Ein Prinz der eleganten Vielseitigkeit Als Solist und Choreograf entwickelt sich Arshak Ghalumyan beim Staatsballett Berlin zum Star – und ist zudem Mitglied der „Armenian Connection“

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Arshak Ghalumyan in Berlin: ein außergewöhnliches Tänzertemperament, ein Hingucker auf der Bühne und ein einfühlsamer Choreograf. Backstage und privat ist er hilfsbereit und unkompliziert – aber zielbewusst. Foto: Gisela Sonnenburg

Pirouetten am Morgen – vertreiben Kummer und Sorgen. Jedenfalls, wenn man Arshak Ghalumyan, dem knapp 30-jährigen Armenier, beim Training mit dem Staatsballett Berlin zusieht. Dreifach, fünffach, siebenfach zähle ich seine Umdrehungen – und nicht nur en dehors, also in der gängigeren Drehrichtung, sondern auch en dedant, also entgegen gesetzt, sehen seine Pirouetten super elegant aus. Andere mögen noch öfter drehen – aber bei Arshak Ghalumyan guckt man hin: Er hat Flair, Ausstrahlung, dieses gewisse Etwas, das für große Künstler unerlässlich ist.

Nun fängt die „class“, die tägliche morgendliche Schule eines Ballerinos, nicht gleich mit Rotationen an. Ballettmeisterin Barbara Schroeder beginnt das Training ganz langsam, soft – und steigert dann erst das Tempo, bald auch die Schwierigkeitsgrade. Das Zusehen macht Spaß und schult das Verständnis für die Tänzer – man sieht, wie so ein professionelles lebendes Kunstinstrument, also ein Tänzerkörper, langsam warm wird, sogar heiß läuft und immer schöner zu Posen und Linien erblüht.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

„The Nights“: im lasziven LIebesspiel-Ballett von Angelin Preljocaj machte Arshak Ghalumyan eine ausgesprochen schöne Figur – als Partner wie als Synchrontänzer. Foto: Bettina Stöß

Arshak Ghalumyan trägt zu Beginn eine wattierte warme Weste überm Shirt, eine lange Trainingshose und aufgeplusterte Wärmestiefel, die aussehen, als käme er damit gerade von einer Nordpolexpedition. Nach einigen Übungen an der Barre, der Ballettstange, entblättert sich der schöne Mann; übrig bleiben ein schlichtes Shirt, Hotpants, Schläppchen – alles in Schwarz – sowie dunkelroséfarbene gestrickte Knöchelwärmer, die, bis zur Wade hochgezogen, einen stiefelähnlichen Eindruck machen. Irgendwie entsteht aus diesen farblich geschickt kombinierten Trainingsklamotten ein richtiges Stück Mode. Aber ob das außer mir überhaupt jemand bemerkt?

Die Hauptsache an der „class“ ist ja die Kondition, die hier trainiert wird, die harte Arbeit am eigenen Leib, der für die Bühne fit und biegsam, leistungsstark und motorisch in Form gehalten wird. Wenn sich ein Tänzer verbessern will, ist diese morgendliche Schulung das Wichtigste in seinem Leben – neben den Aufführungen, selbstredend.

„Als ich ein Kind war, bekam ich Unterricht in Folkloretanz“, erzählt Arshak, der sowohl Englisch als auch Deutsch in angenehm gleichmäßigen Tonfall spricht. Er erklärt: „Folklore ist sehr beliebt in Armenien.“ Seine Tanzklasse machte einen Ausflug zum Ballett, ins Opernhaus. Arshaks Mutter begleitete ihren Sohn. Und bemerkte seinen begeisterten, neugierigen Gesichtsausdruck, mit dem er auf die Bühne sah. Sie fragte ihn: „Möchtest du auch so tanzen können?“ Er wollte.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Im gelben Röckchen: Arshak Ghalumyan in William Forsythes „Herman Schmerman“ – eine Glanzrolle der Moderne, technisch wie darstellerisch pikant und ein großer Erfolg! Foto: Bettina Stöß

In der Staatlichen Ballettschule in Eriwan, Armenien, waren sie froh, dass sie ihn hatten. Arshak Ghalumyan ist ein Naturtalent, er hat das Zeug für tolle, atemberaubend hohe Sprünge und für diese beim Hingucken fast schwindelerregenden Pirouettenexzesse ­– aber er hat auch die Feinmotorik für ein vornehmes Adagio und ein blitzschnelles Allegro. Große Sprünge, kleine Sprünge, wieder große Sprünge: Arshak beherrscht mit den verschiedenen Formen auch die verschiedenen Stilrichtungen, in denen sie am besten zur Geltung kommen.

