Er war gewiss kein Engel, und es ist nicht sicher, ob er heute einer ist. Aber mit seinem fantastischen choreografischen Werk wurde er unsterblich – und wer sich für Ballett ernsthaft interessiert, aber John Cranko nicht kennt, der hat die Tanzwelt glatt verpennt. Der in Südafrika geborene, in London geprägte Choreograf Cranko gilt als Meister des großen psychologisch aufgeladenen Handlungsdramas, er hatte aber auch für kleinere Themen- und Kurzballette ein glückliches Händchen. Nie war er oberflächlich, nie banal in seiner Kunst; diese konnte sowohl tragisch-dramatisch als auch munter-komödiantisch daher kommen. Und gerade die Nuancierungen lagen ihm so sehr! Dabei starb er (1973) im Alter von fast 46 Jahren, viel zu früh. Drei geniale abendfüllende Handlungsballette sowie immerhin rund 60 kürzere Stücke entstanden, überwiegend mit dem Stuttgarter Ballett, dem er seit den 60er Jahren das so genannte Stuttgarter Ballettwunder bescherte. Am 15. August 2017 würde John Cyril Cranko, wie er bürgerlich vollständig hieß, 90 Jahre alt werden… ob er wohl noch berufstätig wäre? Man weiß es nicht.
Seine fast gleichaltrige Choreologin, Georgette Tsinguirides, ist erst soeben im stolzen Alter von 89 Jahren (und nach 72 Jahren Arbeit fürs Stuttgarter Ballett) in den Ruhestand gewechselt (www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-georgette-tsinguirides/ ). Alles Gute!
Crankos ehemaliger WG-Gefährte und „Ururnachfolger“ als Stuttgarter Ballettchef, Reid Anderson, bereitet derweil die kommende Premiere zu Ehren des Doyens vor: Unter dem Titel „Cranko pur“ werden drei sonst eher selten gezeigte Juwelenstücke einstudiert.
Im September werden damit öffentliche Proben abgehalten, bis das Programm am Tag der deutschen Einheit, dem 3. Oktober 2017, zur Premiere kommen wird.
OH, 50 JAHRE „ONEGIN“!
Außerdem gibt es etwas später in Stuttgart eine glamouröse Serie von „Onegin“-Vorstellungen, die mit der Jubiläumsvorstellung am 27. Oktober 2017 – also genau 50 Jahre nach der Uraufführung der bis heute gültigen Zweitversion des Stücks – ihren Anfang nimmt.
Und auch das Bayerische Staatsballett in München, wo Cranko zeitweise parallel zu seinem Stuttgarter Amt ebenfalls Ballettdirektor war, ehrt John Cranko: mit dem so genannten „CrankoFest“, das aus je mehreren Vorstellungen von Crankos „Onegin“, „Romeo und Julia“ sowie „Der Widerspenstigen Zähmung“ besteht und darüber hinaus eine „Ballett Extra“-Veranstaltung mit Proben der Cranko-Stücke anbietet.
Allerdings fährt Münchens Ballettboss Igor Zelensky diese schönen Cranko-Abende erst im Februar 2018 auf – und da könnte er fast schon das nächste Ballettgenie befeiern, von dem das Bayerische Staatsballett Stücke im Repertoire hat, weil nämlich John Neumeier dann seinen 79. Geburtstag begehen wird. Da man nun allgemein die runden Zahlen mehr für Ehrungen liebt, wird die Neumeier-Hommage in München aber wohl für 2019 zu erwarten sein.
In Stuttgart konzentieren sich derweil zurzeit alle Cranko-Kräfte auf die beiden Hauptevents, „Cranko pur“ und „Onegin“.
Als Titelhelden für „Onegin“ werden der innig-männliche Jason Reilly und der verführerisch-elegante Friedemann Vogel brillieren – und sollte Reid Anderson noch den einen oder anderen Termin neu besetzen können, so sei ihm als Gast sein früherer Erster Solist Evan McKie anempfohlen. Der erhielt 2012 einen Preis für seine „Onegin“-Darstellung, und obwohl ich zumeist skeptisch bin, wenn sich so ein (niemals „objektives“) Karussell dreht, so ist McKie als Onegin doch eine Besonderheit.
Er tanzt heute beim National Ballet of Canada in Toronto, bei Karen Kain. Und hätte durchaus die Möglichkeit, in Stuttgart zu gastieren – zumal er vom Cranko-Stil stark geprägt ist.
