Es ist lobenswert, wenn ein Dialog zwischen Kultur und Politik entsteht – gerade die Hochkultur sollte sich nicht darauf beschränken, Geld zu nehmen und es auszugeben. Und in der jetzigen Situation ist ein Aufmucken der Theater in Deutschland allerdings gut zu begründen. Denn schließlich haben Statistiken und Studien bewiesen, dass die Covid-19-Infektionen zu über 80 Prozent im privaten und familiären Bereich daheim – also in den räumlichen Urzellen von Familie und Freundschaft – stattfinden und gerade nicht dort, wo es Hygiene-Konzepte und Schutzmaßnahmen gibt. Die Theater, Konzerthallen, Opernhäuser – und auch die Museen und Galerien – sind also freizusprechen und baldmöglichst wieder zu öffnen, und sogar die Restaurants werden durch die Faktenlage der Ansteckungen nicht belastet, sondern – im Gegenteil – entlastet. Sofern ein nächtliches Alkoholverbot von ihnen mitgetragen wird. Statt Sündenböcke abzustrafen, sollte die Politik also differenzieren und die Bevölkerung (vor allem die weniger gebildete) besser aufklären. Konzepte und Schutzmaßnahmen für den Privatverkehr fehlen derweil; vermutlich weil die Politik sich nicht nachsagen lassen will, sie würde die ganz privaten Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger beschneiden. Da es nun aber um eine Pandemie mit im Winterhalbjahr vorhersehbar wachsenden Infektionszahlen aufgrund von falschen privaten Verhaltens geht, sollte hier endlich mal ein Kurswechsel stattfinden. Vulgo: Visiere sind zu propagieren, denn sie können auch im privaten Umgang getragen werden, ohne den Betreffenden das Gefühl der Maskierung zu geben. Und sie schützen, wenn sie relativ eng am Gesicht anliegen und deutlich über das Kinn nach unten hinausragen, sehr gut! Man kann dann mit Strohhalmen sogar damit trinken, muss sie also nicht mal dafür abnehmen. Und dass man auch privat Abstand voneinander halten kann und trotzdem gute Gespräche oder lockeren Tanz pflegen kann, hat sich auch noch nicht genügend herumgesprochen. Wo bleiben die Werbe-Campagnen, die mit bester Laune ein ansteckungsvermeidendes privates Verhalten propagieren?! Irgendwie fehlt hier doch das Engagement der Lobby zum Beispiel der Werbewirtschaft, sich hier Geld vom Staat zu holen, das dieser damit sinnvoll anlegen würde. Die Theater proben derweil den zaghaften Aufstand, zumindest in Berlin, indem sie mit einer gemeinsamen Erklärung von heute der Sündenbock-Politik den Kampf ansagen. Allerdings wurde der November-Lockdown in seiner heutigen Form vom Bund beschlossen, und hätte das Land Berlin nicht mitgezogen, wäre dieses ein Skandalon gewesen. Insofern müsste sich der Protest mindestens auch gegen die Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Bundesregierung wenden, ein alleiniges Herumhacken auf dem Berliner Senat ist an dieser Stelle nicht wirklich durchdacht. Aber immerhin passiert etwas, zumal auch Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke) schon seinen Unmut über die Regelung der Schließung der Bühnen für die Öffentlichkeit äußerte. Der offene Brief, den die Theater heute abgeschickt haben und der auch im Namen vom Staatsballett Berlin (SBB) seine Gültigkeit hat, ist aber in jedem Fall lesenswert – und zum Nachdenken bestens geeignet. Auf dass dieser Brief vom 6. November 2020 legendär und vollauf wirksam werde! (Eine Anmerkung vorab: Dieter Hallervorden, fernsehprominenter Theaterbetreiber in Berlin, fehlt bei den Unterzeichnern, denn er bittet schon längst nicht mehr, sondern reichte einen Eil-Antrag bei Gericht ein. Bis jetzt ohne Erfolg.) Jetzt aber zum eigentlichen Brief:
Berlin, 6. November 2020
Sehr geehrter Herr Regierender Bürgermeister (gemeint ist Michael Müller, SPD, Anm. d. Redaktion),
die Entscheidung des Berliner Senats, neben vielen anderen Maßnahmen zur Bekämpfung des Corona-Virus auch die Kultureinrichtungen wieder zu schließen, traf uns unerwartet und hart. Wir verstehen die unmittelbare Notwendigkeit für ein schnelles und konsequentes Handeln angesichts der Gefahr, die von der Pandemie ausgeht. Zugleich sind wir sehr besorgt, dass trotz unserer bisherigen umfangreichen Bemühungen, die Häuser auch in Zeiten von Corona sicher zu bespielen, jetzt nachhaltiger Schaden droht.
