Ein Teller Buntes „Waves and Circles“ vereint beim Bayerischen Staatsballett drei Filetstücke, die nichts miteinander zu tun haben: „Blake Works I“ von William Forsythe, „Megahertz“ von Emma Portner und „Boléro“ von Maurice Béjart

"Waves and Circles" beim Bayerischen Staatsballett

Keck und spritzig: Violetta Keller mit Ensemble in „Blake Works I“ von William Forsythe aus „Waves and Circles“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Nicholas MacKay

Es ist anscheinend nicht für alle Ballettchefs leicht, Programme mit Konzept zu erstellen. Laurent Hilaire, der beim Bayerischen Staatsballett bisher alles in allem eine gute Figur machte, stöpselt nun drei Stücke zu einem Abend zusammen, die so gar nicht zusammen passen. Das ist schade, denn jedes der drei Einzelstücke könnte im Zentrum eines thematisch aufregenden Programms stehen. So aber folgen Werke aufeinander, als habe jemand einen bunten Eintopf angerührt, aber nicht vollendet. Es bleibt beim Teller Buntes. Der Titel lässt das fast schon erahnen: „Waves and Circles“ („Wellen und Kreise“) bezieht sich offenkundig keineswegs auf klassische geometrische Muster, wie sie etwa bei Marius Petipa, Lew Iwanow, Frederick Ashton und George Balanchine oder auch in der Revue getanzt werden. Gemeint ist in München wohl vielmehr das Auf und Ab der Leidenschaften, wie es in jedem Ballett eine Rolle spielen könnte, und wie es oft mit runden Bewegungs- und Bühnenformen auftaucht. Eines allerdings ist sicher: Die Sensation der gestrigen Premiere war Osiel Gouneo in gleich zwei Stücken und vor allem mit dem Solopart im „Boléro“ von Maurice Béjart. Mal abgesehen davon, dass dieses Béjartsche Meisterwerk von 1961 nicht altert, zeigt Gouneo ungebremst seine starke Persönlichkeit als Verführer. Ein Hochgenuss, mitreißend und die Seelen öffnend! Da kommen die technisch virtuosen „Blake Works I“ von William Forsythe (2016) und das experimentelle „Megahertz“ von Emma Portner (eine Uraufführung) nicht so ganz mit. Trotzdem geht man voller Anregungen, Lust und guter Laune aus dem Abend – und das ist schon viel, zumal in Zeiten, in denen gefühlt allüberall der Sparstift an die Kultur bis zum Gehtnichtmehr angesetzt wird.

Der Abend beginnt mit dem bravourösen, manchmal auch witzigen, aber oft auch kaltherzigen Stil von William Forsythe. Dessen „Blake Works I“ entstanden für das Ballett der Pariser Opéra, und 2021 waren sie Bestandteil eines ebenfalls bunten Mix-Programms beim Stuttgarter Ballett. 2024 wurde das Stück in Stuttgart mit einem Auszug aus dem klassischen Hochkaräter „La Bayadère“ kombiniert. Im selben Jahr zeigte das Staatsballett Berlin diese lose Folge von choreografierten Popsongs des britischen Sängers James Blake, zusammen mit zwei anderen Stücken von Forsythe.

Jetzt müssen sich auch die Münchner diese elegische Abfolge von Pas de deux und Gruppentänzen ansehen, aber neu ist sie in Deutschland nicht.

Klassizistische, schnittig verkantete Posen wechseln mit spritzigen modernen Passagen. Carollina Bastos und Jakob Feyferlik, Elvina Ibraimova und Robin Strona und auch Soren Sakadales sind dabei echte Hingucker.

Die gefühlsbetonten Songs von James Blake, einem britischen Popstar, laufen dazu als akustische Soße im Hintergrund und werden leider manchmal von der Choreografie glattweg ignoriert.

"William Forsythe" beim Staatsballett Berlin

Haruka Sassa verleiht klassischen, neoklassischen und auch Stücken von William Forsythe ihre Anmut. Hier in „Blake Works I“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Yan Revazov

Es ist halt nicht das stärkste Stück von Forsythe, jenem US-amerikanischen Altmeister der Avantgarde, der vor allem in Deutschland auf den Spielplänen steht. Das Bild aufwertend sind jedoch die nostalgisch-schlichten,  himmelblauen, munteren Kostümchen von Forsythe und Dorothee Merg, die auch gut in die abstrakten Stücken von John Neumeier oder Kenneth MacMillan aus den 70er-Jahren passen würden.

Nach diesem Appetizer folgt mit „Megahertz“ eine interessante, aber nicht wirklich überzeugende neue choreografische Handschrift. Von Einsamkeit geprägte Frauenfantasien in Tanzsocken mischen sich mit ästhetischen Reigen, die entfernt an die Tanzkunst von Nacho Duato erinnern. Die Leitfrage des Stücks dennoch: Bin ich Frau  genug?

"Waves and Circles" beim Bayerischen Staatsballett

„Megahertz“ zeigt die Irrungen und Wirrungen einer allein gelassenen Frau – Selbstzweifel und Flucht in die Fantasie wechseln sich zu Musik aus dem Computer ab. So zu erleben in „Waves and Circles“ beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Nicholas MacKay

Emma Portner, 31, stammt aus Kanada und schuf eine ihrer ersten Arbeiten für den Popstar Justin Bieber. Welcher Art der gute Draht in dessen Sphäre war, ist nicht bekannt. Man darf private Kontakte in die Welt der Superschönen und Superreichen wittern. Und in die der Trends: Laut Wikipedia wurde Portners Ehemann, ein Schauspieler, nach wenigen Jahren Ehe mit ihr trans – was erst zu gegenseitigen Glückwünschen und dann zur Scheidung führte. Im Ballettbusiness tritt Emma Portner modisch als kleines Schulmädchen mit Internatssexappeal auf. Routiniert spricht sie davon, dass Tänzer ihre Choreografie „verkaufen“ müssen. So sieht es denn auch aus.