So geschmeidig changierend, so offenkundig dialektisch – und zwar einerseits selbstverliebt, andererseits aber auch süchtig nach Liebe schmachtend – so ist McKies Onegin in meiner Erinnerung!
Zudem, und das hat nun nichts direkt mit tänzerischen Qualitäten zu tun, wohl aber mit Kreativität und Cranko-Connaissance, bastelte Evan McKie eine köstlich verspielte Website, auf der man sich im Testverfahren einer passenden Rolle in einem Cranko-Ballett zuordnen lassen kann.
Das macht nicht nur Tänzern Spaß! Wer’s noch nie getan hat, der suche sich nun flugs die Wahrheit über seine eigene Cranko-Identität auf www.crankocast.com heraus!
Besonders facettenreiche Charaktere finden sich ja bekanntlich in „Onegin“.
Und das Spiel weckt zugleich auch Erinnerungen, wie die an den leider gar nicht mehr als „Onegin“ zu habenden Wieslaw Dudek, der die Rolle vor seinem Bühnenabschied beim Staatsballett Berlin verkörperte, als sei sie für ihn geschaffen: www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-polina-semionova-onegin/.
Es ist nunmal ein unergründlich tiefes Stück, dieser „Onegin“, den Cranko erstmals im April 1965 uraufführte (als Flop, übrigens!), und den er dann zweieinhalb Jahre später in seiner überarbeiteten, jetzt bald 50-jährigen Version zum Superknüller schlechthin machte.
Bis heute haben nur sehr wenige moderne Ballette solchen Erfolg wie „Onegin“, sehr zurecht im übrigen (wie auch meine zahlreichen Interpretationsessays hier im Ballett-Journal hoffentlich belegen).
Stuttgart sah indes in den letzten 50 Jahren so viele atemberaubend schöne und aufregende „Onegin“-Titelhelden, dass man ein eigenes Spiel daraus machen könnte, sie alle aufzulisten.
Auch Gäste vom Bolshoi aus Moskau waren in Stuttgart schon im „Onegin“ zu bewundern (www.ballett-journal.de/ein-traumpaar-und-doch-ein-anti-paar/).
Die aktuellen Stuttgarter Principals Reilly und Vogel haben derweil selbstverständlich auch ihre Vorteile und Reize. Und sogar, wenn man sie schon mehrfach in „Onegin“ gesehen hat, lohnt sich der Vorstellungsbesuch unbedingt immer wieder…
Die leidenschaftliche Liebe zwischen Mann und Frau als ein unerreichbares, aber wie ein Fluch lebenslang anhaltendes Sujet – dieses Schicksal von Eugen Onegin und Tatjana Larina ist nun mal so modern, wie es sich Alexander Puschkin, nach dessen Versroman das Ballett entstand, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielleicht noch gar nicht hat denken können.
Doch wo Puschkin noch sarkastisch übertrieb, stärkt das Ballett von Cranko uns Liebenden den Rücken!
Meiner Meinung nach wäre es ja darum schon fast genug, wenn man immer wieder und immer wieder den „Onegin“ aufführen würde… er hat in manchen Compagnien den „Schwanensee“ schon fast abgelöst, und wer seine Lieblingssolisten seelenvoll und dennoch virtuos szenisch agieren sehen will, kann sie entweder als zynischer Onegin und als intelligente Tatjana ansehen oder – ebenfalls im „Onegin“ – auch als Olga und Lenski, welche hierin die lyrisch-glückselige, aber auch sentimental-melancholische Seite der Liebe verkörpern.
Unterschätzt wird zudem manchmal die Rolle des Fürsten Gremin, der als späterer Ehemann der Tatjana für ein gerüttelt Maß Ordnung in den Liebesdingen zu sorgen versucht. Er hat zwar nur einen großen Pas de deux sowie zwei Spielszenen – aber wenn ein Tänzer auf den Punkt kommen kann, so vermag er damit das ganze Panorama eines liebenswürdigen Gatten zu entfächern. Auch wenn dieser möglicherweise sogar seine Geheimnisse hat…
Der Aspekt mit Fragezeichen ist dabei, denn warum Gremin Tatjana allein lässt, als sie den Besuch ihrer Jugendliebe Onegin fürchtet, ist ungeklärt. Bemerkt Gremin ihre Ängste nicht? Oder will er etwa unbewusst, dass sie sich allein besiegt und solchermaßen dann zu ihm hält?
Oder, auch das ist denkbar, ist es ihm am Ende egal, ob sie fremdgehen wird? Wenn ja, aus welchen Gründen? Will Gremin manchmal seine Ruhe vor der sinnlich-lüsternen Gattin? Oder hat er selbst Spielwiesen fern des Ehebetts und erhofft sich Erleichterung bei deren Vertuschung, wenn auch die Angetraute einer anderen Neigung als der Gattenliebe frönt?
Tja, merkwürdig ist es schon, dass Gremin irgendwie nichts mitbekommt… ist Gremin am Ende schlicht zu naiv, um zu bemerken, mit welchen Blicken sein alter Kumpel Onegin seine Tatjana angiert…? Hält er es gar für komplett unmöglich, dass sie ihm und den ehelichen Werten untreu werden könnte?
Würde Gremin bei dem Gedanken lachen, dass Tatjana mit diesem edel verkommenen Dandy Onegin durchbrennen könnte? Hält er das für so unwahrscheinlich?
Wir hingegen wissen, dass nichts in „Onegin“ unmöglich ist… und genau darum raubt es uns den Schlaf, wenn wir kein Ticket für mindestens eine Vorstellung haben.
Bevor Ende Oktober der „Onegin“ anrollt, heißt es aber herauszufinden, was es mit den drei Stücken von „Cranko pur“ auf sich hat.
WER CRANKO NICHT KENNT, HAT DIE TANZWELT VERPENNT!
Zunächst mal ist festzustellen, dass bei „Cranko pur“ nicht der sonst oft zum Zuge kommende hervorragende Stuttgarter Ballettdirigent James Tuggle den Abend musikalisch leitet, sondern ein Gastkünstler: der jüngere estnische Dirigent Aivo Välja, der Jahrgang 1968 ist und sich sowohl beim Bayerischen Staatsballett in München als auch beim Finnischen Nationalballett in Helsinki bereits für Ballett als Orchesterleiter profilierte.
Zwei der drei Stücke wurden übrigens auch vor zehn Jahren zu Ehren Crankos in Stuttgart getanzt, und zwar im Programm „Cranko Moves 1“ zum 80. Geburtstag des Ballettwunderbegründers.
Vorab jedoch ist, nach Auszügen aus der gleichnamigen sinfonischen Musik von Antonio Vivaldi, das Tanzstück „L’Estro Armonico“ zu sehen.
Der Titel heißt, wie im Musikstück von 1711, übersetzt „Die harmonische Eingebung“ – und Cranko schuf das hübsche Ballettchen in der musikalischen Bearbeitung von Kurt-Heinz Stolze 1963.
Stolze ist übrigens auch die veränderte, mitreißend ballettös-modernisierte Tschaikowsky-Klangkulisse für „Onegin“ zu danken.
Und auch die immer noch neuartig anmutenden Orchestrierungen von Werken des Domenico Scarlatti für Crankos Werk „Der Widerspenstigen Zähmung“ stammen von Stolze.
Auch Stolze, der auf seine Art genialisch war, starb – leider durch Suizid – viel zu früh, im Jahr 1970 und also drei Jahre vor Cranko, der während eines Rückflugs aus den USA nach Europa einem Herzversagen erlag.
Es betrübt einen wirklich, wenn man bedenkt, was diese beiden Männer noch hätten schaffen und fürs Ballett bewirken können, hätten sie nur länger und gesünder gelebt!
Zumal John Cranko sich auch mit Themen wie dem KZ Auschwitz beschäftigte, und es ist anzunehmen, dass er in den letzten dreißig, vierzig Jahren längst sowohl ein bedeutendes Antifa-Ballett als auch ein bedeutendes Ballett zum Thema Naturschutz geschaffen hätte – etwas, das seit den 80er Jahren aussteht.
Die Befähigung, menschliche Erlebnisse, Erkenntnisse und Ereignisse sowohl packend als auch allgemein gültig tänzerisch zu formulieren, hatte Cranko wie nur sehr wenige. Und sein Interesse an der Gesellschaft war, ebenso wie seine Bildung und seine Kenntnis von dramaturgischen Vorgängen, von stetem Wissensdrang genährt. Beste Voraussetzungen für große Kunst!
