Poetik bis in die Fingerspitzen Mit „Dances at a Gathering“ schuf Jerome Robbins einen Meilenstein der Tanzgeschichte – das Hamburg Ballett tanzt es in seinen „Chopin Dances“ nur noch einmal: heute abend!

"Chopin Dances" zum letzten und schönsten Mal

Aleix Martínez, Christopher Evans, Karen Azatyan, Carolina Agüero, Alexandre Riabko, Madoka Sugai, Mayo Arii, Yaiza Coll (auf dem Foto, statt Silvia Azzoni), Giorgia Giani und Jacopo Bellussi vom Hamburg Ballett in der Schlusspose von „Dances at a Gathering“ im Abend „Chopin Dances“. Man bekommt eine Gänsehaut, weil es so schön ist! Foto: Kiran West

Wenn ein Ballett duften könnte, dann würde „Dances at a Gathering“ von Jerome Robbins nach Vanille und Waldmeister, nach Erdbeeren, Blaubeeren und Aprikosen riechen. Wie verführerisch! Und dann und wann hätte man das Gefühl, einen frisch gepflückten Apfel in der Hand zu halten. Was für ein Odem steigt da auf – als schlendere man bei Sonnenaufgang über eine mit prall gereiftem Obst behangene Plantage. Das Hamburg Ballett tanzt dieses zeitlose Stück Ballettpoesie nur noch einmal, und zwar heute abend im Rahmen der „Chopin Dances“ – wer es noch irgendwie schaffen kann zu kommen, sollte sich diese Vorstellung nicht entgehen lassen. John Neumeier höchstselbst würdigte das zeitlose Ballett von Robbins als sehr bedeutend – und dazu sehr schön!

Kaum zu glauben, dass Robbins dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiern könnte, denn seine Tänze zur Musik von Frédéric Chopin wirken so frisch und spannend wie eh und je.

Hochkaräter verlieren ihren Glanz halt nie!

Den Auftakt tanzt Alexandre Riabko, der selbst ein wandelndes Hochkarat ist, als sei dieses Solo eines Heimkehrers genau für ihn kreiert. Michal Bialk am Flügel intoniert passgerecht.

"Chopin Dances" zum letzten und schönsten Mal

Alexandre Riabko: ein Held der weiten Sprünge – und ein Hochkarat an Ausdruck. Nicht verpassen, heute zum letzten Mal in „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett! Foto: Kiran West

Da stimmt akustisch jede Note – und optisch jedes Timing, bei jedem Schritt, jedem Lächeln, jedem verwegenen Blick, jedem rasant-raffinierten Sprung – und derer gibt es so viele, dass man sich stellenweise in einer modernen Version von „Le Corsaire“ zu befinden glaubt.

Die „Tänze bei einem Treffen“, so der Titel übersetzt, referieren ja auf das Gefühl, an den Ort seiner Kindheit zurückzukommen. Zärtlichkeit und Wehmut, vor allem aber Wiedersehensfreude und Neugierde durchwirken darum die Auftritte der fünf Ballerinen und fünf Ballerinos. Riabko macht den Anfang des Reigens, er ist der „Mann in Braun“, der den Boden, die heimatliche Mutter Erde, streichelt und damit seine Liebe zu diesem Ort, aber auch zu seinen eigenen Erinnerungen, bekennt.

Welche Kraft er daraus bezieht! Munter und anmutig, mit den schönsten Fuß- und Beinstreckungen wiegt er sich zu den Klängen der Musik in der Luft. Wie ein Luftgeist, so schwerelos! Und doch so männlich, wie es nur ein Irdischer sein kann. Seine Grands jetés gleichen Versuchen, den Himmel zu erreichen. Oder ist er bereits in paradiesische Sphären entrückt?

Bezeichnet das Ballett ein Ankommen der Menschheit im Garten Eden?

Diese Frage kann man sich bei jeder der achtzehn einzelnen Sentenzen erneut stellen. Und immer wieder kommt man zu dem Ergebnis: Es handelt sich hier sowohl um einen glücklich-sinnenhaften Ort als auch um einen glückhaft-ätherischen.

Vielleicht deshalb – weil „Dances at a Gathering“ das Sinnliche und das Überirdische so musterhaft vereint – bezeichnet John Neumeier, der geniale Hamburger Ballettintendant, es als eines der wichtigsten Ballette des 20. Jahrhunderts.

