: John Neumeier (der sein vierstündiges Stück selbst mit der aktuellen Besetzung einstudierte) erhielt kräftigen Begrüßungsapplaus, als er auf seinen Platz ging. Er ist ein wandelndes Hamburger Wahrzeichen.

John Neumeier, auch mit 86 Jahren ungebrochen aktiv und kreativ. Foto: Kiran West
In den – wie fast jedes Jahr – nahezu ausverkauften Ballettvorstellungen an Gründonnerstag und Ostersonntag ließ sich das Publikum von ihm mal wieder bezaubern und erleuchten. Nur mal zum Vergleich: Die Wagner-Oper „Parsifal“, die heute in Hamburg läuft, ist hingegen nicht mal zur Hälfte ausverkauft. Kein Wunder, denn die Inszenierung von Achim Freyer ist zwar höchst sehenswert, aber die musikalische Besetzung ist nachgerade abschreckend bedeutungslos. Hamburg hat nun mal ein Spitzenballett von Weltklasse und seit dem angekündigten Weggang von Kent Nagano eher weniger Opernkarat. Die Stadt Hamburg scheint jedoch zu glauben, sie habe weltbedeutende Kulturgüter im Überfluss. Oder warum verschleudert sie den Schatz, den sie mit den John-Neumeier-Balletten hat?
Es war seit Jahrzehnten eine sinnvolle Tradition in Hamburg, über Ostern an drei Tagen eines der sakralen Ballette von John Neumeier zu zeigen. Etwa den „Messias“, zumeist aber die „Matthäus-Passion“, die seit ihrer Kreation 1980/81 zu den bedeutendsten Tanzstücken überhaupt gehört. Nie zuvor wurde es gewagt, vier Stunden Ballett am Stück zu einem biblischen Thema auf die Bühne zu bringen. Und nie danach ist Ähnliches derart gelungen. Das Publikum dankt es bis heute.

Auch in den letzten Jahren tanzte das Hamburg Ballett die „Matthäus-Passion“ von John Neumeier. Foto: Kiran West
Dieses Jahr gab es aber nur zwei statt der üblichen drei Ostertanzvorstellungen. Und im kommenden Jahr, 2026, soll es gar keine geben. Kein Ballett in Hamburg zu Ostern? Letztes Jahr war das zwar auch so, aber das hing mit Gastspiel- und Urlaubszeiten zusammen. Für 2026 hat man hingegen den Eindruck, dass der Wegfall an die zwei statt drei Aufführungen in diesem Jahr anknüpft. Das ist ein Bruch mit einer überaus wichtigen Tradition, denn sie verband die heutzutage oft verfeindeten Bereiche Kunst und Religion auf eine heilsame Weise. In Hamburg hat das die Oper so nie geschafft. Wer aber das Christentum ehren will, schenkt ihm hochkarätige Kultur. Und wer der Kunst ihre Freiheit lässt, gestattet ihr auch religiöse Einfärbung. Tanz ist dafür wie gemacht, ist seine künstlerische Basis doch Spiritualität.
Aber Geduld – nicht nur Jesus muss sie beweisen. Auch das in Kulturdingen gut trainierte Hamburger Ballettpublikum, das sich immer auch aus Anreisenden speziell fürs Ballett zusammensetzt, muss sich derzeit in Geduld üben. Denn die Frage ist offen: Was will der neue Ballettintendant Demis Volpi eigentlich? Soll es ein kurzer Abschied von Hamburg als Neumeier-Metropole werden?
Er kam in dem Wissen, dass John Neumeier hier über 50 Jahre lang ein weltweit einmaliges, eigenes Ballettreich aufgebaut hat. Nicht sein privates. Sondern eines, das, wie es sich für mit Steuermitteln bezahlte Kunst gehört, der interessierten Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Schule, Bundesjugendballett, Company und die Vorstellungen vom Hamburg Ballett greifen hier ineinander und sind nicht voneinander zu trennen, wenn man die Erfolgslinie, die Neumeiers Weg begleitete, beibehalten will.
Es war schon befremdlich, dass Neumeier, der zwar im Sommer seinen Chefposten aufgab, der aber weiterhin in den Ballettsälen aktiv ist, zunächst kein Büro mehr im nach ihm benannten Ballettzentrum Hamburg – John Neumeier hatte. Noch befremdlicher war, dass das Bundesjugendballett auf einmal von Volpi ausquartiert wurde, ganz so, als gehöre es nicht dazu.
Dann haben fünf wirklich wichtige Erste Solisten (darunter mit Madoka Sugai eine Primaballerina) kürzlich die Kündigung zum Sommer eingereicht. Die Gründe dafür blieben im Verborgenen. Aber gut riecht so etwas nicht. Was bekommt das Publikum dafür? Weder ist von neuen oder auch alten Gaststars wie Alina Cojocaru und Roberto Bolle die Rede noch von anderen Stars mit hohem Zukunftspotenzial.