Mit seinem choreografischen Stil schuf er zudem Brücken zwischen Alt und Neu, zwischen Klassik und Moderne – ohne die Tradition zu verraten oder der peinlichen Lächerlichkeit anheim zu geben. Wiewohl er durchaus mit allen Mitteln der Parodie, der Ironie und des schwarzen Humors umzugehen wusste, ha!
Und der doppelte Boden im metaphorischen Sinn, den jede Bühnenkunst benötigt, um mehr als nur Augenblicksseligkeit zu übermitteln, war sozusagen der Urgrund seiner Arbeit schlechthin. Einem Cranko musste man nicht (wie manchen heutigen Choreografen) erklären, was ein Symbol, eine Allegorie, eine Zeichenhaftigkeit ist – und er wusste auch, wo die Kunst als solche aufhört und anfangen würde, Kitsch zu werden!
Crankos gesundheitliche Schwachpunkte, nämlich der unmäßige Konsum von Alkohol, Tabletten und Zigaretten, machen ihn rückblickend zu einem traurigen und bedauernswerten Opfer der gerade auch im 20. Jahrhundert außerordentlich habgierigen Suchtmittelindustrie.
Man verdrängt es ja so gern, aber damals propagierten amerikanische Tabakkonzerne tatsächlich ungestraft, Zigaretten seien „gesund“ (!), und zwar ausgerechnet für den Hals-Rachen-Raum („T-Raum“, in welchem sie jedoch faktisch Krebs und andere Krankheiten erregen).
Naturwissenschaftler, die damals die Schädlichkeit des Rauchens erforschten, wurden von durch die Industrie gekauften Gegnern aus den eigenen Reihen Schlag um Schlag scheinbar widerlegt. Ein Teil der Menschen glaubte den Bestochenen.
Schlimme Zeiten!
Aber hat die Menschheit daraus gelernt? Werden schädliche Zusatzstoffe seither vom Verbraucher fern gehalten, wenigstens aus den Lebens- und Genussmitteln? Und wird vor den Risiken pharmazeutischer Produkte ausreichend gewarnt?
Jeder kennt die Antworten selbst.
Auch der Leistungsdruck in der Gesellschaft tut sein Übriges.
Und während man in anderen Branchen mittlerweile immer öfter von einer gesunden Work-Life-Balance spricht, herrscht im Ballett noch ungebremst der Glaube ans Öfter-Höher-Weiter-Schneller-Mehr um jeden Preis. Druck erzeugt aber immer weiteren Druck… auch Gegendruck!
Man kann darum nur ans Gewissen aller Beteiligten appellieren, hierüber mal nachzudenken.
Wahre Kunst sollte ohnehin so nachhaltig wirken, dass sie nicht von überkontrollierten Technikposen oder zigfachen Pirouetten abhängig ist.
Cranko wusste das – und stellte bei Castings oftmals jene ein, die eben nicht „perfekt“ wirkten. Sondern die Individualität und Sexappeal, Charakter und dramatische Gefühle ausstrahlten.
Ja, natürlich, die Feinheiten sollten stimmen, und wenn jemand ein Grand jeté auf der Bühne wagt, darf es auch hoch und sauber gesprungen sein.
Aber wir sollten den Künstlern stets einen Spielraum gönnen, in dem auch der Körper zu seinem Recht kommt! Auch das ein Glück-Wunsch, ganz unabhängig von irgendwelchen Jubiläen…
Ganz zu schweigen von all den heldenhaften Anekdoten, die jeder Ballettfan kennt und laut denen Ballerinen und Ballerinos noch mit starken Verletzungen weitertanzen. Welch falsches Ideal!
Ich selbst wurde mal Zeuge einer Probe, bei der sich eine Tänzerin den Fuß brach…
Sie schrie kurz auf vor Schmerz, um dann weiterzumachen, als sei nichts geschehen. Bei der Premiere einige Tage später tanzte sie dann allerdings nicht mit, sondern humpelte im Gips durch den Zuschauerraum. Tapfer war sie – aber wir sollten daran denken, dass Kunst von Menschen kommt und nicht von Robotern. Dafür muss ein menschliches Publikum auch immer Verständnis haben.
Verständnis und auch Kenntnisse erhöhen denn auch den Genuss von Kultur. Das gilt auch für die schöpferische Seite, und Cranko war einer jener Bildungsmagnate, denen man nie unterstellt hätte, ein bestimmtes Buch nicht gelesen zu haben.
