Die kommende Premiere beim Staatsballett Berlin (SBB) wird klassisch gesonnene Zuschauer nicht gerade zahlreich anlocken. Aber wer technischen, modernen Bühnenzauber mag, der ist genau richtig. „Overture“ vereint die gleichnamige Uraufführung von Marcos Morau und das vier Jahre alte Stück „Angels‘ Atlas“ von Chrystal Pite. Beide sind Choreografen der Gegenwart, die als jung gefeiert werden, obwohl sie die 40 überschritten haben. Aber ihr an der Technik orientierter Stil soll das junge Publikum anlocken, und darum werden sie als hypermodern vermarktet. Staatskultur ist heutzutage eben oft nur noch Zielgruppenmarketing. Faktisch spielen Inhalte kaum eine Rolle bei diesen beiden Künstlern, dafür widmen sie sich sehr hingebungsvoll dem, was Bühnentechnik und die Ausstattungsbranche an Effekten alles ermöglichen. Zirkus statt Kunst – bei Chrystal Pite gibt es ihn mit mehr Intellekt als bei Morau, der stattdessen gern mit dem Idiom Traum-Alptraum spielt.
Marcos Morau war nie Tänzer, mischt aber mehr oder weniger inspiriert seine Bildung in seine Stücke. Für den bürgerlichen Hintergrund hat er einen Master-Abschluss in Theatertheorie, prägend war für ihn indes die Auseinandersetzung mit Film und Fotografie. In Valencia geboren, begann er dort am international nicht sehr bekannten Conservatorio Superior de Danza Choreografie zu studieren. Auch am Institut de Teatre in Barcelona und am Movement Research in New York besuchte er Kurse. An Geld hat es ihm nie gemangelt, und das ist heute entscheidend: 2005 gründete Morau in Barcelona seine eigene Compagnie namens „La Veronal“.
Veronal hieß ein vor 124 Jahren erfundenes Schlafmittel, das erste Hypnotikum, das in hohen Dosen auch narkotisierend wirkte. Es war das erste auf dem Markt erfolgreiche Barbiturat: Es garantierte traumlosen festen Tiefschlaf. Weil es bald zur Selbstmörderwaffe Nummer Eins wurde (Arthur Schnitzler berichtete schon 1923 in einer Novelle davon) und zudem ziemlich starke Nebenwirkungen hatte – vor allem auf Blutdruck, Herzfrequenz und Atem – verlor es an Beliebtheit.
Sein hoher Suchtfaktor, der zu körperlichen und auch seelischen Abhängigkeiten führte, war ein weiterer großer Nachteil. Schließlich wurde Veronal vom Markt gedrängt und in den 1960er-Jahren von anderen Barbituraten ersetzt. Veronal galt bald als Teufelszeug, die Produktion wurde eingestellt.
Man muss einigermaßen dekadent sein, um seine Tanztruppe so zu nennen wie dieses Teufelszeug.
Marcos Morau fehlt es jedenfalls nicht an moralischen Skrupeln, vermutlich ist auch das eine Art von Humor.
Jedenfalls war sein Aufstieg als Liebling neuer Trendsetter im Tanzbereich nicht zu stoppen. In Madrid, wo er 2013 auch den Nationalen Tanzpreis von Spanien erhielt, in Göteborg, Rotterdam und Lyon choreografierte er, und vor allem die Ballettadressen Royal Danish Ballet in Kopenhagen und NDT (Nederlands Dans Theatre) in Amsterdam sorgten für Renommee. Letztes Jahr inszenierte er in Zürich seine „Nachtträume“, in denen er die Köpfe von Menschen durch matt leuchtende Lampen in Glühbirnenform ersetzte.
In Berlin hat er, dank Ballettintendant Christian Spuck, gleich den Status eines „Artist in residence“ erhalten, noch vor seiner ersten Kreation hier. Bekannt ist Morau dem Berliner Publikum von vier Gastspielen im Rahmen des Festivals „Tanz im August“, das ausschließlich den so genannten zeitgenössischen Tanz fördert, nicht das Ballett.
Moraus Credo: „Ich inszeniere, wie ich die Welt sehe“. Das mag für manche Menschen interessant sein, für andere weniger. Eine inhaltlich geprägte positive Vision muss man eher mit der Lupe suchen. Spektakuläre Gruppenaufzüge interessieren ihn stärker als nachvollziehbare Charaktere oder menschlich anrührende Situationen.
Einen „Wach- und Aufrüttler“ nennen ihn dennoch seine Lobhudler. Allerdings sind die vielleicht auch etwas verschlafen.
In „Overture“ illustriert Morau seine Sicht auf die Dinge zu Musik von Gustav Mahler. Der österreichische Spätromantiker wird seit den 70er-Jahren gern für Ballett verwendet. Bahnbrechend ist die „Dritte Sinfonie von Gustav Mahler“, die John Neumeier 1975 in Hamburg kreierte. Kenneth MacMillan und Maurice Béjart schöpften ebenfalls bemerkenswerte Stücke wie die „Songs of a Wayfarer“ (MacMillan) und „Ce que la Mort me dit“ (Béjart).
Auch Angelin Preljocai nutzt in seinem bisher besten Stück, in seinem grandiosen „Schneewittchen“, welches ab 2009 in der Malakhov-Ära beim Staatsballett Berlin zu sehen war, die düster-utopischen Klänge von Mahler. Unvergessen: Wie zum ersten Satz seiner dritten Sinfonie die sieben Zwerge als Bergarbeiter an Seilen an einer Felswand auf- und abtanzen.
Jetzt ist zu befürchten, dass die pompöse Mahler-Musik der Staatskapelle Berlin unter dem Dirigat von Marius Stravinsky für jenes Gefühl sorgen soll, das der Choreograf mit tänzerischen Mitteln nicht so richtig hinbekommt. „Overture“, also „Ouvertüre“ oder auch „Auftakt“, heißt das Werk denn auch möglicherweise aus Verlegenheit. Oder schlicht, weil es hier das erste im Programm des Abends ist.
Eine andere Möglichkeit: Der Titel ist bei Alexei Ratmansky abgeguckt, der seine letzte Münchner Ballettpremiere „Tschaikowski-Ouvertüren“ nannte. Vielleicht aber soll das Berliner Schlagwort „Overture“ auch nur in seiner Musik mitunter stark endzeitlich-apokalyptisch gestimmten Gustav Mahler optimistisch aufwerten oder gar ironisch-sarkastisch kommentieren. Bei Marcos Morau weiß man nie: Die Deutung unterliegt der Hoheit der Rezipienten.
Optisch wird Morau sich jedenfalls bemühen, einen Augenschmaus aus ungewöhnlichen Tanzbildern zu servieren. Nur inhaltlich fehlt halt was. Derzeit steht auf arte.tv ein Ausschnitt aus „Sonoma“ – und man erkennt, dass Morau als Choreograf musikalisch sehr unbegabt ist. Um Emotionen in Tanz zu fassen, benötigt man aber gerade Musikalität.
Große, aufgebauschte, theatrale Bilder statt echter Rührung – daran wird auch Moraus Dramaturg Israel Solà nichts ändern können.
Fernsehzuschauer sahen übrigens im letzten Jahr die „Dornröschen“-Version von Marcos Morau auf arte. Mich überzeugte sie nicht, sie hatte mit dem ursprünglichen Thema auch nichts mehr zu tun.
Aber man soll die Hoffnung nie aufgeben.
Chrystal Pite bietet im zweiten Teil des Abends bewährte Kost, die sie 2020 fürs National Ballet of Canada in Toronto kreierte. Die Idee zu „Angels‘ Atlas“ („Der Atlas der Engel“) kam von ihrem Lebensgefährten, ihrem Bühnenbildner Jay Gower Taylor. Sein Licht-Design ist hier der eigentliche Star.
Pite gibt seitenweise Interviews über ihre Faszination durch diese Licht-Technik. So erfand ihr Partner eine Methode, um Lichtreflexionen zu verstärken und zu „manipulieren“, wie Pite es nennt.
Der großen Bühnentechnik nach Morau folgt also die große Lichtshow bei Pite.
Inhaltlich verspricht das SBB einen Beitrag zu „großen Menschheitsthemen“. Welche konkret das sein sollen, wird geflissentlich verschwiegen. Es sei ein Gefühl, „als tanze man am Abgrund“, sagte ein Tänzer aus Toronto. Für die Choreografin ist ein Gefühl aus der Kindheit erinnerlich, als ihr Großvater über das Universum sprach. Der Mensch – fällt, als Quasi-Ameise, in die Weite der Welt, als hätte er darin nichts verloren.
Reihenweise fallen die Tanzenden hier sanft zu Boden, während hinter ihnen stilisierte Nebel als Projektion aufsteigen. Das Licht ändert sich wie in einem Panoptikum, die Welt ist also stetig im Wandel.
Es geht derweil eher um den Weltuntergang als um die Welt an sich – was sehr schön als abschließende Ergänzung zu Moraus aufgedonnerter Inszenierung passt.
Die Choreografin Pite selbst jedoch meint, Tanz sei immer eine Geschichte des Verschwindens. Ob das in ihrer Ansicht auch für Musik gilt, die ebenfalls flüchtig ist, wenn man sie hört, weiß Pite nicht.
Aber für ihr Stück erhielt sie original dafür geschriebene Klänge.
Dieser Sound stammt von Owen Belton. Meeresrauschen, metallische Klänge und Orgelakkorde sind darin am Computer vermengt, anbei sind aber auch Chöre von Peter I. Tschaikowsky („Hymn of the Cherubim“) und Morten Lauridsen zu hören.
Nur aus dem Orchestergraben kommt nichts, die Staatskapelle hat für dieses Stück frei.
Melancholie, Abschied, tränennasses Schlafwandeln – in dieser Stimmung lässt Pite uns schwelgen.
Ihre künstlerische Herkunft ist eng mit William Forsythe verknüpft. Er engagierte sie auch ohne Abschluss einer Ballettschule 1996 in Frankfurt/ Main. Die Kanadierin hatte als Kind mit privatem Jazz Dance, Gesangs- und Schauspielunterricht begonnen. Mit dreizehn schuf sie ihre erste Choreo. In Workshops lernte sie weiter, bis sie 1988 Tänzerin beim international wirklich sehr wenig bekannten Ballet British Columbia in Kanada wurde. Seit 1989 choreografiert sie professionell, und 2001 erhielt sie Geld, um in Vancouver / Kanada ihr eigenes Ensemble zu gründen, das KIDD PIVOT.
2010 wurde sie wieder nach Frankfurt an den Main geholt, seitdem ist sie international als Choreografin tätig. Beim Cullberg Ballet in Stockholm, beim NDT, beim National Ballet of Canada, beim Royal Ballet in London, beim Ballett der Pariser Opéra. Ihre Pariser Arbeit trug ihr glatt den Prix Benois de la Danse ein, den höchsten Tanzpreis weltweit, der in Moskau verliehen wurde.
Eine kleine kanadische Universität – die Simon Fraser University in dem Städtchen Burnaby – verlieh Pite die Ehrendoktorwürde, wohl, um vor allem selbst bekannter damit zu werden.
Das Prinzip Hoffnung residiert jedoch nicht wirklich in Pites Vorgehensweise. Ihr künstlerisches Wirken ist von totaler Provokation mit den Mitteln außergewöhnlicher Theatertechnik bestimmt. Das gilt auch für „Angels‘ Atlas“.
Vergänglichkeit, Weltuntergang – und der vergebliche Kampf der Körper dagegen: Fast mutet diese Arbeit von Chrystal Pite wie ein Requiem an.
Denn die Engel mit dem Atlas aus dem Titel, also jene Engel, die mit Atlas‘ starken Schultern die Welt aufrecht und zusammen halten, werden vermutlich untergehen. Denn auch ihre Wegweisung durch einen Atlas – hier im Sinne von Straßenkarten – ist vom Chaos geprägt, nicht von einer Athene oder gar einer Aphrodite.
Doch eines ist gewiss: Bei der Berliner Premiere wird es nach „Angels‘ Atlas“, wie auch nach „Overture“ von Marcos Morau, gnadenlosen Beifall geben. Wir wünschen viel Spaß dabei!
Gisela Sonnenburg
Fotos zur Premiere am 28. April 2024 in der Staatsoper Unter den Linden – keine Rezension!