Gleich mehrere Überraschungen warten auf die Online-Ballett-Gemeinde. Zum Einen wird das Dortmund Ballett am 17. April 2021 online eine Premiere zeigen, die Marijn Rademaker, den ehemals bewunderten Stuttgarter Ballerino, als Choreografen vorstellt: mit „Verklärte Nacht“ von Arnold Schönberg wählte er keine leichte, dafür aber nach wie vor moderne Musik. Zum Anderen widmet sich das Stuttgarter Ballett bereits am 1. April 2021 (bis zum 5. April) ebenfalls einer Online-Premiere, mit der Kombination des modernen Tanzes mit klassischer Musik. Der Event, der im Schauspielhaus und nicht in der Oper in Stuttgart aufgenommen wird, heißt etwas einfallslos „Beethoven-Ballette“. Darin zu sehen: die „Große Fuge“ von Hans van Manen, sein sehr beliebtes „Adagio Hammerklavier“ sowie eine Uraufführung von Mauro Bigonzetti zu drei Beethoven-Sonaten. Beethoven ist eben nicht erst seit seinem Jubiläum 2020 tänzerisch außerordentlich geeignet. Ganz große Klassik hingegen – mit ebenfalls sehr inspirierender Musik von Alexander Glasunov – zeigt derweil das Wiener Staatsballett ab übermorgen online im Stream: erstens zeigt es erneut seinen wunderbaren „Schwanensee“ in der Inszenierung von Rudolf Nurejev (am 17. März 21) und zweitens (am 19. März 21) die im Mittelalter spielende „Raymonda“, ebenfalls in Nurejevs Inszenierung und ebenfalls mit der lyrischen Megaballerina Olga Esina in der weiblichen Hauptrolle.
Zum Wiener „Schwanensee“ findet man bereits Berichte und ein Interview mit der schönen Esina hier im Ballett-Journal. Tschaikowskys Bestseller wird in dieser Version immer wieder begeistern.
Zu „Raymonda“ hingegen sei gesagt, dass die aufgezeichnete Aufführung vom 13. März 2018 stammt – und außer Olga Esina in der Titelpartie darin auch Jacob Feyferlik als nobler Kreuzritter Jean de Brienne und Vladimir Shishov als Sarazenenfürst Abderachman brillieren.
Als Marius Petipa das Sujet wählte (es wurde 1898 in seiner Choreografie in Sankt Petersburg uraufgeführt), galt es keineswegs als ehrenrührig, sich die Kreuzzüge als historischen Hintergrund auszusuchen.
Spannend ist hier das Brennglas der Erfahrung aus Sicht einer jungen, auf die Liebe wartenden französischen Dame.
Raymonda feiert ihren letzten Geburtstag als Jungfrau, denn bald soll sie mit dem edlen Ritter Jean de Brienne vermählt werden. Doch während er auf einem Kreuzzug weilt und die Ehre des Abendlands so auf heute fragwürdige Weise zu mehren versucht, taucht auf dem Schloss in der Provence – wo Raymonda lebt – ein Sarazenenfürst namens Abderachman auf.
Dieser ist furios und männlich wie kein zweiter Kerl! Der Gegensatz zwischen dem zarten Weib im schulterfreien Tutu und dem rasanten Araber mit Turban und Puffhosen hat schon die Zeitgenossen Petipas fasziniert. Und auch jetzt ziehen sich die Gegensätze an, so verlockend ist der Pas de deux mit ihnen, von Raymonda im Traum fantasiert.
In der Urchoreografie kennt sie ihren Verlobten und tanzt auch mit ihm, bevor er in den Krieg zieht und später Abderachman in Raymondas Leben erscheint.
Nurejev aber hat das Libretto verändert und lässt Raymonda und Jean einander fremd sein. Entsprechend hat der „wilde“ Sarazene bei ihr gute Karten, denn er steht leibhaftig vor ihr, um sie werbend und ihr kostbare Juwelen offerierend und sie mit schönem Augenaufschlag becircend. Jean hingegen bleibt abstrakt und ist zunächst nur als Bildnis auf einem Gobelin präsent.
Eine Frau zwischen zwei Männern – das variiert den häufigen Liebeskonflikt im Ballett, in dem klassisch-romantischerweise ein Mann zwischen zwei Frauen steht. „Schwanensee“, „Giselle“, „La Bayadère“ und natürlich „La Sylphide“ (als erstes der großen klassisch-romantischen überlieferten Ballette) basieren auf dieser Konstellation.
Jetzt also ist es ein Mädchen, das sich bei der Partnerwahl zwischen zwei verschiedenen Temperamenten hin- und hergerissen fühlt!
Das Selbstbewusstsein der jungen Dame darf nicht zu gering sein, damit die Geschichte dramatisch wirkt.
Wer jetzt die Messlatte des Rassismus anlegen will, kann das ruhig tun. Aber sie wird nichts daran ändern, dass es auch heute noch verschiedene Menschen (und Männer) gibt, die verschiedene Reize und verschiedene Vor- und Nachteile haben.