Und auch in Sachen Tanzgeschichte war er fit, konnte Zitate wie Parodien wie Nachdichtung umsetzen.
Crankos „Eingebung“, also sein Ballett „L’Estro Armonico“, orientiert sich jedenfalls stärker als jedes andere seiner Stücke am Neoklassizismus des George Balanchine, der in den USA aus dem russisch-klassischen Ballett eine Basis für ein entschlacktes, stilistisch überformtes Klassikbild geschaffen hatte.
Balanchines „Concerto Barocco“ von 1948 stand jetzt bei Cranko offenkundig Pate – und Cranko hatte große Lust daran, seine choreografische Antwort zu geben.
Eine Solistin steht hier drei Solisten gegenüber, sechs Girls aus dem Corps fünf Jungs. Man sieht schon an dieser Aufzählung exemplarisch, dass es Cranko im abstrakten Ballett um knifflige Spannungsverhältnisse geht, die er auf ästhetische Weise zu lösen gedenkt.
Als Appetithappen und Auftakt für einen großen Abend ist diese Auffassung von Harmonie genau richtig!
Es folgt sodann „Brouillards“ („Nebel“) von 1970.
Die impressionistische Musik von Claude Debussy ist hier die Grundlage: ziselierte, feinfühlige Klavier-Préludes. John Cranko schuf dazu eine Montage aus einzelnen Mini-Dramen, die miteinander scheinbar rein gar nichts zu tun haben. Ihre thematische oder auch stilistische Verklammerung muss der Zuschauer gedanklich selbst leisten!
Ich zitiere jetzt mal als Assoziationshilfe die ins Deutsche übersetzten Untertitel der Einzelteile in „Brouillards“, von kurzen Beschreibungen des tänzerischen Geschehens begleitet.
„Nebel“: Exorbitante Hebungen und körperliche Ballungen illustrieren die Macht der Natur, adeln hier aber auch den Ensembletanz (was typisch für Cranko ist, der als wahrer Demokrat auch das „Volk“ stets brillieren ließ). „Das Tor zum Wein“: Ein Mädchen und drei Jungs flirten sich um Kopf und Kragen. „Die Feen sind exquisite Tänzerinnen“: Und sie tanzen hier Frauenfreundschaft, von sanfter Zärtlichkeit ebenso durchsetzt wie von aggressiver Rivalität.
„Segel“ ist ein harmonischer Paartanz mit synchron laufenden Passagen, geprägt von freundlichem Wind und hilfreichen Wellen, sozusagen. „General Lavine Eccentric (Cake Walk)“: Hier ist kein typischer „Kuchentanz“ schwarzer Sklaven gemeint, wie mit „Golliwogg’s Cake Walk“ in „Children’s Corner“ von Debussy, sondern eine freie Groteske, die von drei Clowns getanzt wird.
Man fühlt sich dabei an die Marionettenthematik, aber auch an Stummfilmgesten erinnert. „Heide“: Dieses Solo wurde bei der Uraufführung von Egon Madsen furios gestaltet, es beschreibt die Liebe eines Jungen zu einem auf der Parkbank schlafenden Mädchen (was an die Rahmenhandlung des späteren „Dornröschen“ von John Neumeier erinnert). Allerdings ist die im Pas seul bei Cranko geäußerte Liebe hier hinfällig, denn das erwachende Mädchen ist an ihrem Verehrer gar nicht interessiert. Ach, die Liebe!
Dafür bildet die nächste Szene eine Art Entschädigung, nämlich einen von erotischer Reife geprägten, höchst geschmeidig-anspielungsreichen Pas de deux von zwei Liebhabern: „Tote Blätter“ meint auch die tiefsinnige Herbststimmung des Lebens. Mann und Frau auf der Höhe ihrer Liebeslust…
Kontrast ist Trumpf, denn im kommenden Bild geht es um eine Parodie auf die britische Nationalhymne, die Cranko mit einem bis ins Grab mit Schirm, Charme und Melone ausgestattetem Gentleman illustriert: „Hommage à Pickwick Esq.“ nannte Debussy sein satirisches Kleinod.
Die „Schritte im Schnee“ zeigen dann eine junge Frau, die sich zwischen zwei Männern nicht entscheiden kann. „Nebel“ schließt den Kreis zum Anfang hin – und lässt wieder das Ensemble prachtvoll auftanzen.
Und die thematische Verklammerung?
