Sie tanzen wieder! Auch das Stuttgarter Ballett hat wieder Höhepunkte – trotz Unwetterschäden

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

Der Tod regiert, aber die Dächer von Paris sind hier intakt: Ciro Ernesto Mansilla und die leider aus Stuttgart scheidende Hyo-Jung Kang beim stürmischen Applaus nach „Le jeune Homme et la Mort“ von Roland Petit in den „Höhepunkten“ beim Stuttgarter Ballett am 03.07.2021. Foto: Boris Medvedski

Chapeau! Draußen auf dem Vorplatz liegt noch das vom Sturm zerknüllte Kupferdach vom   Opernhaus wie Sperrmüll herum. Aber drinnen geht schon wieder die Post ab. Nur wenige Tage nach einem wirklich verheerenden Unwetter wird das Stuttgarter Opernhaus wieder bespielt und betanzt: Das Stuttgarter Ballett feierte mit der Publikumspremiere des im November 2020 online premierten Programms „Höhepunkte“ am letzten Samstag seine hoffentlich endgültige Rückkehr aus der Corona-Krisen-Klausur. Die Stimmung ist in diesen Tagen und Nächten entsprechend gehoben, im Opernhaus herrscht derzeit betonte Freundlichkeit. Publikum und Beschäftigte überbieten sich geradezu mit Höflichkeit und Danksagungen. Auch wenn der dritte Rang komplett gesperrt ist und trotz fachgerechter Trocknung durch Geräte noch etwas modrig riecht: Das „Höhepunkte“-Programm wurde erweitert, und zwar um den in Stuttgart dank fabelhafter Starbesetzungen bereits zum heimlichen Signaturstück in Corona-Zeiten avancierten „Bolero“ von Maurice Béjart. Ein Triumph für Friedemann Vogel! Und sogar die Politik hat sich für diesen Abend interessiert. Außer dem Stuttgarter Ex-Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) war auch die aktuelle Landtagspräsidentin von Baden-Württemberg erschienen, die Grüne Muhterem Aras.

Vielleicht setzt sie ja endlich die fällige Sanierung des Stuttgarter Opernhauses durch, unter einer Gewährleistung des Spielbetriebs in einem Ausweichquartier oder mehreren Ausweichquartieren.

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

Draußen liegt noch der vom Sturm zerknüllte Rest vom Opernhausdach. Foto: Boris Medvedski

Hier ist als Vorbild die Staatsoper Unter den Linden in Berlin-Mitte zu nennen, die sich und ihrem Publikum während ihrer Sanierungszeit höchst erfolgreich das Schiller Theater in Berlin-Charlottenburg zu eigen machte. Trotz des Wechsels aus dem Ostteil in einen westlichen Bezirk der Metropole gelang die temporäre Übersiedlung. So muss es laufen! Und das ist Stuttgart auch zu wünschen – und zwar bald.

Der Zustand der Stuttgarter Tänzer:innen ist ohnehin selbstverständlich sehr gut. Anders hat man das vom Stuttgarter Ballett nun auch nicht erwartet. Es handelt sich um Vollprofis, die absolut professionell trainiert und beprobt werden. Daran ändern auch ein paar Lockdowns nicht viel.

Dennoch bleibt „Falling Angels“ von Jiri Kylián ein schwieriges, nicht wirklich gelungenes Stück, und als Einstieg kann es so manchem Ballettfreund mit seiner Ödnis befremden und den ansonsten schönen Abend fast vermiesen. Eintönige Trommeln (von Steve Reich) ohne weiteren Zusatz tragen nicht lange, und eine ebenso wenig abwechslungsreiche optische Umsetzung ist nur was für Gymnastikfans.

Näheres ist auch in der Rezension der Online-Premiere hier nachzulesen.

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

In „Falling Angels“ tanzen acht Damen – im Turnerinnenlook zu Trommeln vom Band. Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Man hätte vielleicht auf das Ballett-Journal oder auch auf den Publikumsgeschmack hören und das Stück in den „Höhepunkten“ wegfallen lassen oder ersetzen können. Es ist eben kein Höhepunkt, das hätte man doch lernen können.

