Wie eine Armee aus Schönheit und Passion Aktuell heißt es in Europa: Durchhalten! Und: „Schwanensee“ mit Olga Esina als Odette / Odile in der Inszenierung von Rudolf Nurejew als Live-Stream vom Wiener Staatsballett anschauen!

"Schwanensee" von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett

Vollmond über Steinstufen: Das ist die Szenerie für „Schwanensee“ in der Version von Rudolf Nurejew. Hier Vladimir Shishov und Olga Esina mit dem Corps vom Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor

Diesen einen Vorteil haben die Lockdowns für uns: Die Opernhäuser strengen sich an, fantastische Live-Streams und kostenlose Videos on Demand anzubieten. Besonders schnell stand jetzt wieder die Wiener Staatsoper mit einem umfangreichen Online-Programm – wie schon im März 2020 – parat. Ein abendfüllendes Ballett ist auch dabei, sogar ein besonderer Leckerbissen: „Schwanensee“ in der Choreografie und Inszenierung von Rudolf Nurejew, einstudiert unter der Ägide von Manuel Legris. Ja, man weint diesen ehemaligen Ballettdirektoren Wiens nach, wie man überhaupt den guten alten ganz normalen Zeiten nachweint, in denen das Leben und der Tanz noch nicht von Corona-Maßnahmen bestimmt waren. Jetzt hat man immerhin mal wieder eine gute Gelegenheit, den eigenen Kummer über den Lockdown durch die allgemeine Freude an der Tanzkunst aufzuhellen. Die superbe, russischstämmige Wiener Primaballerina Olga Esina tanzt hierin nämlich die Doppelrolle der Odette / Odile: mit grandiosem, unnachahmlich lyrischem Flair! Ihr Bühnenpartner, der hier männlich-verträumte Vladimir Shishov (mittlerweile glamourös von der Bühne verabschiedet), gibt an ihrer Seite einen strahlend schönen, aber auch abgrundtief melancholischen Prinzen Siegfried ab. Und der beliebte Allroundtänzer Eno Peci verkörpert mit fast clownesker Boshaftigkeit den bösen Zauberer Rotbart. Die Wiener Aufzeichnung, für 3sat getätigt und dort auch im Januar 2015 ausgestrahlt, stammt vom 16. März 2014. Sie verdankt ihre fabelhafte Fernsehregie dem darin versierten Michael Beyer. Da ist also alles stimmig! Was für ein Schmankerl ist das in diesen für uns Ballettmenschen sonst so tristen Wochen. Also seien schon mal die Taschentücher gezückt und bereit gelegt: Am Dienstag, dem 24. November, geht es um 19 Uhr los, auf www.wiener-staatsoper.at – kostenlos und in hoher technischer Auflösung.

"Schwanensee" von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett

„Schwanensee“ mit vollständigem Schwanenschwarm und dem verzückten Liebespaar im zweiten Akt, getanzt von Olga Esina und Vladimir Shishov, beim Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor

Damit kein Missverständnis aufkommt: Es handelt sich hierbei um einen klassischen „Schwanensee“ und doch zugleich um eine modernisierte Fassung.

Seit 1964 ist diese im übrigen tragisch endende Version von „Schwanensee“ so oder so ein echter Burner. Das lag an dem sicheren Instinkt von Rudolf Nurejew, guten Geschmack mit hoher Kunst zu verbinden.

Modern wirkt diese Version schon deshalb, weil das Bühnenbild einmal nicht Naturkulisse und höfischen Prunk gegeneinander setzt, sondern Nurejew, damals erst zarte 26 Jahre alt,  den damaligen Zeitgeist auf die Bühne holte. Und der lautete: Design, Stil und Symbolik statt Naturalismus!

Breite, steinerne Stufen im Hintergrund bestimmen darum sowohl den Ballsaal des Schlosses als auch das Ufer am See. Den Symbolgehalt dessen muss man erkennen: Es geht um das gnadenlose Auf und Ab im Leben, in der Gesellschaft, in der Liebe.

Die Ausführung von Bühnenbild und Kostüm in der gezeigten Aufführung stammt von Luisa Spinatelli, die sich mit Ballett durchaus auskennt und keine „untanzbaren“ Klamotten herstellen lässt, sondern solche, die den sich sanft wie stark bewegenden Körpern schmeicheln.

Das erschließt sich bereits in der ersten Szene, dem Vorspiel: Die Prinzessin schreitet im bodenlangen Festgewand über blaudunkle Bühne, ein funkelndes Diadem im Haar. Vorne links an der Rampe schläft Siegfried, der edelmütige Prinz, in einem goldenen Thron.

Alles nur ein Traum?

Dramatisch wird es, als Rotbart mit einem weiten, schwarzen Umhang auftaucht – und die Prinzessin entführt. Mehr noch: Man sieht ihn und die Prinzessin mit einem federlastigen weißen Gewand – noch ist es kein Tutu – die hintere Bühnenwand gen Schnürhimmel hinaufwedeln.

"Schwanensee" von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett

Grotesk bis fast clownesk, so boshaft und doch faszinierend: Eno Peci als Rotbart in „Schwanensee“ von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor

Noch gibt es die strikte Trennung von Traum und Realität. Real ist der Prinz als Schlafender, sogar noch, als der Hofstaat in Form des zu Paaren geformten Corps de ballet munter und in Feststimmung auftanzt.

Eine Schar junger Damen bestaunt den tief schlafenden Prinzen… Geweckt wird dieser erst von seinem Erzieher (Christoph Wenzel), einem dubios-schillernden Repräsentanten des Hofes.

Tanzen soll er, der Prinz! Nichts leichter als das – Siegfried beherrscht seine Thronfolger-Partie aus dem Effeff und flirtet ein paar Runden im Walzertakt mit den schönen Mädchen.

Doch sogleich zieht er sich auf seine Beobachterposition zurück. Sitzt einfach wieder da und schaut nur zu. Man merkt: Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Mann. Er ist ein Außenseiter, kein glühender Anführer.

Nurejew ließ sich von Ludwig II. von Bayern inspirieren, und im Hin und Her des Prinzen zwischen Ruhesessel und Tanzreigen – welches sich noch wiederholt – soll sich die verlorene Seele eines Künstlers ohne Kunst spiegeln.

Da kann nur noch die Liebe helfen!

Tatsächlich findet Siegfried nachts am See die in Schwäne verwandelten Mädchen vor, die ihn bezaubern, allen voran die Schwanenkönigin, also just jene entführte Prinzessin, deren Verschwinden gen Himmel Siegfried zu Beginn des Stücks geträumt hatte.

Traum und Realität sind jetzt nicht mehr scharf voneinander zu trennen – Nurejew lässt offen, ob der Prinz auch hier nur träumt oder sich in einer Wahnwelt zu einer unwirklichen Liebschaft verführen lässt.

Fakt ist: Er tanzt berückend. Vladimir Shishov und Olga Esina, beide in Sankt Petersburg am Waganowa-Institut ausgebildet, ergeben ein mustergültiges Paar mit vornehmen Linien und virtuoser Brillanz.

Sowohl die Lew Iwanow zugeschriebene Originalchoreografie der Pas de deux in den weißen Akten als auch die zweifelsfrei von Marius Petipa stammende furiose Ballszene mit dem schwarzen Schwan (Odile) verströmen eine erhebende Spannung, ganz wie es sich gehört, in dieser Besetzung.

"Schwanensee" von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett

Olga Esina als Odette – ein wandelndes Märchen an lyrischer Benommenheit. So zu sehen im Live-Stream von „Schwanensee“ vom Wiener Staatsballett. Foto: Ashley Taylor

Olga Esina verbreitet als weiße Schwanenkönigin Odette zudem noch eine Noblesse und eine lyrische Benommenheit, wie sie bei all den athletisch geprägten Ballerinen der jüngeren Generationen schon fast selten werden. Zartheit, aber nicht Magerkeit; Weichheit, aber nicht Schlangenhaftigkeit; Weiblichkeit, aber nicht aufgesetzte Sexiness prägen ihren Stil.

Sie ist eine Magierin alten Stils und doch mit aller Poesie gewappnet, die eine Ballerina heute in diese Doppelrolle mit einbringen muss. Nur den Gegensatz der herzensguten Odette zur eiskalten Odile darzustellen, reicht da nämlich nicht aus.

Das Corps de ballet – ach, mal wieder ein vollzähliges! – vermag mit exakten Reihen und Posen eben das mitzuteilen, was hier außerdem wichtig ist: Diese Schwäne sind kein wilder Haufen, sondern tanzen wie eine hervorragend organisierte Armee aus Schönheit und Passion.

Da ist gut nachzuvollziehen, dass Siegfried eigentlich gar nicht mehr zurück will an den Hof, an dem er sich ohnehin nicht ganz wohl fühlt.