Laut Cranko selbst geht es in den „Nebeln“ um die Vergänglichkeit von menschlichen Beziehungen. Und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass zwischen den Steps eine Menge Persönliches von John Cranko mit drinsteckt.
Birgit Keil, Susanne Hanke, Judith Reyn, Egon Madsen, Heinz Clauss und Richard Cragun reüssierten bei der Uraufführung.
Die Sache mit der nebelhaften Vergänglichkeit taugt aber auch als Sinnbild für die Verbindung der drei Einzelstücke von „Cranko pur“.
Liebe kommt und geht, Freundschaft kann sich wandeln, kann wachsen oder absterben, und auch die Beziehung eines Individuums zur Gesellschaft ist oftmals wechselhaften Wettern unterworfen. Wer gewinnt, wer steht gerade oben? Auch das ist nicht immer unveränderlich…
1965 choreografierte Cranko das jetzt als Schlussstück in „Cranko pur“ vorgestellte „Jeu de Cartes“ („Kartenspiel“), in dem es genau darum geht: Wer hat das große Glück, und wer geht leer aus?
Crankos „Jeu de Cartes“ ist aber noch viel mehr. Es ist zum Beispiel nach Meinung vieler Ballettomanen die gelungenste Umsetzung dieses Ballettstoffs, der auf der Musik von Igor Strawinsky von 1937 basiert.
Ein Kartenspiel als Gleichnis für den Verlauf des Lebens – das ist so sinnig-hintergründig wie auch operettenhaft-leicht, aber man muss es auch mit entsprechendem Impetus inszenieren!
Da George Balanchine die Erstvertanzung dieses Stücks in New York übernommen hatte, schließt das Stück in gewissem Sinn auch an das zu Beginn von „Cranko pur“ gezeigte „L’Estro Armonico“ an: Beide bezeugen die Auseinandersetzung John Crankos mit Balanchine.
Und wie in „Brouillards“ ist hier die Rolle von Egon Madsen bei der Uraufführung hervorzuheben: In der Rolle des Jokers triumphierte er als Pik-Dame en travestie – und parodierte zudem stets die dem Stück vorangestellten Ballette.
Ist das vordergründige Glück womöglich nicht der größte Triumph?
Mit Scherz, Satire und Parodie hat „Jeu de Cartes“ von Cranko ohnehin sehr viel zu tun!
Cranko parodiert hier Marius Petipa, während Strawinsky „La Valse“ von Maurice Ravel persifliert… eine ziemliche Gaudi!
Die putzmunter getanzte Pokerpartie in drei Runden hat zwar zudem ein Leitmotiv – das von Marschklängen begleitete Mischen der Karten zu Beginn der einzelnen Spiele – lässt ansonsten aber die individuellen Stärken der Solisten besonders gut zum Vorschein kommen.
Ein Schelm, wer da an Karikaturen irgendwelcher Obrigkeiten denkt!
Madsen, Birgit Keil, Maximo Barra (Molina), John Neumeier und Jan Stripling zählten zu den tänzerischen Koryphäen der Uraufführung.
Auf die neue Besetzung 2017 darf man aber auch gespannt sein!
Ohne die Exzellenzballerinen Alicia Amatriain und Elisa Badenes sollte dieser „Cranko pur“-Abend denn auch kaum über die Bühne gehen, und auf die ebenfalls fabelhaften Tänzerinnen Hyo-Jung Kang und Anna Osadcenko, auf Miriam Kacerova und Myriam Simon mit all ihrer Stilsicherheit und Grandezza muss und darf man hoffen.
Ich persönlich würde mir ja außerdem den wendigen, flexiblen, ausdrucksstarken Jason Reilly als Joker im „Jeu de Cartes“ wünschen, aber ob das vom Stuttgarter Leitungsteam erhört werden wird?
Abwarten, Spielchen spielen – und viel gesunden (Kräuter-) Tee trinken…
Oh, und fast hätte ich es vergessen: ab dem 15. August, 0 Uhr, schweben bitte die allerherzlichsten Glückwünsche hoch neunzig zu John Cranko – wo und wie und mit wem er sich auch immer gerade befindet!
Denn, sehr lieber John Cranko, Sie waren nicht nur in Ihrer choreografischen Kunst unersetzlich, sondern auch als ein Ballettchef, der Talenten – und nicht Tanzautomaten – ihre Chance gab. Dafür dankt Ihnen neben vielen anderen auch
Gisela Sonnenburg