Wir möchten Sie deshalb dringend bitten, folgende Aspekte in den Fokus Ihrer Betrachtung zu nehmen:
1. In unserer Gesellschaft sind Opern, Theater, Konzerthäuser und andere Kulturinstitutionen mehr als reine Freizeitan- gebote. Sie sind – selbst mit Abstand – Orte der Begegnung, des Diskurses, der Bildung und Aufklärung, aber auch des ästhetischen Genusses. Der Besuch dieser öffentlichen Räume ist für viele Menschen existentieller Teil des gesellschaftlichen urbanen Lebens und für dessen Zusammenhalt substantiell. Die demokratische Gesellschaft nährt und bildet sich durch kul- turelle Teilhabe. Das Gemeinschaftserlebnis der künstlerischen Darbietung bildet ein Gegengewicht zur steigenden Belastung der sozialen Isolation.
2. Die Sicherheits- und Hygienekonzepte der Häuser basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und bieten maximal möglichen Schutz für alle Besucherinnen und Besucher. Als Orte des gesellschaftlichen Lebens erhalten unsere Häuser Vorbildfunktion, wie in der Pandemie unser Alltag sicher organisiert werden kann – und wir lernen können, mit dem Virus zu leben und zu arbeiten. Die erneute Schließung erschüttert nun das gerade wieder gewonnene Vertrauen unseres Publikums nach der erfolgreichen Wiedereröffnung im Sommer.
3. Unsere Kultureinrichtungen sind in beträchtlichem Umfang Arbeit- und Auftraggeber innerhalb der Kulturbranche, von denen auch und vor allem viele freischaffende Künstlerinnen und Künstler leben sowie andere dienstleistende Soloselbständige und zuarbeitende Gewerbetreibende. Sie werden bei jeder weiteren Schließung mehr und mehr in den finanziellen und beruf- lichen Ruin getrieben – mit weitreichenden Folgen auch für die gesamte Kulturlandschaft.
Wir benötigen dringend eine Perspektive. Ein Betrieb von Theatern, Opern, Konzerthäusern etc. im „On/Off“-Modus, insbesondere ohne längerfristige Vorankündigung, macht die Planung und Arbeit der Häuser und freien Kulturschaffenden unmöglich. Wir aber wollen unseren gesellschaftlichen Auftrag erfüllen.
Wir appellieren an Sie, eine differenzierte und spezifische Betrachtung für die Kultur und im Speziellen für die Berliner Häu- ser vorzunehmen und bitten Sie, sich auch auf Bundesebene, gerade in Ihrer Funktion als Vorsitzender der Ministerpräsiden- tenkonferenz, für eine solche einzusetzen.
Wir sind überzeugt: Unsere Häuser in den folgenden Monaten wieder bespielen zu können, eröffnet mehr Chancen, als dass es Risiken birgt. Bitte geben Sie den Berlinerinnen und Berlinern, unseren Gästen sowie den Kulturschaffenden – wenn irgend möglich – diese Chancen zurück.
Mit freundlichen Grüßen –
Holger Klotzbach, Bar jeder Vernunft & Tipi am Kanzleramt; Oliver Reese, Berliner Ensemble; Dietmar Schwarz, Deutsche Oper Berlin (DOB); Ulrich Khuon, Deutsches Theater Berlin (DT); Frank und Caroline Lüdecke, Die Stachelschweine; Dominik Paetzholdt, Astrid Brenk, Distel Kabarett-Theater GmbH; Dr. Berndt Schmidt, Friedrichstadt-Palast Berlin; Annemie Vanackere, HAU Hebbel am Ufer; Barrie Kosky, Komische Oper Berlin; Martin Woelffer, Komödie am Kurfürstendamm; Sebastian Nordmann, Janina Paul, Konzerthaus Berlin; Jochen Sandig, Radialsystem / Sasha Waltz & Guests; Friederike Hofmeister, Radialsystem; Sasha Waltz, Sasha Waltz & Guests; Jacob Höhne, Rambazamba Theater; Guntbert Warns, Renaissance-Theater Berlin; Anselm Rose, Rundfunk Orchester und Chöre gGmbH Berlin; Kerstin Müller, Franziska Werner, Sophiensæle; Dr. Christiane Theobald, Staatsballett Berlin; Matthias Schulz, Staatsoper Unter den Linden; Andrea Pier, Stage Theater des Westens; Andrea Zietzschmann: Stiftung Berliner Philharmoniker; Lars Georg Vogel, Vaganten Bühne.
Das Ballett-Journal hat seine Meinung bereits früher kundgetan und oben nochmals wiederholt. Im Gegensatz zu den protestierenden Theaterchefs erhält es aber keine Subventionen und auch kein festes Einkommen, sodass wir freundlichst um eine Spende bitten dürfen: