Seit März 22 wartet man darauf, dass Tanzschöpfer den Krieg auf die Bühne bringen. Aber all die jungen Choreografinnen und Choreografen ließen nichts aus dieser Richtung von sich hören. Zu brisant, zu prekär, zu diffizil – niemand traute sich. Jetzt kommt ein Altmeister und macht vor, wie es geht. Dabei hatte John Neumeier sich das Thema der h-moll-Messe von Johann Sebastian Bach mit dem Zusatz „Dona Nobis Pacem“ („Gib uns Frieden“) tatsächlich schon im letzten Jahr für diese Spielzeit ausgesucht. Auf der long list seiner Themen stand sie sogar schon seit vielen Jahren. Sein neu kreiertes Stück aber, gestern vom Hamburg Ballett in der Hamburgischen Staatsoper unter großem Jubel mit Standing ovations uraufgeführt, legt den Finger in eine schmerzende Wunde. Und ist nicht immer Krieg? Die Frage ist nur, wo. Eine wirklich friedliche Welt ist noch immer eine Utopie. Darum geht es in Neumeiers Stück. Dabei zerfällt der Abend „Dona Nobis Pacem“ in zwei Teile: in einen modernen, zappeligen, dutzendweise Soldaten und Kindersoldaten auf die Bühne bringenden ersten Teil – inklusive einer Hiroshima-Sentenz – und in einen spirituellen, fröhlichen, ästhetischen Gebetstanz mit hochkarätigen Pas de deux, mit Anklängen an die „Matthäus-Passion“ und mit beziehungsreichen Ensemble-Formationen im zweiten Teil. Damit knüpft das Stück, so zeitgenössisch es teilweise auch wirkt, an die romantische Ballett-Tradition seit „Giselle“ an: der erste Akt ist dem Diesseits, der zweite dem Übersinnlichen gewidmet.
Scharen weiß gekleideter Engel bevölkern dann die Bühne, knien am Ende vor uns und halten den rechten Arm auf halber Höhe hoch, mit eingeknicktem Ellenbogen, die Handinnenfläche nach oben gerichtet. Eine zugleich gebende und nehmende Geste. Mit diesem Schlussbild, an Frieden und Glückseligkeit, an Harmonie auch zwischen Kunst und Publikum mahnend, entlässt uns John Neumeier in die Winternacht. Hoffnung hat er gesät, aber Zweifel auch, dort, wo sie berechtigt sind.
Zu Beginn läuft der junge Tänzer Louis Musin über die Bühne, im Kostüm eines Soldaten, und er scheint erschöpft und desorientiert. Links am Außenpfeiler sinkt er nieder.
Erst jetzt kommt der Dirigent Holger Speck, der das von ihm gegründete Ensemble Resonanz dirigiert. Der für den Dirigenten übliche Applaus brandet auf und zerschneidet so die soeben erst begonnene Vorstellung. Das ist natürlich Absicht. Auch später wird vorsätzlich auf unübliche Weise in den Tanzablauf eingegriffen: Wenn die Musiker:innen mittendrin lauthals ihre Instrumente stimmen.
Wo wir gerade bei der Musik sind: Das Vocalensemble Rastatt übernimmt die Chorgesänge in diesem ungewöhnlichen Gesamtkunstwerk, und die Solist:innen Marie Sophie Pollak (Sopran), Sophie Harmsen (Sopran), Benno Schachtner (ein hervorragender Countertenor), Julian Prégardien (Tenor) und Konstantin Ingenpass (Bass) beglücken mit ihren erlesenen Arien.
Choreografie, Bühnenbild, Licht und Kostüme kommen aus einer, aus der bewährten Hand von John Neumeier. Und der Tänzer, der nicht zum ersten Mal sein Alter ego auf der Bühne verkörpert, ist der hochbegabte Körperdarsteller Aleix Martínez, dessen Vielseitigkeit immer wieder erstaunen macht.
„Choreografische Episoden, inspiriert von Johann Sebastian Bachs Messe in h-moll“ nennt John Neumeier das Werk im Untertitel. Denn dem formalen Prinzip nach handelt es sich um eine Collage, streng genommen um zwei Collagen. Die einzelnen Szenen haben indes den Wert von getanzten Pretiosen.