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Was kommt als nächstes? Die kontinuierliche Reduktion von Neumeier-Stücken auf den Spielplänen steht an. Und was bekommt das Publikum dafür? Etwa Ballettklassik vom Feinsten, wie sie langsam, aber sicher Mangelware in Deutschland wird, und wie das Hamburg Ballett sie in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder auch bravourös anbieten konnte? Mitnichten.
Es kommt, was man als Allerweltskunst, aber keineswegs als Weltkunst bezeichnen muss. Es kommt ein bunter Salat mit vielen Radieschen, aber mit wenig nahrhafter Sauce. Da werden Stücke verschiedenster Choreografen zusammengewürfelt und mit einem Duktus gezeigt, als habe ein selbsternannter Messias diese in seiner unermesslichen Selbstbezogenheit vergessen. So ist es aber nicht. Denn die Nicht-Neumeier-Stücke, die Volpi auf den Plan setzt, sind im Vergleich zu Neumeier-Werken vergängliche, keineswegs mit Ewigkeit behaftete Arbeiten. Niemand mag sich solche eher banalen Werke über Jahrzehnte hinweg immer wieder anschauen. Shakespeares, Wagners, Picassos und Neumeiers gibt es eben nicht so viele.
Nun steht die erste große Kreation des neuen Hausherrn noch aus. „Demian“ nach einem Frühwerk von Hermann Hesse wird wohl entweder ein großer Wurf oder eher was zum Vergessen. Demis Volpi steht unter ziemlichen Druck. Und auch wieder nicht: Man hat den Eindruck, es ist egal, was ihm passiert und wie es weiter geht, die Politiker Hamburgs, die ihn einkauften, halten zu ihm. Auf Biegen und Brechen. Wollen sie nur einfach keine Fehler zugeben?

Matias Oberlin vorn mittig als Judas: geldgierig, aber letztlich an seiner Schuld zu Grunde gehend. Foto aus der „Matthäus-Passion“ vom Hamburg Ballett: Kiran West
Das Stammpublikum jedenfalls ist aufgescheucht. Will man es jetzt loswerden? Sind die Zuschauer den Politikern zu anspruchsvoll? Zu alt? Zu sehr an das Bewährte gewöhnt? Will man künftig lieber Clubgänger und Jugendliche ins Opernhaus locken, die sich eigentlich noch gar nicht reif für die Hochkultur fühlen?
Es ist doch normal, dass man als Kind, Jugendliche und Student ins Opernhaus geht und dann erst wieder ab 50 plus. Dazwischen sind andere Dinge wichtig – das war schon immer so, seit es Opernhäuser fürs bürgerliche Publikum gibt. Da muss man jetzt kein Publikum künstlich oder zwanghaft verjüngen.
Aber die Politik will was Neues, unbedingt. Vielleicht ist der eine oder andere Politiker es eben Leid, die hohe Autorität von John Neumeier als bedeutend für Hamburg anzuerkennen. Aber darum seine Schätze und Traditionen opfern? Da müsste mal Einsicht keimen.
An Gründonnerstag und Ostersonntag war zu erleben, in welch hohem Maße diese Art von Kunst auf Menschen wirkt und sie beglückt. Das ist was anderes als ein Fußballspiel zu sehen, ein Rockkonzert zu hören oder irgendeinen zeitgenössischen Tanz zu sehen. Von der Qualität her ist Neumeier nun mal eine eigene Luxusklasse.

Greta Jörgens und Jack Bruce (hinter ihr) in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West
Die wuchtige Musik der „Matthäus-Passion“ erhält durch die Neumeier-Choreografie eine schwebende Leichtigkeit. Zugleich spiegelt sich darin eine Ernsthaftigkeit, die weniger nur der Musik als vielmehr dem ureigenen Neumeier-Libretto zu danken ist.
Denn dieser Tanz begnügt sich keineswegs damit, den von Solisten wie Peter Schreier sowie von mehreren Chören gesungenen Text zu illustrieren. Er ist dem Matthäus-Evangelium der Bibel entlehnt und wurde von Chorälen sowie von Dichtungen von Picander ergänzt. Neumeier hat all diese Verse zwar reflektiert, bei der Kreation dann aber eigene Fantasien erfolgreich dazu eingebracht. Wie es sich für einen modernen, zeitgenössischen Künstler gehört.
Geduld zeigt hierin nicht nur die zentrale Figur des Jesus. Aber Aleix Martínez tanzt seinen Christus mit betont stoischer Gelassenheit. Souverän steht er da, tanzt, zuckt, umarmt, führt – und steht wieder, mit wie gefesselt gekreuzten Armen links in einem Schrein, der Bühne seitlich zugewandt. Überwiegend tragisch grundierte Rollen wie diese sind an sich nicht sein Hauptgebiet. Aber er meistert eine eigenständige Interpretation. Kein Wunder: 2010, als er seinen Abschluss zum Berufstänzer an der Ballettschule vom Hamburg Ballett machte, war er mit Abstand der Klassenbeste.