Zudem bewegt sich das 1969 in New York uraufgeführte Stück im Reigen der abstrakten Themenballette, mit denen noch Marius Petipa Ende des 19. Jahrhunderts zaghaft begonnen hat – und dabei jeden Pas d’action, jede Bühnenhandlung, zum illusorischen Drama hochjubelte – und die mit Mikhail Fokines „Les Sylphides1909 ihre erste prägnante Ausformung fanden. Auch „Les Sylphides“ sind einerseits ganz sinnlich, andererseits sehr ätherisch zu deuten. Es gibt eine Aufnahme mit dem Titel „Chopiniana“ aus dem Kirov-Ballett (dem heutigen Mariinsky-Theater in Sankt Petersburg), die Ende der 80er Jahre entstand – und sie zeigt die schwebenden Tänze zu den Klängen Chopins als poetischen Totentanz, als jenseitigen Triumph der Fantasie.

Doch Jerome Robbins geht mit seinen Chopin-Fantasien in eine ganz andere Richtung. Ihm, der mit Musicals wie der „West Side Story“ am Broadway populäre Erfolge verbuchen konnte, ging es beim zeitgenössischen Ballett um Vielschichtigkeit.

So ist keine der zahlreichen Gesten und Beziehungstänze in „Dances at a Gathering“ nur eindimensional zu begreifen. Es geht um die Vereinbarkeit der Gegensätze, um die Lebbarkeit einer Utopie.

Menschen begegnen sich, die sich lange nicht gesehen haben.

Im Tanz, in ihren Körpern, auch in ihren Blicken, spiegeln sich ihre Lebenserfahrungen und Erwartungen aneinander.

Da wird getändelt und gescherzt, geflirtet und sich gegenseitig die Referenz erwiesen.

Carolina Agüero als „Frau in Pink“ schafft es, zugleich frisch und lebensfroh zu tanzen als auch eine große emotionale Tiefe und Verbundenheit durch ihre Bewegungen auszudrücken.

"Chopin Dances" zum letzten und schönsten Mal

Carolina Agüero und Karen Azatyan – das Paartanzen auch in verschiedenen Formationen gehört zu den Spezialitäten des Hamburg Balletts. So viel Harmonie zwischen den Partnern ist selten! Foto aus den „Chopin Dances“: Kiran West

Wenn sie auf den Zehenspitzen tanzt, so ist es, als sei das ihre ganz natürliche Form der Fortbewegung: schwebend leicht, punktgenau präzise, souverän und doch spielerisch.

Ihre sanftmütige, dennoch energische Eleganz – in den Soli-Passagen wie als Partnerin im Paartanz – übertrifft alle Anforderungen, die man ans klassisch-moderne Ballett stellt. Agüero, die übrigens auch lebhaft als John Neumeiers „Giselle“ in der Erinnerung ist, vereint diese beiden Seiten von Tanz, das Sinnlich-Erotische und das Spirituell-Ätherische, musterhaft.

Da ist keine Bewegung zufällig und doch keine gekünstelt. Jede Facette des Gefühlslebens wird hier genau austariert und wirkt dennoch natürlich.

Und wenn Carolina Agüero nach vielen akrobatisch-anspruchsvollen Manövern in den Pas de deux das Folkloristische zitieren darf, dann vibriert es um sie! Mit vorgeschobenen Schultern, aufgestellter Fußsohle und eingestützten Händen geht es voran, voll Power, voller Elan – und auch voll von Verschmitztheit und funkelnder Lust.

Was für ein Ausbund an Weiblichkeit!

"Chopin Dances" zum letzten und schönsten Mal

Carolina Agüero und Karen Azatyan beim sanften Pas de deux, der voller Raffinessen und Schnelligkeiten steckt! Nix wie hin – zu den „Chopin Dances“ beim Hamburg Ballett. Foto: Kiran West

Wie der „Mann in Braun“ scheint sie aber auch eine starke innere Beziehung zu diesem geheimnisvollen Ort des Tanzes zu haben, von dem bis zum Ende nicht ganz klar wird, in welcher Welt man sich befindet.

Aber Eines steht fest: Die Natur spielt hier eine übergeordnete Rolle. Und zwar nicht die dunkle, wilde, bestialische Natur, sondern die sommerlich-besänftigte, die festlich-idyllische, die einen auf dem Land bei Feierlichkeiten erwartet. Oder eben bei einem morgendlichen Spaziergang auf taufrischen Wiesen zwischen Apfelbäumen.

So ist auch der Pas de deux von Carolina Agüero und Karen Azatyan, dem „Mann in Violett“, nichts anderes als eine Hommage an das Leben, an die Natur, an die Harmonie der organischen Energie.

