Minutenlanger Applaus empfing die Hochkaräter, die sich im Ballettmekka Stuttgart am heutigen Samstagmittag vor Publikum auf der Bühne der Oper zum Thema „60 Jahre Stuttgarter Ballett“ eingefunden hatten. Es waren: Tamas Detrich, Absolvent der John-Cranko-Schule, später Erster Solist, dann Ballettmeister beim Stuttgarter Ballett und sein aktueller Intendant; Reid Anderson, in Kanada geboren, Detrichs Vorgänger als Intendant, der eine legendäre Ära hinterließ; Marcia Haydée, eine der bedeutendsten Ballerinen des 20. Jahrhunderts weltweit, Muse für Cranko, Neumeier, MacMillan, zudem erfahren als Choreografin und Ballettdirektorin. Durch das Gespräch führte Vivien Arnold, die Chefdramaturgin und Leiterin der Presseabteilung vom Stuttgarter Ballett.
Ihre erste Frage bei diesem Ballettgespräch: Was waren die absoluten Höhepunkte der letzten 60 Jahre?
Marcia Haydée zögert nicht mit der Antwort: „Es war so fantastisch, Cranko in diesem Theater zu haben!“ Sie führt das aus, beschreibt, wie schnell und energiegeladen er gearbeitet hat – „vielleicht wusste er, dass er nicht so viel Zeit hatte“, denn Cranko, der Begründer des Stuttgarter Balletts, wie wir es heute kennen, starb völlig überraschend 1973 auf einem Rückflug aus den USA. 12 Jahre waren ihm zuvor geblieben, sein Lebenswerk in Stuttgart zu erschaffen. Marcias Fazit: „Er hat eine tolle Compagnie aufgebaut, und für mich ist es die beste Compagnie überhaupt.“
Cranko war der Allrounder seiner Zeit, er beherrschte das Handlungsballett ebenso wie sinfonische Stücke. Witz und Komik, groteske wie liebliche Komödien füllen sein Werk, aber auch tragische Tiefe, Traurigkeit, Melancholie. Er konnte mit dem Publikum sprechen, mit Journalisten verbal flirten, er hatte einen Blick für echte Tänzerpersönlichkeiten und auch dafür, wie man ein zuverlässiges, interessantes Ensemble aufbaut und am künstlerischen Leben erhält. Seine Maßstäbe waren andere als die der meisten Choreografen und Ballettdirektoren. Marcia Haydée erinnert sich, wie er aus ihr „die große Haydée“ machte: mit Witz und Betonung ihrer Individualität und nicht mit dem schier endlosen Streben nach Perfektion, das Haydée dem amerikanischen Pendant zu Cranko, George Balanchine, zuschreibt.
„Unsere Körper waren bereit, alles zu machen!“ So bringt Marcia Haydée das von Cranko vorgeschriebene Training in verschiedenen Schulen und Stilen auf den Punkt. Anders als Balanchine, der einen bestimmten, nämlich seinen Stil aus der russischen Schule herauskristallisierte und ausgeprägt hat, wollte Cranko vor allem eine vitale, abwechslungsreiche tänzerische Kost servieren. Für ihn gab es nicht den einen Cranko-Stil – für ihn gab es nur die eine Cranko-Qualität.
Reid Anderson konkretisiert ein Merkmal dessen: „Es sollte alles fürs Publikum verständlich sein.“ Ihn beeindruckte neben den künstlerischen Zielen von Cranko auch dessen „unglaubliche Aura“. Als Person konnte Cranko eben auch begeistern, mitreißen, faszinieren. Immer hatte er irgendwie den Schalk in den lachenden Augen. Und er wirkte klug, belesen, neugierig. Und immer sympathisch, wenn auch sehr bestimmt ihn dem, was er haben wollte.
Cranko lernte rasch Deutsch damals, was er auch mit dem Lösen von Kreuzworträtseln trainierte. Reid Anderson fiel das Deutsche hingegen zunächst schwer, aber es kam mit der Zeit, ebenso rasch dann wie der große Erfolg des Stuttgarter Balletts. Mit 19 Jahren lernte Reid Anderson über Cranko seinen Lebensgefährten Dieter Gräfe kennen, mit dem er noch heute ein Paar ist. Zu dritt lebten sie damals als Männer-WG unbehelligt mit einer Mischung aus Boheme und Bürgerlichkeit.