"Schwanensee" von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett

Odile, getanzt von der bravourösen Olga Esina, betört Siegfried, verkörpert vom schönen Vladimir Shishov – bald online in „Schwanensee“ von Nurejew mit dem Wiener Staatsballett zu sehen. Foto: Ashley Taylor

So vermag auch erst Odile, das täuschende Ebenbild der Odette, seine Stimmung dort wieder zu heben. Doch, oh weh: Odile ist die Tochter des bösen Zauberers Rotbart, und indem Siegfried auf sie und ihre 32 makellosen Fouettés hereinfällt, verrät er seine wahre Liebe Odette.

Der Erfinderin der berühmten seriellen Fouettés wurde kürzlich erst gedacht: Die italienische Starballerina Pierina Legnani (1863 – 1923) verstarb am 15. November. Sie tanzte zuerst in einem „Cinderella“-Ballett ihre sagenhafte Nummer, bis Marius Petipa diese für seine Inszenierung des „Schwanensee“ 1895 in Sankt Petersburg entdeckte.

Der schwarze Schwan Odile pirouettiert hier 32 Mal auf russische Art, also mit rasch zur Seite geführtem Spielbein zu Beginn jeder Drehung. Für Petipa sollte der Ausdruck dessen  nicht nur furiose Technik sein, sondern vor allem die Zauberkraft der Chimäre Odile illustrieren. Schwarze Magie, sichtbar geworden durch faszinierende Ballettpirouetten – das ist freilich kein Mysterium, sondern saubere Kunst.

Bis heute wird in jeder halbwegs klassisch zu nennenden „Schwanensee“-Inszenierung auf diese und andere Vorarbeiten von Petipa und Iwanow zurückgegriffen, so auch von Nurejew.

"Schwanensee" von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett

Die vier kleinen Schwäne – akkurat und doch so lebendig! Das Wiener Staatsballett in Aktion beim „Schwanensee“, so zu sehen im Online-Spielplan der Wiener Staatsoper. Foto: Ashley Taylor

Die Uraufführung des heute absolut anerkannten Klassikers „Schwanensee“, mit der immer wieder überwältigend leidenschaftlichen Musik von Peter I. Tschaikowsky, war ja ein Flop gewesen: Die unbedeutende Choreografie von Wenzel Julius Reisinger am Bolschoi-Theater in Moskau krankte unter anderem an völlig unpassenden Kostümierungen und falsch zugeordneten Zufügungen aus Nationaltänzen.

Aber knapp zwei Jahrzehnte später war es dann soweit: Das Gespann Petipa-Iwanow (wobei Petipa der Meister war und Iwanow sein Assistent) verhalf dem Stück zu jenem Glanz, den es noch heute ausstrahlt. Nur schade, dass Tschaikowsky, der sein Herzblut in die Partitur gab, das nicht mehr erleben konnte.

Als wolle die globale Ballettgemeinde das vergessen machen und Tschaikowsky wieder und wieder geehrt sehen, zieht der „Schwanensee“ seit dem 20. Jahrhundert das Publikum an wie ein Magnet. Und selbst Menschen, die mit Ballett nichts zu tun haben und auch nichts damit verbinden, können sich unter „Schwanensee“ etwas vorstellen.

Das weiße Ballett der schönen Mädchen im Tellertutu und mit Federkrone im Haar ist allerdings auch ein unvergesslicher Hingucker – immer wieder und wieder und wieder.

Die Aufzeichnung von 2014 hat zudem besonderen Charme.

"Schwanensee" von Rudolf Nurejew beim Wiener Staatsballett

Das Wiener Staatsballett tanzt „Schwanensee“ – demnächst als Livestream im Internet. Foto vom Wiener Staatsballett: Ashley Taylor

Das Wiener Staatsballett, musikalisch begleitet vom Wiener Staatsopernorchester unter dem Dirigat von Alexander Ingram, ist hier auf der Höhe seines Könnens – und noch in den Nebenrollen sind Stars zu bewundern: wie Alice Firenze, Kiyoka Hashimoto und Prisca Zeisel, die hier noch als großer Schwan zu sehen ist, heuer aber beim Bayerischen Staatsballett in München auch schon mal die Odette / Odile tanzte.

Ein weiteres Highlight bilden Alice Firenze und Mihail Sosnovschi als ungarisches Tanzpaar – temperamentvoll und mit jener folkloristischen Energie ausgestattet, die das Ballett immer wieder verlebendigt. Schon wegen ihnen würde sich das Anschauen lohnen!
Gisela Sonnenburg

www.staatsoper-wien.at

Tipp zum Vorbereiten oder Weiterschauen: „Nurejev – The White Crow“ als DVD

Und wer den Wiener „Schwanensee“ in genau dieser Aufzeichnung mit Olga Esina als DVD haben möchte, kann bei Thalia online einchecken – und bestellen.

 

 

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