Azatyan nimmt sein oft leidenschaftlich starkes Temperament hier ein wenig zurück, er zügelt es zu Gunsten seiner lyrischen Ader, die er sehr wohl auch hat. So sind er und Agüero ein passendes Paar, und als sie sich das durch den Bewegungswind am Körper klebende Kleidchen mit feiner Geste fast unmerklich glattstreicht, da ist es, als würde ihm genau das besonders gefallen.

Aber sie bleiben nicht zusammen. Niemand bleibt hier fest mit jemandem zusammen. Es ist wie auf einer Party, auf der man vielen Menschen von sich Mitteilung machen möchte und wo man mit jedem gern spricht, der einen gerade anlacht.

Giorgia Giani in hellem Puderblau („Frau in Blau“) gesellt sich dazu. Was für ein Sonnenschein!

Ihre zarten Gliedmaße hüpfen und laufen wieselflink durchs Feld, die schönen Füße strecken sich bei jeder Gelegenheit, zugleich wirkt sie aber auch kindhaft-scheu und ein wenig schüchtern. Sehr liebreizend.

Mit Carolina Agüero bildet sie ein glücklich sich findendes Frauenduo, es ist eine Mädchenfreundschaft wie aus einem Traumbuch für Teenager. Sie trösten einander und üben den Paartanz, sie hören einander zu und tanzen mit einem Jungen zu dritt – und dabei ist niemand ein drittes Rad am Wagen. Im Gegenteil: Anscheinend kann man zu dritt noch mehr Spaß haben als zu zweit.

Mit Christopher Evans und („Mann in Grün“) und Mayo Arii (Frau in Mauve“) füllt dann ein anderes Paar, eine andere Stimmung die Bühne.

Der schlanke Christopher Evans und die zarte Mayo Arii bilden ein weiteres Paar in den „Chopin Dances“: verliebt und leicht wie in einem Sommerurlaub ist ihr Tanz. Foto: Kiran West

Sie sind ganz unbefangen miteinander, scheinen sich schon lange zu kennen. Vertrauensvoll umfängt er ihre Taille, und rückhaltlos lässt sie sich in außerordentlich edle Posen bugsieren.

Hui, da fliegen die Beine hoch!

Es sind erst zehn Minuten vergangen, und doch fühlt man sich bereits wie im Paradies, mitgerissen und fasziniert durch diese große Könnerschaft der Solisten vom Hamburg Ballett.

Und noch eine andere „Farbe“, eine andere Anmutung, stürmt auf die Bühne: Aleix Martínez und Madoka Sugai bilden ein scherzhaft sich kabbelndes, außerordentlich witzig-brillantes Paar. Es tut so gut zu sehen, wie sich mit Martínez ein junger Tänzer zu seiner Blüte entwickelt und von Vorstellung zu Vorstellung an Ausdruck immer noch dazu gewinnt.

Hier ist er der verliebte, neckende, ausgelassene Verlobte, ein Junge, der weiß, was er will, und dem seine Dame keinen Wunsch abschlagen kann. Madoka Sugai ergänzt dieses Flair als Personifikation der Fröhlichkeit und des

Martínez springt zudem die wohl schönsten Échapés, die man sich nur denken kann. Welche Geradlinigkeit, welcher Esprit! Welche Linien, vom neckisch mittanzenden Kopf über die weich fließenden Finger bis in die exakt gebogenen Fußspitzen!

Aleix Martínez, ohnehin hoch talentiert, hat sich in den letzten Monaten nochmals enorm entwickelt: Seine Performance in „Chopin Dances“ ist unbedingt sehenswert. Unbedingt! Foto: Kiran West

Und wenn Aleix Martínez seine Partnerin auf den Schultern trägt und sie ihren schlanken Körper um seinen Nacken wickelt, dann hofft man, dass er der nächste Armand in John Neumeiers „Die Kameliendame“ sein wird – er ist eigentlich wie gemacht für die Partie, der er jetzt auch von der Ausdruckskraft her gewachsen scheint.

Die männliche Schönheit im Ballett ist ja nur noch durch den weiblichen Charme der Ballerinen zu toppen.

Das gilt auch für Jacopo Bellussi, der als nachwachsender Jungstar und als „Mann in Blau“ zu jeder der femmes fatales hier passt. Er bringt eine wunderbare Lebendigkeit auf die Bühne, wirkt dabei unverstellt und echt, wiewohl seine Linien und Bewegungen von großer Disziplin ebenso wie von überzeugender Leidenschaft zeugen.