Stark im Ausdruck: Edvin Revazov (mittig) in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West
Edvin Revazov, der vor allem am Ostersonntag mal wieder das Maß allen Vorstellbaren an Ausdruck sprengte, hält zeitweise den im Sommer das Hamburg Ballett verlassende Alexandr Trusch wie in einer Pietà-Skulptur im Arm, allerdings im Stehen, mit gebeugten Knien, ohne Sitz darunter.
Trusch wiederum öffnet in seinem großen Solo den Mund zum stummem Schrei, er umschließt die Lippen mit den Händen, als wolle er einen Trichter formen. „Geduld“ beschwört hier der gesungene Text – und doch ist die Geduld bald am Ende.
Innigkeit und Verlangen, Sehnsucht und Zuverlässigkeit verschmelzen in seinem Tanz. Hinzu kommt eine Prise Sexiness, die nicht zu übersehen ist und die aus dem Bühnenstar fast so etwas wie ein Sexsymbol macht. Alexandr Trusch ist zudem einer der besten Tänzer seiner Generation weltweit – das habe ich schon 2015 hier im Ballett-Journal geschrieben, und davon ist nichts zurückzunehmen. Er hätte damals zum American Ballet Theatre nach New York gehen können, als hochbezahlter Starsolist, aber er wollte nie was anderes als in Hamburg zu tanzen.
Es ist eine Schande, dass Trusch das Hamburg Ballett verlassen wird, und diese Schande ist nicht nur ein Signal, sondern wohl auch symptomatisch. Gleich vier weitere führende Stars verlassen die Truppe, völlig überstürzt. Irgendetwas stimmt da nicht mehr unter der neuen Herrschaft von Demis Volpi. Das sehen alle Außenstehenden – nur die zuständige Hamburger Kulturpolitik scheint nichts von Problemen wissen zu wollen.

Marc Jubete (links) und Alexandr Trusch (oben rechts) in Aktion – Fotos von Kiran West, die in einer Programmheftausgabe zur „Matthäus-Passion“ zu sehen sind. Faksimile: Gisela Sonnenburg
Zu Beginn ist Truschs Figur hier blind und hat sich mit einem Gehbehinderten (auch famos: Francesco Cortese) verbündet. Erst nach ihrer wundersamen Heilung – die hier nicht wie im Volkstheater vorgeführt wird – zeigen die beiden ein seliges Lächeln beim Tanzen. Und sie halten weiterhin zusammen, ein Pärchen der wahrhaftigen Freundschaft.
Ein weiteres furioses Solo hatte am Gründonnerstag der Nachwuchsstar Artem Prokopchuk, mit Stampfschritten und expressiven Gesten. Ein Zweifelnder, ein Zerrissener, der sich selbst auf die Brust schlägt. Er glaubt und er glaubt nicht. Er wird pure Verzweiflung. Will sich erdolchen. Er verausgabt sich in dieser Aggression. Doch da stöhnt er, und sein Gesicht ist plötzlich verzerrt.
Man könnte das für Passion halten. Doch der Ballerino hat sich am Knie verletzt, und er wird, als gehöre das zur Inszenierung, nach bravourös-tapferem Solo von anderen Tänzern von der Bühne getragen. Das Publikum sieht nicht, dass er ins Krankenhaus gefahren wird, in die Notaufnahme. Wünschen wir ihm alles Beste zur Genesung!
Tänzerinnen und Tänzer wissen, dass ihr Beruf ein höheres Unfallrisiko birgt als der von Schreibtischtätern. Sie können sehr professionell mit ihrem Körper und seinen Beschädigungen umgehen. Und sie sind darüber hinaus oft dermaßen tapfer, dass man sie schon dafür bewundert.
Am Ostersonntag übernahm dann Emiliano Torres den Part. Auch er ließ in diesem Solo auf fast grobschlächtige Art seinen Zorn und seine Wut heraus, er stampfte seinen Ärger in den Boden, vollführte dazu weite, seitliche Ausfallschritte. Die erhobenen, waagerecht gebeugten Arme zitterten vor Anspannung.
Jesus segnet auch diesen Tänzer, stellt ihn auf die Probe, nimmt ihn an.
Und man sieht, wie hervorragend das Hamburg Ballett organisiert und trainiert ist. So elegant die Verletzung des einen Tänzers auf offener Bühne überspielt wurde, so leidenschaftlich setzt ein Kollege von ihm das Werk fort.
Die neuen, von Demis Volpi mitgebrachten Tänzer Jack Bruce und Daniele Bonelli geben sich Mühe. Doch noch nicht jedes Detail ist richtig. Bonelli schafft es manchmal nicht, den Fuß in Flexform zu bringen, bevor er ihn von vorn nach hinten zieht. Und wo alle anderen die Arme leicht gebeugt halten, streckt er sie stramm durch. Wenn die anderen vor einer Pose einatmen, atmet er aus. Man sieht das an der Körperhaltung und ihrer Veränderung. Bonelli ist ein sehr guter Ballerino, aber den komplizierten Neumeier-Stil hat er noch nicht so richtig drauf.

