London rüstet auf Lynne Charles, ehemals eine Neumeier-Ikone, wird künstlerische Leiterin der Ballettschule vom English National Ballet

Lynne Charles geht nach London

Lynne Charles, hier im Ballettsaal – wo sonst. Faksimile von YouTube: Gisela Sonnenburg

Der englische Import kommt aus Deutschland: Lynne Charles, seit 55 Jahren in der Ballettszene als Profi aktiv, verbrachte ihre meiste Zeit als Ballerina bei John Neumeier in Hamburg, beim damaligen Ballett der Hamburgischen Staatsoper, dem heutigen Hamburg Ballett. 1975 wurde die gebürtige New Yorkerin dort Mitglied des Ensembles – und brillierte bald in Hauptrollen. So als Hippolyta und Titania in „Ein Sommernachtstraum“, in der „Dritten Sinfonie von Gustav Mahler“, in „Dornröschen“, in „Romeo und Julia“, auch in der „Kameliendame“. In einer wild-erotischen Neudeutung von „Petruschka“ und auch in der lasziven Neumeier-Version von „Don Juan“. In Neumeiers „The Age of Anxiety“ nach dem Versdrama von W. H. Auden war sie ebenso unverwechselbar wie in klassisch-romantisch anmutenden Partien à la „Giselle“. Ihre Tänzerkarriere beendete sie aber als Gastsolistin, unter anderem beim English National Ballet (ENB) in London – und genau dorthin kehrt sie jetzt zurück, und zwar als annoncierte neue künstlerische Leiterin der ENB School (ENBS).

Als Trainerin erwarb sich die kleine, zarte, aber außerordentlich virile Lynne, die mit vollem Namen Lynne Roberta Charles heißt, international einen sehr guten Ruf, vor allem allerdings durch die Arbeit mit erwachsenen Tänzern.

Aber in Sachen Spitzenschuhen ist sie weltweit eine absolut einzigartige pädagogische Koryphäe: Mit der von ihr entwickelten Methode „4Pointe“ half sie schon unzähligen Mädchen bei der Spitzenschuh-Arbeit.

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Jetzt wird ihr ureigenes Projekt mit der Ausbildung an der ENBS fusionieren. Und die Royal Ballet School vom Royal Ballet in London bekommt somit zunehmend Konkurrenz in derselben Stadt – sicher nicht zum Nachteil der Wettbewerbsfähigkeit der Stadt in puncto Ballett. London rüstet auf, was die Ausbildungsmöglichkeiten für Ballettnachwuchs angeht: dank Lynne.

Sie selbst ging mit bestem Beispiel spitzenschuhmäßig voran. Wer sie hat in Spitzenschuhen tanzen sehen – damals galten die der Marke Freed‘s (heute Freed of London) als Optimum mit softer Sohle – wird es nie vergessen. Ihr hoher Spann, ihre sanfte Abrolltechnik, ihre auswärts und hoch gehaltene Ferse – all das machte ihr Fußpaar zu einem wahren Traum aus Ballettwünschen.

Äußerst zierlich, konnte Lynne ihre Beine mit diesen phänomenalen Füßen präsentieren wie kaum eine zweite Ballerina in Deutschland.

Ihre Ehe mit dem Drehbuchautor und Schauspieler Neithardt Riedel hielt nicht eben ewig. Aber wirklich fest verbandelt war Lynne wohl eh vor allem mit dem Ballett. Und sie zog ihren Sohn groß – als Freiberuflerin wuppte sie das, zweifelsohne keine Kleinigkeit.

Lynne Charles geht nach London

Lynne Charles 1983 in Hamburg mit Galina Ulanova, an der „Giselle“ arbeitend. Foto: Holger Badekow, aus dem Band „John Neumeier und das Hamburg Ballett 1973 – 1983“. 

Als Muse war Lynne Charles übrigens nicht nur für John Neumeier eine Größe, sondern auch für Maurice Béjart und Roland Petit, die für sie kreierten. Und den Esprit für „Giselle“ lernte sie, dank Neumeier, sogar bei Galina Ulanova persönlich, die dafür aus der Sowjetunion nach Hamburg reiste.

Jetzt reiht sie sich ein in die Riege der ehemaligen Neumeier-Tänzer, die den hochkarätigen Nachwuchs unterrichten und prägen: Gigi Hyatt leitet die Ballettschule vom Hamburg Ballett John Neumeier; Kevin Haigen leitet das Bundesjugendballett; Jean-Yves Esquerre leitet die European Ballet School; Ivan Liska leitet das Bayerische Juniorballett. Und dann gibt es noch all jene, die als Pädagoginnen und Pädagogen weltweit tätig sind.

Lynne Charles geht nach London

Ivan Liska als Romeo, Lynne Charles als Julia – für viele eine Traumbesetzung. Damals, in Hamburg bei John Neumeier. Foto: Holger Badekow, aus „John Neumeier und das Hamburg Ballett 1973 – 1983“. 

Dass sie die Beine und die Füße ihrer Studentinnen beim Lehren anfassen muss, ist zudem kein Thema bei ihr. Es gibt ja in der Tat heutzutage Bestrebungen, jegliche Berührung im Ballettunterricht verbieten wollen – Lynne Charles weiß, dass das dann keine guten Resultate bringen würde, in keiner Hinsicht.

Lynne Charles wird nun all ihr Fachwissen und ihr Feingefühl gezielt weiter geben: an die kommenden Londoner Generationen von Tänzerinnen und Tänzern, und sie wird die ENBS ernsthaft weiter entwickeln. Allen daran Beteiligten sei dazu herzlich gratuliert!
Gisela Sonnenburg

www.4-pointe.com

Lynne Charles geht nach London

Wild und kontrolliert zugleich: Lynne Charles in „Der Widerspenstigen Zähmung“ von John Cranko. Foto: Marcel Fugère, aus dem Jahrbuch vom Hamburg Ballett 1979. 

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