Raum und Zeit mit Unendlichkeitsfaktor "La grande danza": Das italienische Aterballetto tanzt drei neue Stücke in Mailand – auf 3sat am 12. August 2017 zu sehen

Jiri Pokorny mit dem Aterballetto auf 3sat

Das Individuum und die Gruppe – das ist der Grundkonflikt in Jiri Pokornys Tanzstück „Words and Spaces“ mit dem Aterballetto, das 3sat zeigt. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

„Stell dir vor, da ist ein Ort… ein Ort… ein Ort…“ Moderne Lyrik kann schon etwas Enervierendes haben. Aber der Choreograf Jiri Pokorny wusste, was er tat, als er sich für die Geräuschcollage zu seinem Tanzstück „Words and Space“ den Text in Form eines Gedichts – auf Englisch – einfach selbst schrieb. Kombiniert mit einer barocken Händel-Arie im Falsett ergibt sich ein edler Klangteppich, auf dem sich die Tänzer vom italienischen Aterballetto virtuos der zeitgenössischen Bewegungssprache hingeben. 3sat ließ den dreiteiligen Abend, der mit Pokornys Werk eröffnet, im Juni im Piccolo Teatro in Mailand von dem versierten Regisseur Andreas Morell aufzeichnen.

Es ist übrigens das letzte Programm der einst – etwa mit Mauro Bigonzetti als Chef – sehr renommierten Tanztruppe aus Emilia Reggio, das sie im „Kleinen Theater“ in Mailand tanzt: Nach sechs Jahren endet dort die Kooperation, und insgesamt scheint es mit dem Aterballetto sowieso nicht gerade aufwärts zu gehen. Der Titel des Abends, „La grande danza“ („Der große Tanz“), klingt denn auch etwas überzogen.

Als sich das auf viele Gastspiele ausgelegte Ensemble 1979 losgelöst vom Opernbetrieb in der italienischen Provinz gründete, um den zeitgenössischen Tanz in ganz Italien und Europa bekannt zu machen, war das eine aufregende, auch noch seltene Angelegenheit. Aber mittlerweile ist die Konkurrenz auf diesem Gebiet riesig geworden, vielleicht auch übermächtig. Und die bei Aterballetto angeheuerten Choreografen sind nicht immer so gut, wie vom Haus aus gern behauptet wird.

Aber mit Jiri Pokorny hat man zweifellos einen guten Griff getan. Der 1981 in Prag geborene Tänzer und Choreograf wurde unter anderem im angesehenen Prager Konservatorium ausgebildet. Durch seine Zeit als Tänzer beim Nederlands Dans Theater (NDT) in Den Haag wuchs er langsam in die Rolle des Choreografen hinein.

Es geht, so sagt Pokorny, in seinem Stück „Words and Space“ („Worte und Raum“) um einen jungen Menschen, der sich nach etwas sehnt – und sich zugleich mit den verschiedenen, von ihm verinnerlichten Stimmen in seinem Gedächtnis auseinander setzen muss.

Da hört man Gemurmel, Geflüster, Lachen, einen Ton von bürgerlicher Behaglichkeit oder auch von städtischem Outdoor-Leben. Gitarrenklänge mit Renaissance-Anmutung leiten über zum Barock – und die Tänzer, in Hosen und Oberteile in Graublau gewandet, versuchen dazu, die Gegenwart plastisch zu zeigen.

Der junge Mann zeigt seinen Zeigefinger, will sich absetzen von der Gruppe, will einen eigenen Weg suchen.

Inwieweit das überhaupt möglich ist in einer Welt, in der angeblich alles schon mal dagewesen ist, erzeugt eine anschwellende Spannung, optisch wie akustisch.

Paare bilden sich, doch die Individuen bleiben auf sich selbst gestellt.

Wind kommt auf.

Die männliche Hauptperson gerät in einen Zauber, lässt sich von einer Truppe, die sich in Zeitlupe bewegt, mitreißen.

Jiri Pokorny mit dem Aterballetto auf 3sat

Es geht um die einfühlsame Geschichte eines jungen Mannes: „Words and Space“ von Jiri Pokorny mit dem Aterballetto. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Da ist eine Frau… und eine verzerrt-rückwärts abgespielte Flüsterstimme sowie ein tickendes Metronom setzen ein. Bis die Gruppe wie gesprengt auseinander fällt. Geht das Ganze dann von vorne los?

Raum und Zeit haben hier einen Unendlichkeitsfaktor, so scheint es – und das ist sowohl reizvoll und faszinierend, als es auch bedrängend und erdrückend wirkt. Eine Veränderung grundlegender Art scheint unabwendbar notwendig.

Der junge Mann, wieder allein, sammelt sich denn auch – und entledigt sich ohne Hast einfach seiner Kleider, wie einer lästigen Vergangenheit.

In der Unterhose schön, aber nicht nackt wirkend, schnipst er mit dem Finger – und der Tanz scheint jetzt ein Befreiungsakt.

Man muss allerdings Geduld mit dem Tänzer haben, denn nur langsam entwickelt sich sein neues Selbstverständnis, zur erhabenen Melodie der barocken Streicher mit Falsettarie.

Wie gut, dass unser Held dazu barfuß dasteht! Das scheint ihm die Sicherheit zu geben, auf solidem, nicht-feindlichen Boden verankert zu sein.

Martin Schläpfer und sein Abstieg

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In deutlichen Gesten und Schritten, in modern variiertem Marschieren auf dem Platz findet er zu sich: zu Klarheit, zu Stärke, zu Harmonie, zu einem neuen Selbstbewusstsein, das mit dem arroganten Geil-auf-Erfolg so vieler Selbstsuchender indes nichts zu tun hat. Sondern das sehr wohl um die eigenen Grenzen zu wissen scheint, wenn sich der Tänzer in zuckenden, gleichwohl fließenden Movements ergeht.

Am Ende ist er glücklich und frei – dank der Erfahrungen, die er machen und dank der Entscheidungen, die er fällen durfte.

Eine angenehme, hoffnungsfrohe, dennoch nicht kitschige Geschichte.

Die Prägung des Choreografen durch das NDT ist denn auch unübersehbar – und Pokornys Stück ist das Juwel des dreiteiligen Abends.

Hingegen vor allem „Narcissus“ von Giuseppe Spota, aber auch „Phoenix“ von Philippe Kratz (die beiden folgenden Stücke vom Aterballetto) deutlich mehr wollen, als sie können.

Jiri Pokorny mit dem Aterballetto auf 3sat

Am Ende steht die Befreiung: in „Words and Space“ von Jiri Pokorny beim Aterballetto. Videostill von 3sat: Gisela Sonnenburg

Im Falle von Spota würde man vielleicht sogar dazu raten wollen, den Beruf zu wechseln, denn die Verteilung von Tänzern im Raum und am Boden ist noch lange nicht mit einem hochkarätigen Schöpfungsakt von Tanz gleichzusetzen.

Kratz sollte sich derweil fragen, ob das Rasseln von Zimbeln schon genügt, um eine somnambule Atmosphäre zu kreieren, und ob tänzerisch ein unmotiviertes Hin und Her ausreicht, um „Tod und Leben“ zu symbolisieren. Sein Werk mutet an wie Trockenübungen für Situationen, aus denen irgendwann mal ein Tanzstück werden soll. Immerhin: Da ist Land in Sicht…
Gisela Sonnenburg

Samstag, 12. August 2017, 22.05 Uhr auf 3sat

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