Neumeiers Stil ist viel schwerer zu tanzen, als man denkt. Hier Christopher Evans, Ida Stempelmann und Louis Musin (von li) in einem Pas de trois in der „Matthäus-Passion“ von Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West
Die Hamburger Regierenden scheinen es zwar nicht wissen zu wollen, aber Viele andere interessiert es: Der Neumeier-Stil ist definitiv schwer zu tanzen. Das lernt niemand von jetzt auf gleich. Was oft leicht und organisch wirkt, ist in der Koordination und Technik um ein Vielfaches schwieriger auszuführen als die vergleichbaren Stile von Kenneth MacMillan, John Cranko, Frederick Ashton, George Balanchine, Jerome Robbins, Yuri Grigorovich, Christopher Wheeldon oder Maurice Béjart. Er ist auch schwieriger zu tanzen als die Stile von Justin Peck, Demis Volpi oder Pina Bausch. Und viel schwieriger sogar als reine Klassik. Hinzu kommt dann noch der Ausdruck, von dem ich sagen würde, dass er das Wesentliche an Neumeiers Stil ist.
Bisher ist das Hamburg Ballett absolut weltführend in der Darbietung und Interpretation von Neumeier-Stücken. Aber diese Befähigung will gehegt und gepflegt sein. Es geht darum, eine bestimmte Richtung einer Kunstform lebendig zu erhalten. Warum hebt Hamburg dieses Gut, das weltweit nicht nur Experten zu schätzen wissen, nicht auf?
Warum stellt sich Demis Volpi nicht dieser Aufgabe? Weil er von außen kommt und zuvor nur gelegentlich mit Neumeiers Werken zu tun hatte? Warum arbeitet er sich dann nicht ein? Einfach nur beliebig etwas Neues zu zeigen, das irgendwo anders mal Erfolg hatte – das kann kein Ersatz für das originär in Hamburg gewachsene Paket an Neumeier-Tanzkompetenz sein.
Fehler sollten eingesehen und korrigiert werden. Der falsche Kurs sollte geändert werden. Und zwar, bevor die Sache bergab geht und viele Dinge und Künstler unwiderruflich verloren sind.
Die „Matthäus-Passion“ bietet viele verschiedene, individuell gestaltete Figuren. Sie wirken sowohl nachvollziehbar in ihren Emotionen und Handlungen als auch überraschend und manchmal verrätselt. Es ist eine große Kunst, die Neumeier perfekt beherrscht, aus Tänzern mit solchen Stücken Persönlichkeiten auf der Bühne zu machen. Da ist fast für jede und jeden eine Möglichkeit zur Identifikation dabei.

Er streckt die Arme und Hände barmend weit aus: Matias Oberlin in der Doppelrolle als Judas und Pilatus in John Neumeiers „Matthäus-Passion“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West
Sogar für den Judas in uns, der hier eine Doppelrolle mit dem römischen Präfekten und Richter über Jesus, Pontius Pilatus, ist. Matias Oberlin, auch er ein Zögling der Neumeier-Schule, tanzt die beiden Partien mit vollem Einsatz, aber ohne die Kontrolle aufzugeben. Da ist mit Judas der Egoistische, der Neider, der Heimtückische, der von 30 Silberlingen Verführte, der sich nach seiner Schandtat selbst erhängt. Als Pontius Pilatus hingegen muss Oberlin die Macht verkörpern und tut das mit kraftvollen, weit gespreizten Fingern.
Es zeichnet geschulte Neumeier-Tänzer aus, dass sie nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ mehr können als andere. Das liegt vermutlich daran, dass der Neumeier-Stil die Technik optimal mit Inhalten verbindet.
Das ist was, das andere nicht haben – warum kämpft man nicht darum, es zu behalten?
Das Ensemble ist ebenfalls von Bedeutung, nicht nur die Solisten. Und es funktioniert fabelhaft. Die Tänzerinnen und Tänzerinnen stammen überwiegend aus der Schule, die man eigentlich gern John-Neumeier-Schule nennen würde, in Anlehnung an die John-Cranko-Schule in Stuttgart und vor allem auch, weil hier nicht irgendwelche Tänzer ausgebildet werden, sondern man Tanz speziell im Hinblick auf den Neumeier-Stil und die Neumeier-Werke leht. Hamburg, behalte das! Gib das nicht auf!
Auch die Ersten Solistinnen zeigen in jeder Vorstellung, was sie können – und sonst niemand so gut. So wie Maria Magdalena (sehr toll: Xue Lin) im erhaben-erotischen Pas de deux mit Jesus. Bei der Uraufführung tanzte noch der Jünger Johannes mit dieser Ikone. Man wollte damals nicht provozieren. Heute ist es kein Problem mehr, zuzugeben, dass Jesus auch ein Mann war. Man würde aber auch einen Paartanz mit Johannes goutieren, kein Problem.

Laura Cazzaniga (links vorne) und tänzerische Mitstreiterinnen (Anna Laudere neben ihr und im Anschnitt rechts: Niurka Moredo) in der „Matthäus-Passion“, auf der Aufzeichnung von 2006, die als DVD bei Arthaus Musik erschien. Videostill: Gisela Sonnenburg
Anna Laudere als Jesus‘ Mutter Maria ist umwerfend. In vielen Stücken von Neumeier verkörpert sie eine Mutter-Figur, aber diese hier ist von besonderer Art. Ihr Schmerz, als das Urteil der Kreuzigung verkündet wird, reißt einen mit. Ihre Leidensfähigkeit scheint fast übermenschlich. Große Anna!
Am Ende der „Matthäus-Passion“ hat sich die Menschheit zusammen gerottet, hat mit sich aufgeräumt, hält zusammen, geht synchron auf ein Bein, zieht das andere in eine Pose hoch – und hält gemeinsam die Balance. Hoffnung keimt in Ruhe, nicht in Hektik.
Mit weißen Kostümen, teils barfuß, teils in Turn-, teils in Spitzenschuhen, bietet dieses Ensemble zudem einen so festlichen Anblick, dass es der höchsten Feiertagszeit des Christentums wahrhaft würdig ist.
2026 aber wird es nur Oper zu Ostern in Hamburg geben. Kein Ballett. Soll das wirklich Fortschritt sein?
Man wird so Vieles vermissen. Wie die Tänzerinnen und Tänzer mit ihren Körpern beten, durch die Ausübung ihrer Kunst zu sakraler Musik. Wie sie einem die Sinne öffnen. Wie sie die Seele beleben durch ihren Tanz. Wie sie selbst auch mit sich kämpfen und ins Reine kommen. Jedes Mal. Vorführung für Vorführung.
Wie etwa die Jünger in der „Matthäus-Passion“ von der Bühne in die Gänge im Parkett rennen. Wie sie nachdenklich auf den Stufen und an der Rampe sitzen. Wie sie mit sich und ihrem Glauben tänzerisch ringen. Wie sie schließlich in kleinen oder großen Gruppen Halt finden. Wie dennoch Gewalt unter den Menschen ausbricht. Wie sich diese gegen Jesus richtet. Wie er schließlich die Herzen und Gemüter bewegt. Welche Kraft hat dieses Ensemble!

Solisten und Ensemble zusammen in der „Matthäus-Passion“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West
Was wäre wohl, wenn das Hamburg Ballett streikt und mehr Neumeier-Arbeiten verlangt, also das, wofür es überwiegend ausgebildet wurde? Was wäre, wenn die beiden Fördervereine vom Hamburg Ballett ebenfalls diesen Kurswechsel hin zu mehr Pflege und mehr Aufführungen der Neumeier-Werke verlangen? Was wäre, wenn es 2026 wieder ein sakrales Ballett von John Neumeier in Hamburg zu Ostern zu sehen gibt? Ja, das wäre schön.
P.S. Und vielleicht wird es sogar eine Rettung geben: Wenn das Hamburger Kammerballett von Edvin Revazov 2026 eine sakrale Neumeier-Arbeit irgendwo nahe der Elbe oder Alster aufführen darf.
Gisela Sonnenburg