Als Crankos Tod alles änderte, wollte die Compagnie zunächst Marcia Haydée als Chefin. Sie traute sich nicht gleich. Erst, nachdem Glen Tetley als Ballettdirektor nicht gut in Stuttgart zurecht kam und seinen Hut nahm, war sie bereit, die Leitung zu übernehmen. Für Reid Anderson, der später zunächst in Kanada Ballettdirektor wurde, ist wichtig: „Dass wir alles, was wir hier gelernt haben, weitergeben konnten.“
Der gesellschaftliche Zusammenhalt damals war aber wohl auch überwältigend. Die damaligen Politiker Stuttgarts wollten vor allem Eines: helfen. Sie wollten nicht, dass die ganze Compagnie auseinanderbricht und die Ära Cranko kaum noch Spuren hinterlassen würde. Man wollte den Schatz bewahren und erwartete keine neuen Blitzerfolge, sondern Kontinuität. Dieses Interesse an der zudem auch weltweit bejubelten Ballettwunder-Einheit war eben immens. Das Ballett im westlichen Teil Deutschland war damals etwas wert, es war viel wert, sehr viel – und das war das Verdienst von John Cranko, unzweifelhaft.
Und als Crankos damaliger Solist John Neumeier sein erstes eigenes Tanzstück in Stuttgart zeigte – das war bei der Noverre-Gesellschaft – wusste Cranko sofort: Das ist ein sehr talentierter Choreograf, kein Zweifel. Und er hatte ganz sicher nicht Unrecht mit dieser Einschätzung. Heute ist Neumeier, Chef vom Hamburg Ballett, der dienstälteste und erfolgreichste Ballettchef der Welt. Und auch er hat, dank Marcia Haydée, die ihn für John Cranko nach Deutschland holte, seine Wurzeln, wenn man so will, in Stuttgart.
Tamas Detrich, mit 62 Jahren etwas jünger, ist in der Cranko-Ära weit entfernt von Stuttgart aufgewachsen. Er erlebte die Stuttgarter Compagnie mit Cranko persönlich nur einmal: als Ballettstudent und Statist in New York City, wo Detrich geboren und ausgebildet wurde. Beim letzten Gastspiel der Stuttgarter in den USA wirkte Detrich in „Romeo und Julia“ mit auf der Bühne. Er fing dabei sozusagen schwäbisches Feuer. Und bewarb sich baldmöglichst als Tänzer in Stuttgart. Was er nicht sagt: Möglicherweise war auch die damalige soziale Sicherheit für Künstler in Westdeutschland attraktiv für einen Amerikaner.
Er kam an in Stuttgart, auf dem damals kleinen Flughafen – und absolvierte zügig seine Karriere vom Ensembletänzer bis an die Spitze der Truppe. Als Marcia Haydée 1986 ihr „Dornröschen“ inszenierte, sagt er, war das für ihn ein Höhepunkt der Ära nach Cranko. Ein weiteres ist wesentlich jünger: Dass die Stuttgarter trotz der Dachschäden am Opernhaus durch das Unwetters Ende Juni schon nach drei Tagen am 3. Juli 2021 wieder auf der Bühne vor Publikum tanzen konnten.
Marcia Haydée ist es zudem ein Bedürfnis, im Rückblick zu betonen, dass die Tänzer und deren Rückhalt ihr dabei halfen, die Compagnie durch die schwierige Zeit nach Cranko zu führen. Eine solche erlebte Solidarität verbindet natürlich auch mit dem Ort, an dem sie stattfand. Aber 1995, so Marcia, habe sie gespürt, dass die Compagnie einen anderen Kopf, eine andere Linie brauche. Sie folgte diesem Eindruck und gab den Posten als Ballettdirektorin Stuttgarts ab. In Chilé baute sie als Ballettchefin am Teatro Colón etwas Neues auf, die Verbindungen zu Stuttgart allerdings nie ganz aufgebend.
Reid Anderson, der als Ballettintendant seinen Vertrag nicht mit dem Theaterchef, sondern direkt mit der örtlichen Regierung machte, holte Marcia dann zum Arbeiten von Zeit zu Zeit zurück nach Stuttgart. Ihre Einstudierungen und auch ihre Auftritte als ältere Dame – wie zuletzt in „Mayerling“ von Kenneth MacMillan – sind stete Highlights im Ballettmekka Stuttgart.
Noch vieles wurde besprochen und so manche Anekdote erheiterte die Zuschauer:innen, aber unterm Strich blieb vor allem das echte – nennen wir es mal so – Stuttgarter Ballettgefühl im Raum: also die Vorstellung, dass Ballett wahrlich nicht für alle, aber für alle Interessierten da sein sollte.
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg