Eine Frau tanzt, um ihrem Geliebten mitzuteilen, dass sie schwanger ist. Ganz sachte setzt sie die Schritte. Und er nimmt die Nachricht auf wie ein Gebet: lyrisch, inbrünstig, erfreut. Dabei ist sie noch mit einem anderen verheiratet. Aber die Liebenden befinden sich emotional im Höhenflug, schier außerhalb von Zeit und Raum. Die Geburt wird dennoch ein Trauma, geprägt vom Gerangel der beiden Männer um eine Frau und ein Baby. So ist es zu erleben in „Anna Karenina“ von John Neumeier. Er verlegte für sein abendfüllendes tragisches Ballett die Geschichte, die einst Leo Tolstoi für seinen gleichnamigen Roman erfand, in unsere Gegenwart. Zu Musiken von Peter I. Tschaikowsky und Alfred Schnittke, aber auch zu einem Song von Cat Stevens, tanzt das Hamburg Ballett die fulminante Story, die mit großem Personal und zahlreichen Beziehungsgeflechten aufwartet. Seit seiner Entstehung als Koproduktion mit dem Bolschoi Ballett(Moskau) und mit dem National Ballet of Canada (Toronto) im Jahr 2017 erfuhr das Werk nicht nur im Ballett-Journal zahlreiche Lobeshymnen. Jetzt präsentiert man das Mammutwerk in Hamburg mit teils neuen Besetzungen: facettenreich und furios.
Die Titelfigur indes blieb gestern Anna Laudere vorbehalten, jener Ballerina, der John Neumeier sie auf den schönen Leib schneiderte. Zwar war auch Svetlana Zakharova, auf deren Anregung hin Neumeier den Romanstoff wählte und die die russische Erstaufführung tanzte, eine Muse für das Stück. Und Olga Smirnova, die bald in Hamburg als „Anna Karenina“ an der Seite von Jacopo Bellussi gastieren wird, hat auch ihren kleinen Anteil an der Entstehung des Balletts. Aber AnnaLaudere kreierte die Partie bei den Proben mit John Neumeier im Ballettsaal in Hamburg, und bis auf den heutigen Tag gibt es für sie wohl keinen besseren Ersatz: Es ist einfach ihr Stück.
Und auch Anna Kareninas Kostüme – zahlreich und erlesen, von dekadenter schwarzer Noblesse mit Schleppe über ein vornehm-blasses Nachmittagskleid bis hin zu erotischer Intimität mit einem Hauch von Nichts für heiße Liebesnächte – sind an Anna Lauderes ultraschönen, nicht mal balletttypischen Proportionen orientiert. Der Modedesigner Albert Kriemler hat die Klamotten übrigens entworfen. Nicht zum ersten Mal arbeitete er für ein Neumeier-Ballett, aber für „Anna Karenina“ hat er sich selbst übertroffen.
Wenn Laudere darin mit ausdrucksstarkem Bewegungsfluss tanzt, ist es, als zöge sie einen damit hinein in ihre Welt. Der Ehemann ist schließlich Politiker, heuer mit viel Verve getanzt von Mathias Oberlin. Mit virtuosem Schauspiel ohne Worte und mit grandios-verzwicktem Tanz zeigen die beiden eine Beziehung, die am Ende ist: Karenin braucht die Gattin nur noch für seinen Wahlkampf, und sie, das einst als Sexsymbol bewunderte Mannequin, sehnt sich nach gefühligem Auftrieb jenseits der Machtclique, in der ihr Mann verkehrt.
Mit dem schönen Grafen Wronski – neu besetzt mit dem brillant charmierenden, dabei bis zum Anschlag verliebten Alexandr Trusch – trifft sie das Faszinosum Mann auf dem Bahnhof. Er ist hier Profi-Sportler, spielt das Lacrosse-Spiel und lässt sich feiern oder bemitleiden, je nach Spielverlauf. Während es zwischen den beiden Liebesbereiten made by Tolstoi mitten im bunten Gedränge der Masse Mensch am Bahnhof funkt, stirbt ein Mann aus einer ganz anderen sozialen Schicht: Der Muschik (seit 2017 exzellent von Karen Azatyan verkörpert), der zunächst im orangefarbenen Arbeiteranzug tödlich verunglückt, geistert fortan wie ein Schutz- und Todesengel zugleich durch das Tanzdrama.
Auf einem Ball treffen sich Anna und Wronski wieder, dieses Mal gibt es kein Entrinnen: Wronski umwirbt sie, Anna genießt die neue Liebe in vollen Zügen, stärker als ihre Zigarette, die er ihr hier altmodischerweise noch anzünden darf. Das Liebesschicksal nimmt seinen Lauf…
Weitere handelnde, tanzende und leidende Personen sind:
Annas Schwägerin Dolly, in der Neubesetzung bravourös getanzt von Haley Page, die so endlich mal solistisch zeigen kann, was sie alles drauf hat, und die als Gattin eines untreuen sexuellen Schwerenöters allerhand auszuhalten hat. Ein Kind nach dem anderen besorgte der virulente Ehemann ihr; dennoch findet er noch Zeit und Lust, dem Kindermädchen nachzusteigen.
Florian Pohl tanzt diesen Schürzenjäger namens Stiwa mit größter muskulöser Selbstverständlichkeit. Und er demonstriert mit Lässigkeit, was sich ein Macho im patriarchalen System der Ehe so alles herausnehmen kann.
Das nächste Paar verblieb seit der Uraufführung von „Anna Karenina“ in der bestmöglichen Hamburger Besetzung: Die wunderbare Emilie Mazon tanzt die junge Kitty, die zunächst mit Wronski verlobt ist und dann von ihm verlassen wird, und die sich fabelhafterweise in Lewin, nachgerade ruhmreich von Aleix Martínez dargestellt, verliebt, um dann mit ihm so ursprünglich und tatenreich zu leben wie Bio-Bauern aus Leidenschaft. Samt Traktor und Heuernte auf dem eigenen Landgut.
Kitty erleidet allerdings, bevor sie dem hartnäckig um sie werbenden Lewin ihre Hand anvertraut, einen Nervenzusammenbruch. Ihr lasziv-verzweifelter Unglückstanz, in gewisser Weise als negatives Pendant zum eingangs beschriebenen Glückstanz der schwangeren Titelfigur Anna Karenina angelegt, gehört mit zum Besten, was Neumeier der Ballettgeschichte je geschenkt hat.
Aber auch die Pas de deux in diesem Stück sind so vielfältig und expressiv, dass einem der Kopf schwirrt, wenn man sie im Rückblick miteinander vergleicht.
Sanfte Liebe, gierige Liebe, gelangweilte Liebe, exzessive Liebe, bodenständige Liebe, zarte Liebe, zerbrechende Liebe, enttäuschte Liebe, geheilte Liebe – als Mutterliebe, als Partnerliebe, als freundschaftliche Liebe, als eifersüchtige Liebe zeigt sich das mächtigste aller Gefühle in vielen Kostümen und Erscheinungen.
Eigentlich würde der emotionale Pool dieses Stücks für vier oder fünf abendfüllende Ballette mindestens genügen. Es zeichnet John Neumeier und sein Genie aus, dass er es schafft, so viel in einem Stück zu vermitteln.
Die Musik, von Nathan Brock einfühlsam dirigiert, füllt da noch weiter den Reservetank an Liebe auf: Tschaikowsky sorgt für das russisch-romantische Flair der Story, Schnittke für ihren dämonisch-dramatischen Odem. Und Cat Stevens alias Yusuf Islam singt mit „Morning has broken“ unsterblich vom Band, was unzählige Menschen als zeitgenössische Pop-Romantik abspeichern: Der Mensch und die Natur gelten ihnen als unverbrüchliche Einheit.
Das Stichwort „Mutterliebe“ fiel soeben. Tatsächlich liebt Anna Karenina ihren Jungen Serjoscha, der vom Ballettschüler Felix Koch sehr bühnenwirksam, fast katholisch in seiner Folgsamkeit und dennoch mit perfekten Neumeier-Linien dargestellt wird.
Für ihr zweites Kind, das ja auch eines der Liebe ist und dessen schwierige Geburt eine exorbitante Szene zu dritt mit den beiden Männern Karenin und Wronski ist, hat Anna aber nach der Niederkunft keine einzige Szene mehr. Hier fehlt ein Steinchen im Portraitpuzzle der Figur, will man die Karenina nicht doch noch als Rabenmutter abstempeln. Vermutlich musste sie das Kind bei der Trennung von Karenin bei ihm lassen, nicht als Pfand, sondern weil er zum Zeitpunkt der Geburt rechtlich als sein Vater galt. Aber macht ihr das nichts aus? Einen Teil ihres Kummers müssen wir uns denken.
Das schlechteste weibliche Klischee erfüllt sie schließlich, als sie auf Wronski, mit dem sie im zweiten Teil des Stücks in relativer gesellschaftlicher Isolation lebt, über jedes Maß hinaus eifersüchtig wird. Eine gewisse Prinzessin Sorokina ( der Rolle gemäß selbstbewusst, aber eiskalt: Greta Jörgens), die auf Festen herumstolziert und in den teuersten rosa Tüll gehüllt ist, weckt so ziemlich jedes männliche Interesse der Heteros: zu schön, zu elegant, zu unerreichbar scheint sie, als dass Männer sie ignorieren könnten.
Für Anna Karenina beginnt ein Teufelskreis der schwachen Nerven: Sie verfällt in eine Depression, sieht sich vereinsamt, abgeschnitten vom geliebten Sohn und womöglich verraten vom Liebhaber, dem sie so viel geopfert hat.
Als sie umkippt, dabei immer noch bildschön aussieht und sofort bühnentechnisch in ein Grab entsorgt wird, steht längst fest, dass hier eine Frau an einer Männerwelt gescheitert ist.
All die glücklichen Paare, die im Corps de ballet tanzen, hätten bewundernd zu ihr aufschauen können, weil Anna für die Liebe die gesellschaftlichen Konventionen überwand. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die gemeine Menschheit erkennt nicht, was sich in Wirklichkeit abspielt. Sie applaudiert dem propagandistisch aufgebauten Politiker, der mit seiner Assistentin – neu und ganz superbe besetzt mit Xue Lin – frömmelt und einen neuen Anfang in Sachen Liebe wagt.
So umfassend also ist das Panorama der Beziehungen in „Anna Karenina“: Es sich nur ein Mal anzusehen, genügt da kaum. Die Standing Ovations nach der Debütnacht am gestrigen Freitag sprachen da ebenfalls Bände.
Gisela Sonnenburg / Anonymous