In „Megahertz“ – der Titel ist einem 23-minütigen Synthie-Popstück mit eingesprochenem Text von Paddy McAloon entlehnt – tanzt Carollina Bastos eine allein gelassene Frau, die, der patriarchalen Doktrin gemäß, langsam irre wird. Ohne Kerl kein Glück? Diese arme verwirrte Irre hier schüttelt solistisch ihr langes Lockenhaar nach vorn, wurschtelt mit der Hand darin herum, tanzt mit dem Haar vornüber in eckigen Bewegungen – und vermag es trotzdem nicht, Fantasie und Realität zu unterscheiden. Die Männer, mit denen sie sich umgibt, sind allesamt nur Figuren ihrer inneren Vorstellungskraft.

Immerhin macht sie einer davon besonders scharf: Er tritt mit Krone als König auf, als hypermoderner Traumprinz sozusagen, und er bezaubert auch das Publikum mit seinen geschmeidig-fließenden Bewegungen. In  der Premierenbesetzung ist es Osiel Gouneo, der hier ein Stück rettet, das eigentlich gar nicht gerettet werden will. Denn Trendsetting ist schon fast alles hier!

"Waves and Circles" beim Bayerischen Staatsballett

Carollina Bastos und Jakob Feyferlik im Traum-Pas-de-deux in „Megahertz“ von Emma Portner beim Bayerischen Staatsballett. Foto: Nicholas MacKay

Die Claqueure, die es in so vielen Theaterpremieren in Deutschland gibt, trappeln und johlen und applaudieren. Aber es hilft nichts: Wer selbst nicht auch reich und verwöhnt ist, wird diesen Pseudoproblemen von Einsamkeit und Männerwahn der jungen Protagonistin nicht allzu viel abgewinnen können.

Frauen stehen heute doch etwas anders da als in den 60er-Jahren, und falls man wissen will, wie sich eine depressive Hausfrau fühlt, liest man Sylvia Plath. Oder man sieht sich die „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ von Pedro Almodóvar an. Da hat man dann noch deutlich mehr Intelligenz anbei.

Nun soll das künftige Publikum das nicht beherzigen und also in der ersten Pause gehen und fürs dritte Stück zurückkommen. Es gibt zwischen Stück zwei und Stück drei nämlich nur eine kurze Umbaupause. Die Türen zum Wandelgang bleiben geschlossen. Dabei hätte man nach dem aufreibenden Portner-Stück einen großen Schluck Wasser oder auch Schampus gut vertragen.

Aber dann kommt endlich der Knüller des Abends: Osiel Gouneo und das Herrenensemble vom Bayerischen Staatsballett brillieren im rhythmisch drängenden „Boléro“ von Béjart, zur gleichnamigen Musik von Maurice Ravel und ganz so, wie es sich gehört. Die tänzerische Solopartie auf einem großen, kreisrunden Tisch wird bekanntlich entweder von einer Tänzerin oder von einem Tänzer dargeboten, und sie verhalf schon den Karrieren von Maja Plisetzkaja und Polina Semionova, von Roberto Bolle und Friedemann Vogel zu neuem Glanz. Jetzt also reiht sich Osiel Gouneo in diese Tradition ein – und begeistert mit erotisch-gelenkigen, dennoch knallhart akkurat ausgeführten Bewegungen. Wow, da sprühen die Funken!

"Waves and Circles" beim Bayerischen Staatsballett

Osiel Gouneo mit Herrenensemble im „Boléro“ von Maurice Béjart – zum Niederknien schön und derzeit beim Bayerischen Staatsballett zu sehen. Foto: Nicholas MacKay

Das Solo beginnt mit der Umsetzung der Melodie durch den Tanz mit nur einer Hand, dann nur einem Arm – und es endet mit dem völligen tänzerischen Rausch der Hauptperson inklusive Zusammenbruch. Was für ein Tanz von Leben und Tod eines Individuums.

Indirekt angefeuert wird die zentrale Gestalt durch das ohne Kontakt zum Solisten um den Tisch herum herum tanzende Männerensemble. Im subtilen Zusammenspiel der beiden Partner – Solist und Gruppe – ohne direkten Blickkontakt heizt sich die Atmosphäre auf, sie wird brisant und noch brisanter. Es ist spannender als jedes Fußballspiel. Unbedingt sehenswert, auch und gerade in München!

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Am 25. Dezember 25 wird übrigens die begabte bayerische Newcomerin Elisabeth Tonev in der Hauptpartie debütieren, und im Januar 26 die in München ausgebildete und in Helsinki zur Ersten Solistin avancierte Violetta Keller. Am 1. Februar 26 tanzt dann der famose Jakob Feyferlik die Partie – darauf darf man besonders gespannt sein.

Patrick Lange dirigiert zudem das Bayerische Staatsorchester nebst Soloflöte mit Feingefühl und Schmackes gleichermaßen.

Unterstützt vom Bayerischen Junior Ballett leistet das Bayerische Staatsballett mit seinem Béjart, zumal mit der vierfachen Werkinterpretation dieses Geniestreichs, wirklich Gutes. Schade nur, dass die beiden anderen Stücke des Abends damit nicht harmonieren.
Gisela Sonnenburg / Anonymous

www.bayerisches-staatsballett.de

 

 

 

 

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