Jogger, die die Bühne kreuzen, als wären sie dem Central Park oder dem Tiergarten, Planten un Blomen und dem Englischen Garten entsprungen, stehen für den Alltag. Die Reise in die Spiritualität ist indes zugleich die innere Lebensreise des Choreografen selbst.
Aleix Martínez, der schon in „Beethoven-Projekt I“ und „Beethoven-Projekt II“ für eine Ikone des schöpferischen Menschen stand, betritt in einem weißen Blouson und mit einem hellen Koffer als „ER“ die Bühne.
Er könnte ein Flüchtender sein, oder auch ein Gestrauchelter, der – traumatisiert und unterdrückt – auf der Suche nach einem neuen Anfang ist.
Obdachlose aus ehemals guten Verhältnissen werden ja in naher Zukunft gar nicht mal so selten sein in dieser Zeit – insofern ist Neumeier mal wieder top up to date.
Eine Schlüsselpose für diesen „ER“ ist das Stehen auf einem Bein, während er sich mit einer Hand selbst den Mund zuhält: Dieser Mann hat keine Hoffnung, dass ihm das Sagen der Wahrheit vergoldet wird.
Aber sein Lebenswille ist ungebrochen, und seine Tanzwut, die sich in schier jeder nur möglichen Bewegung äußert, kann nur von einem Bravourballerino wie Aleix Martínez so überzeugend dargestellt werden.
Ein Fotograf im „Press“-Shirt (Lennard Giesenberg) interessiert sich sowohl für den fast ersterbenden Soldaten als auch für diesen fulminant sich ausdrückenden Kofferflüchtling. Wenn der Koffer aufklappt, fallen Schwarz-weiß-Fotos heraus: Erinnerungen eines Lebens.
Die Flucht hat einen markanten Hintergrund: Krieg.
Gegen die Harmonien der Bach-Musik wird auf der Bühne gestrampelt, marschiert, gezappelt. Manchmal gibt auch die Stille den Ton an. Dieser erste Teil ist düster und bedrückend, und nichts anderes ist seine Absicht.
Mehr als ein Dutzend männliche Tänzer und 13 männliche Ballettschüler stapfen in schweren Uniformen einher, zappeln, fallen, bleiben liegen. Stehen wieder auf, formieren Gruppen und Reihen, fallen wieder.
Fünf weiß gekleidete Engelspaare, fünf Geistliche in Fantasie-Ordenskleidung, fünf schwarz gekleidete Witwen und fünf junge Frauen bilden die Gegenpole. Sie tragen das Wahre, den Frieden, in die Szenen – und müssen doch darunter leiden, der Gewalt unterlegen zu sein und nicht auf die Soldaten einwirken zu können.
Dass es in vielen Staaten auch weibliche Soldaten gibt, hat Neumeier noch nicht realisiert. Von den Folterungen, die heutzutage an Kriegsgefangenen möglich sind, erfahren wir hier nichts. Und auch, um den Atombombenhorror fasslich zu machen, sieht Neumeier in die Geschichte zurück und lässt Filmszenen aus Hiroshima einblenden.
Alessandro Frola tanzt dazu expressiv und fast nackt hinter einer Gaze-Wand, die zugleich als Leinwand dient.
Gemeint ist der Krieg als solches, den Neumeier in einer abstrahierten Form auf die Bühne bringt. Die erst wartenden, Briefe lesenden Frauen, die dann trauern und in der Bibel lesen, könnten sowohl aus dem letzten als auch aus diesem Jahrhundert stammen.
Die Geistlichen hingegen scheinen aus einer zukünftigen Sphäre zu entstammen und auch einer zukünftigen Religion. Ihre Gewänder erinnern sowohl an altägyptische Schürzen als auch an buddhistische Fähnchen. Albert Kriemler, der Designer von AKRIS, mag hier Pate gestanden haben – und tatsächlich dankt Neumeier seinem Freund Kriemler für die Unterstützung.