Es ist eben möglich, Jerome Robbins’ Utopie zu realisieren, es handelt sich um die Einheit von Natur und Kultur, von Körper und Geist, von Authentizität und Regulierung.

Was anderes sollte Zivilisation sein?

Insofern sind die „Dances at a Gathering“ ein Hohelied auf die Befähigung des Menschen, sich Gesetze zu erschaffen, die Sinn machen – und um die zu kämpfen es sich in jeder Sekunde des Lebens lohnt.

Die neue Saison startet – aber nicht ohne Dancewear Central! Und hier geht es zu den neuen schönen Tanz-Outfits. Tanzlehrer bekommen im Monat September 2018 sogar wieder einen prima Rabatt von zehn Prozent. Viel Spaß beim Stöbern! Faksimile: Anzeige

Das beweist auch Carolina Agüero einmal mehr, wenn sie mit Alexandre Riabko den Pas de deux tanzt. Sie erinnert an Marcia Haydée, wenn zunächst ein humorvolles Allegro mit Riabko tanzt, um dann in ein festliches Andante mit sehr fein gesprungenen Cabrioles überzugehen. Dann trippelt sie, von ihm mit Schreiten begleitet, in diese neue Beziehung hinein – und besiegelt sie mit einem formvollendeten, seelenerfüllten Cambré in seinen Armen. Ach, wie schön!

Aus dieser Festtagspose wird ein Prüfen, ob man sich auch im Alltag noch was zu sagen hat: Scherzhaft paradieren die beiden Partner dazu im Takt der Musik vis-à-vis, es ist ein kleiner Geschlechterkampf um die Dominanz, bis sich der männliche Riabko die feminine Agüero schnappt – und auf und davon mit sich trägt.

Während des Stücks wird aber gerade an dieser Stelle deutlich, dass es nicht nur um den gezeigten gegenwärtigen Moment geht, sondern auch um eine Metaphorik. Die Beziehungen hier könnten auch langjährige Ehen sein, die verkürzt und verknappt, auf ihre Essenzen reduziert und solchermaßen auf den Punkt gebracht dargestellt sind.

Auch die beiden Soli von Silvia Azzoni als „Frau in Grün“ sind als lebenslange Suche nach dem richtigen Partner zu verstehen.

Keck und frivol, hoppelt und springt sie über die Bühne, zeigt sich erst dem einen, dann dem anderen Kavalier als sehr ansprechend. Aber keiner passt so richtig zu ihr, denn dem Einen ist sie vielleicht nicht mondän genügend, dem Anderen schlicht zu oberflächlich. Oder Mann hat gerade was ganz Anderes im Sinn. So wird sie schnell und ungerecht verlassen, obwohl sie sich doch so anstrengt zu gefallen!

Für freiberufliche journalistische Projekte wie das Ballett-Journal, das Sie gerade lesen, gibt es keinerlei staatliche Förderung in Deutschland – und dennoch machen sie sehr viel Arbeit. Wenn Sie das Ballett-Journal gut finden, bitte ich Sie hiermit um einen freiwilligen Bonus. Damit es weiter gehen kann! Im Impressum erfahren Sie mehr über dieses transparente Projekt, das über 500 Beiträge für Sie bereit hält. Danke.

Na gut, denkt sich die „Frau in Grün“ – und hopst auf das Anmutigste weiter ihren Monolog fort, springt und tanzt munter auf Zehenspitzen, denn das Leben kann auch als Single durchaus schön sein. Diese „Frau in Grün“ lässt sich von der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen nicht frustrieren. Bewundernswert!

Es ist Jerome Robbins absolut anzuerkennen, dass er solchermaßen auf seine Weise der Emanzipation der Frau Tribut zollte. Tatsächlich haben es die emanzipierten Frauen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft viel schwerer, den passenden Deckel zu finden (und zu behalten) als Männer, die sich notfalls immer irgendein junges oder älteres Ding „kaufen“ können.

Erst, wenn die Geschlechter wirklich gleichberechtigt sind und es keinerlei soziale Nachteile mehr haben wird, Männlein, Weiblein oder Anderes zu sein, wird die Utopie von Robbins konkret real werden.

Ob aus dem eigenen oder aus Nachbars Garten: Frisch gepflückte Äpfel duften nach Sommer und mehr… Foto: Gisela Sonnenburg

Aber seine „Dances at a Gathering“ zeigen, dass das möglich ist – nur Mut, liebe Mitmenschen!

Und wenn Sie einen reifen Apfel sehen: Vergessen Sie nicht, ihn zu pflücken!
Gisela Sonnenburg

www.hamburgballett.de

 

ballett journal