Dass zur Entstehungszeit von „Raymonda“ der Araber als Angreifer aufs Liebesnest Raymondas gezeigt wird, während faktisch die christlichen Kreuzritter das mittelalterliche Jerusalem attackierten, gehört zu den historischen Fakten, die man als solche sehen sollte – und die man keineswegs mit dem Bild einer heilen Welt verwechseln darf.
Jedenfalls stößt Jean de Brienne gerade noch rechtzeitig dazu, um Raymonda aus den freundlichen, aber drängenden Fängen des Sarazenen zu befreien. Er hätte sie nämlich beinahe entführt.
Ein Kampf auf Leben und Tod der beiden Männer ist notwendig, um Raymonda eindeutig zur Braut von Jean zu machen.
Während der temperamentvolle Abderachman stirbt, feiern Raymonda und Jean ihre Liebe und auch gleich das groß angelegte Hochzeitsfest.
Sehenswert sind hier auch die Kleingruppentänze sowie die fantastischen Ensembleszenen, bis hin zum Großen Ungarischen Tanz.
Ob die beiden modernen Streams mit diesem Glanz des Mittelalters in Goldtutus und Federschmuck mithalten können?
Äpfel und Birnen zu vergleichen, ist nicht leicht, aber wir wollen mal die Vorzüge der Moderne in die Waagschale werfen.
Das Stuttgarter Ballett hat natürlich in der jüngeren Vergangenheit stets mit fabelhaften Tänzerinnen und Tänzern gepunktet, und das wird wohl auch dieses Mal nicht anders sein.
Hans van Manen schuf 1984 seine „Große Fuge“, Beethovens „Große Fuge B-Dur“ op. 133 zu Grunde legend.
Hehre Paare bilden sich hier, so sanft tanzend wie in einem Elysium des Edelmutes.
Die starke Rhythmik, die die Musik von Alexander Glasunov für „Raymonda“ auszeichnet, hat Beethovens Fuge zwar nicht zu bieten. Aber seine sinfonischen Harmonien und auch Dissonanzen in den Bässen sind absolut hörens- und dank van Manen auch sehenswert.
Auch sein weltberühmtes „Adagio Hammerklavier“, ebenfalls zu Beethoven-Musik, ist darum auch mit an Bord. Drei Paare geben sich hierin dem Schmelz der Musik hin, ohne dass sie damit die Welt retten können oder wollen. Aber sie tanzen eben sehr schön.
Was nun Mauro Bigonzetti zu den drei gewählten Beethoven-Sonaten kreiert, ist derzeit noch ein top secret – seien wir also einfach mal gespannt darauf. Der Choreograf verspricht etwas „Urmenschliches“ und meint außerdem, mit Beethoven solle man „das Hören neu lernen“. Nun ja.
Neu sehen muss man leider Tamas Detrich, Ballettintendant vom Stuttgarter Ballett, der sich hinreißen ließ, die kommende Online-Premiere ganz im Zeichen seines Sponsors zu präsentieren. Die Namen der Künstler scheinen da weniger wichtig.
Weiß auf Blau steht da als Untertitel zu „Beethoven-Ballette“ online: „präsentiert von Porsche.“
So etwas geht zu weit und überschreitet die Grenze zur Schleichwerbung.
Schließlich unterhält Porsche keineswegs das tägliche Training der Tänzerinnen und Tänzer, ihre Proben und den ganzen Bühnen- und Verwaltungsapparat. Sonst hieße es ja auch Porsche-Ballett.
Dennoch strotzt auch das Pressepaper nur so vor wiederholter Nennung des Sponsors, und auch Tamas Detrich selbst entblödet sich nicht, in seinem einzigen Zitat darin – statt die Kunst zu erklären – dem Sponsor namentlich zu danken.
Nur mal zur Kenntnis: Autos wie die von Porsche sorgen über die von ihnen verdreckte Luft für Herzinfarkte, Schlaganfälle und Umweltschäden. Außerdem für Unfalltote.
Es ist traurig, dass sich ein staatlich errichtetes und finanziertes Ballett rückhaltlos einer solchen Firma hingibt.
Hätte man es ohne Porsche tatsächlich nicht geschafft, eine Online-Premiere mit Rahmenprogramm auf die Beine zu bringen? Das wäre in der Tat nicht nur traurig, sondern auch fatal.
Sponsoring sollte aber das Gegenteil von dem sein, was Porsche macht.
Sponsoring sollte diskret und freundlich wirken, und es sollte sich dabei keineswegs um Schleichwerbung für Gesundheitsschäden und Umweltverschandelung handeln.
Was die Schwaben da betreiben, ist finsterstes Mittelalter des Sponsorings.
So gesehen freut man sich auf die Online-Premiere von Rademaker beim Ballett Dortmund am 17. April 21 umso mehr, auch wenn Marijn als Choreograf bisher kaum bekannt ist.
Die Sponsoren der Dortmunder Truppe von Xin Peng Wang sind übrigens auch namentlich bekannt, aber es kam noch nie vor, dass sie etwa eine Premierenankündigung derart dominiert hätten.
Schäm dich, Stuttgarter Ballett!
Gisela Sonnenburg