Gewidmet ist dieses Stück Lebens-Werk Neumeiers allerdings Günter Jena, der in Leipzig geborene jahrelange Kirchenmusikdirektor von St. Michaelis in Hamburg, der Neumeier einst ermunterte, die „Matthäus-Passion“ von Bach zu vertanzen – und der ihn immer wieder bat, sich doch auch der h-moll-Messe zu widmen.
So kam das Stück von Neumeiers Liste. Bach schrieb seine h-moll-Messe (BWV 232) übrigens als Abschluss seiner monumentalen Chorwerke, begann sie aber als kleine kurfürstliche Auftragsarbeit. 1733 begonnen, eben nur als Missa aus Kyrie und Gloria, hat Bach sie später zur Missa solemnis ausgeweitet. Die Version von 1748/49 gilt als vollendet. Aber es war ein langer Weg dorthin.
Vielleicht musste das Stück deshalb jahre- und jahrzehntelang in Neumeier reifen. Und es soll ja fortan jahrzehntelang verständlich und aktuell sein, so wie die anderen Neumeier-Tänze auch.
So erspart uns der Choreograf Plattitüden wie die ukrainische oder russische Fahne, auch wenn ein Lichtschacht im Bühnenbild nach hinten in einen Schützengraben mit Stacheldraht führt.
Welcher Krieg hier auf der Bühne zu sehen ist und aus welcher Perspektive, liegt aber im Auge des Betrachters.
Denn Neumeiers tänzerischer Ruf nach Frieden umfasst auch scheinbar friedliche Zeiten.
Nun denken wohl alle zunächst mal an Russland und die Ukraine, auch an die Nato und die USA.
Aber der Tanz deutet den Krieg tiefer.
Wenn man den Krieg der Reichen gegen die Armen, den wir gerade im eigenen Land erleben, mitbedenkt, so tragen die Soldaten unserer Zeit sowieso nicht immer militärische Uniformen. Auf der Bühne sind die Zerstörer kenntlich gemacht. Im realen Leben sind sie oft unauffällig.
Und auch, wenn man den Krieg auf der Bühne nicht metaphorisch deuten will, sondern als Gewaltorgie von Menschen an Menschen sieht, so bleibt die Entscheidung, wer hier gegen wen auf der Bühne Krieg führt, beim Zuschauenden.
Dass aber im Grunde die mentale Welt zählt, daran lässt der bewährte Schamane Neumeier keinen Zweifel. Die Engel und die Geistlichen werden auf der Szenerie überdauern – und tatsächlich obsiegen ihre frohen Gemüter, ihre quicklebendigen Tanzschritte.
Der zweite Teil, nach der Pause beginnend, bringt ihren Traum vom Frieden.
Wenn hier frohgemut gesprungen wird, wähnt man sich fast im „Weihnachtsoratorium I – VI“ von John Neumeier. Auch die dunkelroten Kostüme der jungen Damen erinnern daran.
Aber der Pressefotograf, der hier auch ein Sprecher ist, und zwar dank Lennard Giesenberg ein sehr interessanter, holt uns ins Thema „Krieg und Frieden“ zurück. Den Text zum Popsong „Imagine“ von John Lennon sagt er wie ein Gebet auf, an den Frieden in jedweder Hinsicht erinnernd.
Der Song von 1971 entspricht nun weitestgehend den kommunistischen Forderungen nach Pazifismus und Besitzlosigkeit, aber auch nach Staatenentgrenzung und Ideologielosigkeit: „Stell dir vor, alle Menschen teilen sich die ganze Welt.“
Es entbehrt nicht ganz der Ironie, einen solchen Song dem oftmals ziemlich finanzpotenten Premierenpublikum in einem Opernhaus vorzusetzen. Ob die Zuschauenden wirklich gern ihr ganzes Hab und Gut mit allen anderen auf der Welt teilen wollen? Wahrscheinlich glauben sie, sie täten das schon, denn schließlich ist Geld bei den Reichen ja am besten aufgehoben (in deren Meinung).
