Ein hübscher Junge, der verliebt ist; ein arrogantes Mädchen, das ihn ablehnt – und eine mondän-dämonische weibliche Erscheinung, deren Auftreten definitive, tödliche Folgen hat: Das ist das Personal des bislang einzigen weltberühmten, zudem existenzialistischen Ballett-Thrillers. Als eigentlicher Höhepunkt des kommenden Programms „Höhepunkte“ beim Stuttgarter Ballett kommt das Werk am Schluss des Abends auf die Bühne. „Le jeune Homme et la Mort“ („Der junge Mann und der Tod“) heißt das Meisterstück, das dem Choreografen Roland Petit in Kooperation mit Jean Cocteau gelang. Petit war 1946, als er das Stück kreierte, gerade mal 22 Jahre jung. Der Dichter, Dramatiker, Filmregisseur und Zeichner Jean Cocteau, der ihm das einaktige Libretto lieferte, hatte mit 57 Jahren schon deutlich mehr Lebens- und Berufserfahrung. Und: Cocteau war extrem stilsicher, was vermutlich auch die gelungene Choreografie beeinflusste. Ins Corona-Zeitalter passt dieses Stück besser als jedes andere; Auch wenn der Tod hier nicht unvermeidbar durch eine Pandemie eintritt, so trifft er doch eine Kunstfigur, die uns durch ihren Tanz kurz zuvor ans Herz gewachsen ist. Auf die Besetzung des Mini-Dramas zu elegischer Orgelmusik von Johann Sebastian Bach beim Stuttgarter Ballett darf man neugierig sein – wie auch auf die in den beiden vorangehenden Stücken. Am Freitag, den 27. November, um 19 Uhr startet der Live-Stream der Premiere auf der Homepage www.stuttgarter-ballett.de – Toitoitoi an die Veranstalter und Dankeschön für die Gelegenheit, kostenlosen Kunstgenuss solchermaßen für alle zu bekommen.
Der Abend beginnt mit einem deutlich schwächeren Stück von Jiri Kylián: mit „Falling Angels“ („Fallende Engel“), das genau heute vor 31 Jahren in Den Haag beim NDT (Nederlands Dans Theater) uraufgeführt wurde. Es vereint acht Tänzerinnen mit minimalistisch-redundanten Trommelrhythmen des Komponisten Steve Reich.
Laut Choreograf Kylián geht es im Stück um die Koexistenz von „Disziplin und Frieden“, und das soll vor allem auf die Situation von Profi-Tänzerinnen rekurieren.
Was man sieht, ist allerdings eher das turnerisch angehauchte Spiel von acht jungen Damen mit dem Raum, der ihnen zur Verfügung steht.
Die Tänzerinnen kommen zu Beginn nach und nach auf die Bühne, um dann dort alle bis zum Ende zu bleiben.
Insofern passt auch dieses Stück vorzüglich zur Corona-Lockdown-Situation: Die Bewegungsfreiheit scheint beeinträchtigt.
Unfreiwillig, aber absichtlich erhalten so manche Stücke durch den aktuellen Zeitgeist tatsächlich mehr Drive in eine ganz bestimmte Richtung.
Zu den so genannten „Black & White“-Balletten Kyliáns gehörend, wird „Falling Angels“ von dem kleinen Damen-Corps zeitweise in hellen Quadraten aus Licht getanzt. Pro Tänzerin gibt es ein Quadrat – darin steht sie, hüpft, zappelt, schmiegt sich in die Luft oder auch an den Boden an. Spielerisch überschreitet sie die Grenze aus Licht, vermisst das Raster aber auch nicht, als es sich in allgemeiner Aufhellung des Lichts auflöst.
Eine Solistin hat hier exquisite Schritte zu tanzen, voll kämpferischer Dynamik und Willenskraft zur Ausnahmeleistung.
Am Ende hilft ihr das aber nichts: Die letzte Minute des Viertelstünders ist vom sich verlangsamenden Tempo bestimmt, und Sekunde für Sekunde scheinen alle eben noch so vitalen Tänzerinnen an Lebenskraft zu verlieren.
Schließlich legen sich die Damen in ihre Lichtquadrate, gekrümmt wie auf dem Rücken verendete Käfer in einer Frozen Position.
Was an ihnen himmlisch oder engelhaft sein soll und warum sie fallen oder absterben, bleibt Gegenstand für Spekulationen. Vielleicht leben diese Tänzerinnen nicht als normal Lebende im Stück, sondern sind von Beginn an geisterhafte Untote.
An sich versteht man unter einem gefallenen Engel ein Wesen, das sich der göttlichen Ordnung widersetzt. Luzifer etwa wird erst durch diesen Abfall von Gott zum Teufel.
Hinweise auf diese katholische Mythologie findet man in Kyliáns Stück aber eher nicht. Auch die Kostüme, die anmuten wie schwarze Turntrikots aus den 70er-Jahren, versehen mit einem Hauch von Badeanzug-Chic, passen insofern nicht zum Titel.
Aber das ist man bei Kylián gewöhnt, und seine Fans lassen sich davon nicht stören.
Die melancholische Eleganz, die seine Stücke durchtränkt, findet sich ja auch hier, und nur darauf kommt es Kyliáns Anhängern an.
Der heute 73-Jährige leitete jahrzehntelang das NDT in Den Haag und beeinflusste nicht wenige Choreografen innerhalb und außerhalb der Ballettszene.
Eines seiner beliebtesten Stücke hat den Tod schon im Titel und passt von daher vorzüglich in das neue Programm vom Stuttgarter Ballett: „Petite Mort“ („Kleiner Tod“) von 1991.
Der Titel ist doppeldeutig: Einerseits meint er den sexuellen Orgasmus, der im französischen Sprachraum als „kleiner Tod“ bezeichnet wird. Andererseits spielt er an den realen Tod an, zitiert ihn als memento mori.
Die Nähe von extremem Sexus zum Endpunkt des Lebens grundiert hier die Pas de deux von sechs heterosexuellen Paaren, also von Mann und Frau. Allerdings ist auch hier das Spielerische das Element im Vordergrund: wirklich ernsthaft wird hier kein Liebespartner abgestochen.
Die Florette in den Händen der Männer bzw. auf ihren Fingerspitzen, wo mit ihnen balanciert wird, verströmen dennoch eine beunruhigend-aufregende Stimmung.
Aus dieser entwickeln sich die Paartänze, aber auch ein sanfter Geschlechterkampf wird inszeniert. Mal assoziiert manchmal sogar Beziehungen, die sich durch SM-Sex aufrecht halten (Kylián hängte sich da fraglos an den zu Beginn der 90er-Jahre gerade aktuellen Lifestyle-Trend an).
Das Thema wird aber stets auch ästhetisch ironisiert: Zeitweise schieben die Damen zum Beispiel Kleiderpuppen mit grandiosen dunklen Abendroben vor sich her. Dahinter verstecken sie ihre weithin entblößten Körper, und zwar weniger vor Scham als vielmehr aus trotzigem Aufbegehren oder verspielter Widerwehr.
Ist alles nur Spiel hier? Das ist die Frage, die wahrscheinlich am spannendsten zu verfolgen ist.
Getanzt wird entweder zur Stille oder zu zuckersüßen Klängen von Wolfgang Amadeus Mozart.
Die aktuellen Pressefotos vom Stuttgarter Ballett zeigen Elisa Badenes und Adhonay Soares da Silva als exemplarisches „Petite Mort“-Paar. Erotik kulminiert hier in typisch Kylián’schen Posen, die zwar nicht wirklich Zärtlichkeit suggerieren, dafür aber an eine gewisse pornografische Spannung nah heranreichen.
Aber auch Anna Osadcenko und Jason Reilly beherrschen diese Kunstform der akrobatischen Mann-Frau-Spiele absolut superbe!
Rocio Aleman und David Moore, Agnes Su und Adhonay Soares da Silva und weitere Stuttgart-Stars ergänzen den Reigen.
Kylián-Fans wird diese Besetzung zu begeistern wissen!
Die größte Neugierde betrifft allerdings das Schmuckstück zum Schluss. „Le jeune Homme et la Mort“ ist ein ergreifendes, sowohl erotisches als auch menschlich dramatisches Werk.
Das Klischee von der Studenten- oder Künstlerbude unterm Mansardendach in Paris findet sich in der Kulisse charmant abgeschwächt wieder. Die Choreografie ist genialisch – und umfasst alle Gefühle von Depression und Langeweile über sexuelle Erregung bis hin zu Sehnsucht und Verlangen, welche wiederum in Todessehnsucht und Depression münden.
Dass das Programm dennoch oder gerade deshalb erhebend wirken wird, daran besteht gar kein Zweifel. Dass wir gerade heute die Misere des Lebens Ernst nehmen müssen, ist eine Binsenweisheit, die sich Stuttgarts Ballettintendant Tamas Detrich mit dieser Programmwahl geschickt zunutze macht.
Für Freitagabend gilt von daher: Rein ins Internet, um diese ballettösen Seltenheiten und zugleich die schöneren Seiten des Todes nicht zu verpassen!
Gisela Sonnenburg
P.S. Als der Online-Livestream schließlich lief, hatte das Programm auf einmal einen sehr viel passenderen Titel als „Höhepunkte“, nämlich „Angels and Demons“ („Engel und Dämonen“). Außerdem gab es den Zusatz „Triple Bill“, was keine Rechnung meint, sondern die Tatsache, dass das Programm dreiteilig ist. Für viele Fans war die Online-Show mit Live-Musik in den beiden letzten Stücken eine Offenbarung: Seit Wochen gab es endlich mal wieder hochkarätiges Ballett live zu erleben, wenn auch nur online. Aber was heißt „nur“?! Mehr als ein kostenfreies Online-Streaming kann man diesen Zeiten nicht verlangen, denn die Politiker unterscheiden weltweit nicht zwischen grölenden Fußball-Fans und diszipliniert auf ihrem Platz sitzenden Opernhausbesuchern. Was soll man da machen? Der Demokratie ein Loblied singen? Oder hoffen, dass jetzt vielleicht auch im Privatleben alle Vorgaben, um Infektionen zu verhindern, auch eingehalten werden? Ein Hinweis noch: Das Auto kann sich als wahre Infektionsfalle entpuppen, wenn darin eng beieinander und womöglich noch unmaskiert gesessen wird. Corona steckt an – auch unter Verwandten und Freunden! Viele scheinen das manchmal zu vergessen.
Jetzt aber rasch nochmal auf den Livestream geschaut, denn bis Sonntagabend soll er online noch anzusehen sein.
Dem Stuttgarter Ballett, seinen vorzüglichen Tänzerinnen und Tänzern und vor allem seinem Intendanten derweil ein herzliches Dankeschön für diese tolle Online-Show!
Sie hält uns bei der Stange, sozusagen – und das ist in diesen Tagen wirklich nicht allzu leicht. Ahoi!
Gisela Sonnenburg