Gerade Kylián hat viele andere, deutlich bessere Arbeiten geschaffen. Aber vom Stil her hätte ein Solo oder Pas deux aus einem modernen Handlungsballett, etwa aus „Othello“ von John Neumeier, eine ganz andere Nuance in den Abend gebracht. Die Stuttgarter haben „Othello“ ja im Repertoire.

Ballettintendant Tamas Detrich muss anscheinend doch noch lernen, selbst richtig hinzugucken und auch mal flexibel zu sein, statt immer nur auf berühmte Namen und Freundschaften zu setzen.

Ein Solo oder Pas de deux aus „Othello“ wäre jedenfalls ein schöner Kontrast und dennoch auch stimmig zum Thema „Petite Mort“ („Kleiner Tod“) gewesen, dem durchaus meisterhaften Werk von Jiri Kylián, das als zweites Stück auf dem „Höhepunkte“-Programm steht. „Petite Mort“, der „kleine Tod“, ist eine Umschreibung für den Orgasmus und somit hier für die „Höhepunkte“ auch titelstiftend. Im Neumeier-Stück wären Liebe und Tod sehr viel greifbarer vermischt – durch die Eifersuchtstat von Othello, die sich in den Pas de deux metaphorisch ankündigt.

Bei Kylián geht es oberflächlicher zu. In elegischen, aber vor allem auch rein dekorativen Positionen üben Paare und Gruppen von Männern und Frauen zu Mozart-Klängen die Liebe. Die Herren tanzen kokett mit Degen, die Damen mit schwarzen Kostümfigurinen.

Diese choreografischen Bilder nutzen sich zwar nach mehrfachem Ansehen etwas ab, sind im Sinne der Geschlechterrollen auch nicht wirklich originell, aber als Knüller, um das Publikum ad hoc zu begeistern, ist das Stück von 1991 allemal geeignet.

Adhonay Soares da Silva wurde unter den Tänzern schmerzlich vermisst; er war zwar angekündigt, tanzte aber nicht, was auf eine Verletzung schließen lässt. Wir wünschen gute Besserung!

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

Ein Detailblick gilt dem Tänzerfuß, der in „Petite Mort“ von Jiri Kylián besonders gefordert ist. Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Dafür fielen Jason Reilly und vor allem Anna Osadcenko im „Petite Mort“ mal wieder absolut fabelhafterweise auf. Das ist Stuttgart, wenn es tanzt!

Und tatsächlich ist auch das mitunter noch steigerungsfähig.

Ciro Ernesto Mansilla und Hyo-Jung Kang in „Le jeune Homme et la Mort“ („Der junge Mann und der Tod“) von Roland Petit verdienen den Titel „Höhepunkte“ – sie reißen mit, verzaubern die Zuschauer:innen vollends.

Es ist zudem ein zu Recht ein weltberühmtes Stück, eines der besten der Ballettgeschichte. Das Libretto stammt übrigens von Jean Cocteau. Dass es 1946, also in der Nachkriegszeit, in Paris uraufgeführt wurde, verleiht dem Ganzen nochmals Tiefe. Man befindet sich kurz nach der Stunde Null, die es nicht nur in Deutschland gab.

Und auch, wenn man heutzutage keinen Jean Babilée oder Rudolf Nurejew hat, um hierin tragisch aufzutrumpfen – mit hervorragenden Solisten kann man aus dem Stück einen Dauerbrenner machen.

Die bekante Kulisse ist in Stuttgart hervorragend gebaut, und mit der Musik von Bach kann man professionellerweise nicht viel falsch machen.

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

Wild, schön und grausam: Hyo-Jung Kang mit Ciro Ernesto Mansilla in „Le jeune Homme et la Mort“. Faszinierend! Videostill vom Stuttgarter Ballett: Gisela Sonnenburg

Und dann geht es los: Ein junger Mann haust in einem ärmlichen Dachstübchen, er raucht, er quält sich, er leidet – und die Frau, die zu Besuch kommt, erniedrigt und demütigt ihn.

Mansilla tanzt und spielt das Schicksal des früh Verarmten so eindringlich, dass man Tränen des Mitleids aufsteigen lassen muss. So sinnlos, so schändlich leer erscheint das junge Leben hier!

Als Wegbereiter des Existenzialismus ist dieses Ballett nachgerade wie geschaffen.