Battierte kleine Sprünge, bei denen die Beine blitzschnell in der Luft gekreuzt und aneinander geschlagen werden, wirken wie à la Auguste Bournonville einstudiert – der Däne revolutionierte aus der Not einer eigentlich zu kleinen Ballettbühne heraus im 19. Jahrhundert den klassischen Tanzstil, machte die kleinen und mittelgroßen Sprünge zu etwas Besonderem, indem sie nicht flach und weit nach vorn, sondern vor allem hoch gesprungen werden. Die großen Sprünge, etwa die Spagatsprünge und Drehsprünge, sehen bei Arshak sehr stilsicher nach Waganowa aus – seine Lehrer in Eriwan lehrten ihn denn auch die saubere Schule von Aggrippina Waganowa, die vor rund hundert Jahren ohnehin den absoluten Maßstab fürs Klassisch-Russische schuf.

Als Arshak das erste Mal in seinem Leben auf der Bühne stand, tanzte er dasselbe Kinderballett, das er voher, mit der Folkloreschule und seiner Mutter, auf der Bühne gesehen hatte. Diese Erfahrung, dass sich da ein Kreis schloss, gab Arshak Ghalumyan früh ein solides Gefühl der Sicherheit und Gelassenheit, gepaart mit dem Wissen, dass man im Tanz etwas erreichen kann, wenn man sich anstrengt. Das ständige Weiterwollen ist dabei das Credo: Fleiß, Ehrgeiz, Lust an Leistung und die Freude daran, so einen Punkt der künstlerischen Wahrhaftigkeit zu finden, verschmelzen.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Auf der Bühne entsteht die Magie: Arshak Ghalumyan ist immer ein Hingucker, hier mal in ganz nobler Haltung. Mit Prinzenreife! Foto: Bettina Stöß

Auf der Bühne entsteht daraus eine Art Magie; ein Maximum an Power, kombiniert mit Leidenschaft und Spielfreude. Arshak Ghalumyan on stage – ist einfach immer eine Sensation! Ob als Tybalt in „Romeo und Julia“ oder ob als Mäusekönig im „Nussknacker“: Da ist so ein gewisses Flair um ihn, das ihn auch mit viel Verkleidung am Leib noch unverwechselbar macht.

Als Arshak nach neun Jahren Ballettunterricht in Eriwan – unter härtesten Bedingungen, denn Armenien ist ein armes Land, und im Winter fand der Unterricht in kaum geheizten Ballettsälen statt – 2002 den Prix de Lausanne gewann, öffnete ihm das die Tür zur mitteleuropäischen Ballettelite. Ghalumyan setzte seine Ausbildung an der renommierten Ballettschule vom Hamburg Ballett fort, wo John Neumeiers legendärer Ballettmeister und Pädagoge Kevin Haigen ihm das grundlegende Einmaleins des Bühnenauftritts beibrachte.

Auch Unterricht in modernem Tanz hatte Arshak erstmals in Hamburg. Und John Neumeier höchstselbst erarbeitete mit ihm die sprunggewaltige, männliche Hauptrolle in seinem „Le Sacre du printemps“ – ein guter Auftakt für einen Tänzer, den seine Eleganz und Vielseitigkeit auszeichnen. Denn heute ist Arshak Ghalumyan in klassischer Tanztechnik ebenso ein As wie in den modernen Stilen. Dabei hat er immer etwas Ritterliches, Adliges, Prinzliches, ist ein Kavalier und Partner von höchster Zuverlässigkeit, und egal, in welchem Stil er gerade tanzt – es hat so eine ganz bestimmte, angenehm meditative Arshak-Ghalumyan-Note. Rudi Nurejev hatte dieses unverwechselbare Flair, Mikhail Baryshnikov hatte es – viele, aber nicht alle Tänzer haben so eine persönliche Aura, die jede ihrer Rollen und Partien aufwertet.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

„Static Time“: Im Moment, in dem der Tod siegt, bleibt die Zeit stehen… Arshak Ghalumyan und Dominic Hodal in Nacho Duatos jüngstem Stück im Abend „Duato / Kylián“ beim Staatsballett Berlin. Foto: Fernando Marcos

Den aktuell in Berlin angesagten Geschmeidigkeitsgestus von Nacho Duato hat Ghalumyan bereits so stark verinnerlicht, dass er als Duato-Spezialist gelten kann. In den Stücken „Arcangelo“, „Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ und in „Static Time“ stellt er das bei jeder Vorstellung aufs Neue gern unter Beweis. Da scheint sein Körper von einer Form in die andere zu fließen, wie eine lebende Skulptur, ohne harte Kanten oder Brüche. Wenn sich die muskulösen Schultern zur Seite schieben, um dann den Rest des Körpers folgen zu lassen, denkt man fast an den „moonwalk“ – dennoch geht es hier nicht um Entertainment, sondern um eine wie in Zeitlupe zelebrierte Avantgarde-Ästhetik.

Doch was so leicht und fast verspielt aussieht, ist das Ergebnis harter und härtester täglicher Arbeit – und auch einer gegen sich selbst fast rücksichtslosen Tapferkeit. Arshak: „Mein Lehrer in Armenien hat immer gesagt: ‚Wenn du morgens ohne Schmerzen aufwachst, bist du kein Tänzer.’ Daran halte ich mich.“ Das muss man nun weder erklären noch kommentieren. Aber man kann es bewundern.

Größere Verletzungen hatte Arshak – toitoitoi – bislang nie; das mitunter monatelange Aussetzen, das viele Jungtänzer in ihrem Werdegang behindert und auch seelisch belastet, blieb ihm erspart.

Wer ihn, wie ich, seit vielen Jahren beobachtet und bemerkt, wie gut er sich entwickelt und von Rolle zu Rolle an Sicherheit wie an technischer Finesse zulegt, wundert sich, dass er nicht schon längst regulär auch Prinzenrollen tanzt. Vielleicht gibt es da so etwas wie einen Platzvorteil blonder Tänzer? Vielleicht werden die ganz Dunkelhaarigen, die, wie Arshak, sichtlich keine gebürtigen Westeuropäer sind, bei der Hauptrollenvergabe schnell mal übersehen?

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Arshak Ghalumyan: zu dunkel für die Prinzenrolle? Im Ballett herrschen manchmal dieselben Klischees vor wie in der restlichen Gesellschaft – dunkelhaarige Exoten werden nur selten als edle Liebhaber besetzt. Aber im 21. Jahrhundert wird es Zeit dafür! Foto: Gisela Sonnenburg

Ganz sicher gibt es dieses Klischeedenken, vor dem niemand in unserer Gesellschaft gefeit ist: Nämlich das Vorurteil, die dunkleren Typen seien am besten für die Rollen der Bösewichte in einem Stück geeignet, während die Edlen darin vorzugsweise hell und blass sein müssten. Was für ein Kinderkram, diese Denke, aber sie findet sich bereits in Märchen und zieht sich wie ein traurig-dümmlicher Leitsatz durch unsere ganze Gesellschaft. Es wird Zeit, hier mal Tabus aufzubrechen und sozusagen „gegen den Strich“ zu besetzen!

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Ein Schwarz-Weiß-Foto gegen das Schwarz-Weiß-Denken: Dunkle Typen haben nicht weniger Sanftmut auf der Bühne als Blonde, wenn man sie nur lässt… Ist Berlin reif für soviel Neues? Vielleicht haben wir alle Bretter vorm Kopf.  Foto: Gisela Sonnenburg

Jason Reilly fällt mir ein, der Stuttgarter Erste Solist, der ebenfalls untypisch markant-männlich für einen Ballerino ist. Er tanzt sowohl die Bösewichte wie Stanley Kowalski in Neumeiers „Endstation Sehnsucht“ als auch die Liebhaber und Titelrollen. Er ist Othello, Romeo, Onegin – alles Partien, für die auch Arshak Ghalumyan in Frage kommt.

Immerhin: Die dritte „Dornröschen“-Inszenierung, die Arshak seit Beginn seiner Bühnenlaufbahn tanzt – die erste war von John Neumeier, dann kam Vladimir Malakhov, dann Nacho Duato – brachte ihm zwar nicht den Prinzenpart. Aber, mit der Rolle des Zeremonienmeisters Catalabutte, so etwas wie individuelle Gestaltungsmöglichkeiten. Arshaks Catalabutte kann da sogar etwas laut sagen, mit dem Dirigenten von der Bühne aus kommunizieren, die Chose hat Esprit. Aber sein Können liegt weit über solchen Charakterrollen – und sein bisheriges Repertoire belegt das bereits.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Im „Ring um dem Ring“ von Maurice Béjart tanzte Arshak Ghalumyan den Gunther – ein Widersacher und Bösewicht aus Notwehr. Foto: Bettina Stöß

Da ist zunächst der klassischste aller Ballett-Bösewichte: der Zauberer Rotbart in „Schwanensee“. Arshak Ghalumyan tanzt den „Premierminister von Rotbart“, wie er in der Inszenierung von Patrice Bart heißt, mit dem zur Rolle gehörenden, gediegenem Machtbewusstein und auch mit der entsprechenden eiskalten Arroganz. Funkelnden Blicks ist er da der Schurke!