Aber Lennard Giesenberg mimt den Mahner und Rufer mit einer solchen Ruhe und Eindringlichkeit, dass man ihm die nostalgische Träumer-Rolle abnimmt. „You may say I’m a dreamer…“ Giesenberg erinnert dabei tatsächlich an den jungen Ivan Liska, einen der prägenden Neumeier-Tänzer der ersten Hamburger Generation.
Manche der Formationen, die getanzt werden, erinnert hingegen an „Age of Anxiety“ („Das Zeitalter der Angst“), also an Neumeiers Abrechnung mit der Egozentrik als größtem Problem der US-amerikanischen Gesellschaft. Zum dramatischen Gedicht von W. H. Auden schuf Neumeier 1979 dieses Werk, um die Auswirkungen des alltäglichen Lifestyles in den USA auf einzelne – unglückliche – Individuen zu zeigen.
Bekanntlich waren es auch die Amerikaner, die bisher als einzige Nation Atombomben auf Menschen geworfen haben.
Macht der westliche Lebensstil seelisch kalt, kaputt und aggressiv? So lautet vielleicht nicht Neumeiers Kernbotschaft, aber diese Erkenntnis schwingt mit.
Die Gegenwelt dazu ist der Traum vom Paradies. Hier wird in Harmonie und mit Euphorie getanzt, und die Bilderwelten, die Neumeier dazu entwirft, rühren an.
Da wechselt das lilablaue Licht, das für Neumeiers Spätwerk kennzeichnend ist, mit goldorangener warmer Lichtfarbe.
Tänzerisch jagt jetzt ein Höhepunkt den nächsten, das Ganze steigert sich kontinuierlich weiter – man gerät in diesen typischen Sog eines Balletts, das dramaturgisch auch ohne Handlung funktioniert.
Grandios moderne Soli des sich nach wie vor quälenden, stetig auf Reisen sich befindenden „ER“ (also Aleix Martínez) wechseln mit neoklassisch inspirierten Pas de deux.
Ida Praetorius und Jacopo Bellussi tanzen den ersten großen Paartanz in diesem zweiten Teil, und es ist eine Wohltat, diesen Traum von menschlichem Miteinander zu erleben.
Alexandr Trusch tanzt ein Solo, so köstlich und lustvoll hingerissen von Glaubenskraft und Heilsgewissheit, wie es nur John Neumeier zu kreieren vermag.
Madoka Sugai hingegen, die mit geschmeidigen Sprüngen und Posen vereinnahmt, stellt in einer Szene auch – wie in „Hamlet 21“ von John Neumeier – eine Gebärende dar, und ausgerechnet ER kommt zum Vorschein.
Zum „Agnus Dei“ dann bezaubern Xue Lin in einem hellblauen Leotard und Christopher Evans, der nach wie vor zu den „Geistlichen“ gehört. Erneut entfaltet Neumeiers Kraft beim Pas de deux die höchste Blüte.
Jogger in genderfreundlicher, weißer Uni-Kleidung gibt es auch hier.
Und zum Finale „Dona Nobis Pacem“ finden alle in harmonische Synchronizität, halten eine Hand vor den Mund, zum Zeichen des Schweigens, stehen auf einem Bein, falten die Hände zum schützenden Spitzdach über sich – und gehen langsam, einer nach dem anderen, auf die Knie, um zur Schlusspose mit halb erhobenem Arm zu finden.
Es ist die richtige Zeit für diese magische Fürbitte.
Das hat sogar Bundeskanzler Olaf Scholz erkannt, der der Uraufführung beiwohnte und auf dem Premierenempfang eine Lobeshymne auf John Neumeier zum Besten gab. In der Tat hatten wir auch schon festgestellt, dass es für Hamburg ein großen Glück ist, dass Neumeier 1973 dort den Job als Ballettdirektor annahm und die Bedeutung vom Hamburg Ballett seither kontinuierlich ausbaute.
Für John Neumeier ist mit dieser Premiere nun wieder eine seiner selbst gesetzten großen Aufgaben erfüllt, wie er es sagt. Dafür und für den Mut, es mit Themen aufzunehmen, die vielen anderen Künstlern viel zu heiß sind, sei ihm gedankt.
Gisela Sonnenburg