Vor unseren Augen siegt indes erstmal die nihilistische Verneinung aller Werte, die Aufgabe, die Verkehrung der Leidenschaft ins Selbstzerstörerische.

Der Tod holt den jungen Mann: erst grausam, an den selbstgebauten Galgen, und dann hehr und märchenhaft, in prächtigem weißen Gewand, um mit der Seele des Toten posthum über die – im übrigen hier intakten – Dächer von Paris zu ziehen.

Und dort um womöglich weitere junge Menschen derart zu frustrieren, dass sie der Königin des Todes folgen, anstatt an das Leben zu glauben. Es ist schon recht poetisch-vertrackt, dieses Libretto, das so nur Cocteau ersinnen konnte.

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

Hyo-Jung Kang und Ciro Ernesto Mansilla beim jubelnden Applaus in den „Höhepunkten“ 2021 beim Stuttgarter Ballett. Ade, schöne Hyo-Jung! Foto: Boris Medvedski

Originelle Sprungmanöver, exzellente Posen, Linien, wie mit dem Lineal gezogen – tänzerische Technik und ausdrucksstarke Beseelung ergänzen sich bei Hyo-Jung Kang als Bühnenpartnerin und bei Ciro Ernesto Mansilla, sodass man schon von einer nahezu perfekten Aufführung sprechen kann. Bravo!

Einmal mehr muss an dieser Stelle bedauert werden, dass Stuttgart seine langjährige Erste Solistin Hyo-Jung Kang an Wien verliert, sie wird im Sommer zu Martin Schläpfer an die Donau wechseln. Wir wünschen ihr dort viel Erfolg, obwohl wir sie wirklich lieber weiterhin in der Nähe hätten. Farewell!

"Höhepunkte" beim Stuttgarter Ballett

Friedemann Vogel und das Herren-Corps vom Stuttgarter Ballett nach „Bolero“ am 03.07.21 im erweiterten Programm „Höhepunkte“. Olé! Foto: Boris Medvedski

Vertraut ist und bleibt hingegen Friedemann Vogel, der sich geschickt zum Weltstar aus Stuttgart aufbauen ließ und dessen „Boléro“ unumstritten schön ist. Seine Hände tanzen die Melodie so zart und elegant, dabei so frisch und erhebend, als wäre es das erste Mal.

Und wenn der Rhythmus die Atmosphäre aufheizt, scheint sie den auf dem großen, runden Tisch tanzenden Star vollends zu erfassen.

Das Ensemble der Herren, das im „Boléro“ auch wichtig ist und sich um den Tisch herum formiert, findet sich vom Ersten Solisten Roman Novitzky verstärkt – und es erfüllt ebenfalls alle Erwartungen. Dieser Corps ist schlichtweg rasant und zuverlässig, und genau so soll das in diesem Stück sein.

Maurice Béjart, der 2009 verstorbene Choreograf, hätte sich gefreut, und auch Maurice Ravel, von dem die Musik stammt, wäre glücklich.

Friedemann Vogel ist der Star

Unübersehbar erotoman: Friedemann Vogel in „Bolero“ von Maurice Béjart – eine Jahrtausendpartie für großartige Tänzer, ob männlich, weiblich oder sonstwas – Hauptsache, schwer sinnlich! Foto: Stuttgarter Ballett

Zu Friedemann Vogel noch ein Wort: Seine Statur hat sich im letzten Jahr in Richtung Mainstream-Ideal noch vervollkommnet: Kaum ein Gramm Fett ist am Körper zu sehen, dafür strotzen die Muskeln nicht nur am Sixpack. Beinahe könnte man Friedemann als Vorbild für eine neue männliche Barbie-Puppe empfehlen. Wäre das nicht eine Vermarktung, die ihm gefallen würde? Und den Fans?

Ein Puppenmann wie Ken als Ballerino – der könnte wohl nur aus Stuttgart kommen. Sponsoren, strengt Euch an, mal was wirklich Gutes zu tun! Ballett solchermaßen in die Kinderzimmer zu tragen, wäre auch ein schöner neuer Anfang.
Boris Medvedski / Gisela Sonnenburg

www.stuttgarter-ballett.de

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