Schmähbriefe gefällig? Alexandr Trusch vom Hamburg Ballett schrieb ebenso wie eine empörte Tänzermutter an den Kultursenator Carsten Brosda

"Ein Sommernachtstraum" von John Neumeier jetzt auch als DVD und BluRay

Alexandr Trusch als Philostrat in „Ein Sommernachtstraum“ von John Neumeier beim Hamburg Ballett. Sein Brief an Dr. Carsten Brosda kam ohne Rosen aus. Foto: Kiran West

Dr. Carsten Brosda, langjähriger Kultursenator der Hansestadt Hamburg, bekommt zurzeit viel Post. In den Augen der örtlichen Ballettfans: wichtige Post. Allerdings ist es keine Fanpost, es sind auch keine Bittgesuche, es sind vielmehr fast Schmähbriefe, und zwar nicht bezüglich Brosda, sondern in Ballettangelegenheiten. Erst schrieb dem Senator die empörte Mutter eines Tänzers vom Hamburg Ballett, weil sie sich um das Niveau der Truppe und vielleicht auch um die Karriere ihres Sohnes Sorgen macht. Mit diesem Kummer ist sie sicher nicht allein. Der Brief verpuffte allerdings mehr, als dass er eine Tanzrevolution bewirkte. Die Absenderin war dafür vermutlich auch nicht prominent genug. Jetzt aber traf Brosda ein Schreiben von ganz anderem Kaliber: anwaltlich abgesegnet und dennoch voller Anwürfe, formuliert es den großen Unwillen des Starballerinos Alexandr Trusch, der kürzlich von sich aus beim neuen Intendanten des Hamburg Ballett, Demis Volpi, gekündigt hat.

Mangelnde Transparenz, mangelnder Respekt, mangelhaftes Niveau werden darin beklagt und als typisch für die neue Ära beim Hamburg Ballett genannt. Von einem toxischen Arbeitsklima ist die Rede. Mehr als die Hälfte der Tänzerinnen und Tänzer der renommierten Compagnie haben das unterschrieben.

Volpi wird vorgeworfen, sich nicht genügend um „seine“ Truppe zu kümmern. Er und sein Team seien außerdem nicht genügend professionell. Die hohe Qualität, die das Hamburg Ballett berühmt machte, stehe so auf dem Spiel, schlimmer  noch: Sie sei schon am Schwinden.

Nun kann man das abtun. Man kann vermuten, dass Alexandr Trusch, 35, nicht mehr ganz jung und von daher als Tänzer naturgemäß frustriert sei. Die mehr als 30 Tänzerinnen und Tänzer vom Hamburg Ballett, die seinen Brandbrief mit unterzeichneten, hätten demnach vor allem Angst vor einer Kündigung in den kommenden Jahren.

"Slow Burn" beim Hamburg Ballett

Nicht flexibel genug? Das Ensemble vom Hamburg Ballett in „Slow Burn“ von Aszure Barton zelebriert die Power der Frauen. Foto: Kiran West

Auch den anderen Solisten und der einen Solistin, die in Hamburg kündigten, könnte man vorwerfen, sie seien einfach nicht flexibel genug. Denn jetzt, nachdem John Neumeier nach 51 Jahren Chefdasein beim Hamburg Ballett, die Führung abgab, wehe nun mal ein anderer Wind am Haus, und wer immer nur Neumeier tanzen wolle, sei damit schlichtweg zu altmodisch.

So einfach kann man es sich aber nicht machen. Tatsächlich stehen die Stücke von John Neumeier nicht nur ganz oben auf der weltweiten Balletterfolgsliste.

Sie haben auch eine unvergleichliche Qualität, eine unvergleichlich dichte Form-Inhalts-Beziehung, eine unvergleichliche Wirkung.

Menschen, die gerade ein Neumeier-Stück sehen, haben zumeist strahlende Augen und hinterher entspannte, oft lächelnde Gesichtszüge.

Sind Neumeier-Ballette besser als Sex?

News von der Hamburgischen Staatsoper: Kühne will eine neue Oper in Hamburg

Diese Riege weißer Männer um Dr. Carsten Brosda (3. von li) verkündete kürzlich das avisierte Aus für die Staatsoper in Hamburg an ihrem angestammten, zentral gelegenen Platz. Foto: Gisela Sonnenburg

Es scheint so. Und das nicht nur in Hamburg. Woher diese spezifische Wirkung der Stücke von John Neumeier auf Menschen aus allen Kontinenten rührt, wurde noch nicht erforscht.

Aber es scheint, dass er in seinen besonders schwierig zu tanzenden, dennoch besonders leicht erscheinenden Stücken alle Tugenden des Balletts und des Tanzes allgemein auf den Punkt bringt.

Nur sehr wenige Kulturinteressenten können mit Neumeiers choreografischem Stil nichts anfangen. Eine so große Anziehungskraft von Ballett ist allerdings, zumal im Westen der Welt, ein seltenes Phänomen. Denn zumeist gelten  Ballett und anderer Bühnentanz als Orchideenkünste. Nur Eingeweihte kennen, schätzen und lieben sie, heißt es.

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Von John Neumeier wiederum werden sowohl die Insider als auch eher ballettfernes Publikum rasch begeistert. Ich kenne einen alteingesessenen Hanseaten, dem das derart unheimlich war, dass er vermutete, es würden Gückshormone bei Neumeier-Aufführungen in den Zuschauersaal geleitet.

Tatsächlich haben wir bei Neumeier nie Hysterie oder Derbheit im Publikum beobachtet, sondern immer nur feinfühliges Frohlocken. Das ist schon was Tolles, auch aus Politikersicht übrigens, denn ein derart beglücktes Publikum wird kaum eine Revolution anzetteln.

Wieviele Briefe die Hamburger Kulturbehörde nun noch zu diesem Thema bekommen wird, ist ungewiss. Dass sie sich jedoch neu positionieren muss und nicht mehr einfach nur behaupten kann, es sei normal, wenn Startänzer von sich aus kündigen, liegt jetzt auf der Hand.

Demis Volpi und seine erste Ballett-Werkstatt

Damals schien alles so einfach… Demis Volpi zu Beginn seiner ersten Ballett-Werkstatt zum Start der laufenden Saison beim Hamburg Ballett. Jan Peter Gehrckens vom ndr filmte Volpi. Videostill vom ndr: Gisela Sonnenburg

Demis Volpi hat die Schwere seines Amts unterschätzt. Mit weniger als zehn Neumeier-Stücken pro Saison wird er den Hunger des Publikums und auch den der Tänzer:innen auf Neumeier-Kunst eher nicht befriedigen.

Volpi aber braucht deren Motivation, um seine eigenen Arbeiten und auch die noch anderer Choreografen in Hamburg überhaupt gut zu verkaufen.

Wir wünschen ihm dabei viel Erfolg. Und einen Kultursenator, der ihm dabei behilflich ist, ohne unterdrückerisch zu agieren.
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

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