Dabei hat er auch so viel Charme, wenn er die Königin umgarnt und becirct und ihr vor den Augen der ganzen Hofgesellschaft schöne Augen macht. Und wenn er die angereisten vier Prinzessinnen präsentiert, fühlt er sich ganz offensichtlich als eigentlicher Gastgeber, der dann seine brillante Tochter Odile, den „schwarzen Schwan“, wie eine heimlich gewonnene Trophäe vorzeigt.

Seine hoch fliegenden Cabrioles passen zum Credo des Machtmenschen, der sich über alle anderen stellt – und der im Schwanensee-Drama der ärgste Feind der wahren großen Liebe ist.

Ein ganz anderes Stück, eine ganz andere Rolle: die „Vogelscheuche“ in Giorgio Madias Revue-artiger Schau „OZ – The Wonderful Wizard“. Als das Ballett nach dem Roman über den „Zauberer von Oz“ an der Komischen Oper Berlin uraufgeführt wurde, überraschte Arshak das Publikum mit einer Bühnenfigur, die trotz viel Kostümierung sehr persönlich rüberkam und mit jedem akrobatisch inspirierten Auftritt Stürme an Begeisterung erntete – sowie auch gehörige Lachsalven, denn das Wechselspiel zwischen Slapstick und klassischem Komödienspiel bediente ordentlich den Sinn für Humor. Soviel Klamauk zu machen, auf so hochkarätigem Niveau – das war schon eine Glanzleistung für sich, die Ghalumyan da erbrachte.

Duato / Kylián ist ein Abend der tänzerisch überhöhten Trauer.

Wie ein Kampf, bei dem das Jackett als Foltermittel über den Kopf des Gegners gestülpt wird: in „Static Time“ von Nacho Duato. Foto: Fernando Marcos

Einen dritten Eckpfeiler seiner Bandbreite stellt Ghalumyans Part in Nacho Duatos jüngster Kreation dar, in dem sehr ernsthaften Stück „Static Time“ im Abend „Duato / Kylián“. Die vielschichtige Beziehung zwischen zwei Männern wird gezeigt, von denen der eine todkrank ist und der andere todbringend. Wie Brüder gehen sie manchmal nah beisammen, schließen Freundschaft, spenden einander Trost – um letztlich doch immer wieder erbitterte Gegner zu werden. Der Ausgang ist realistisch. Der Tod gewinnt. Interpretierbar ist dieses Widerspiel allerdings auch als Kraftakt zweier Mächte, die sozusagen symbolisch auf die Bühne gebracht werden. Gut gegen Böse, Leben gegen Tod, Weich gegen Hart. Manchmal nehmen Menschen ja solche Konturen an, schon durch die Konstellation, in der man ihnen begegnet.

Aber Arshak Ghalumyan choreografiert auch selbst. Das ist wichtig, denn hier geht es nicht um munteres Experimentieren, sondern um das Finden einer bestimmten Form-Inhalts-Beziehung. Damit ist gemeint, eine ästhetische Richtung, nämlich die des zeitgenössischen Balletts, neu zu definieren und mit neuen Inhalten fortzuführen. Und das klappt!

Ghalumyan gewann soeben, Anfang Juni, den „Special Prize“ beim „1. International Choreography Contest“ beim „Tanzolymp 2015“ in Berlin. Der Preis ist typisch für die Ballettwelt: Es gibt kein Geld ohne weiteren Fleiß, sondern den immerhin dotierten Auftrag, für das Ballett des Kroatischen Nationalballetts ein Stück zu kreieren. Eine gute Tradition: Ballett war ja schon immer völker- und staatenverbindend, über alle ideologischen und sonstigen Vorurteile hinweg.

Arshaks Gewinner-Stück „Blind Mind“ erzählt die metaphorische Geschichte eines seltsamen Paares, getanzt von der wundervoll bewegungsintensiven Soraya Bruno und dem agil-poetischen Lucio Vidal. Der Mann hier ist blind und auf die junge Dame, die ihn leitet, angewiesen. Sie sind zu Beginn wie zwei Kinder, wie Geschwister, aber dann werden sie erwachsen – und wollen sich trennen. Letztlich kann sie ihn aber nicht verlassen, denn er kommt ohne sie nicht klar. Sie geht darauf ein und opfert ihre Unabhängigkeit seiner Abhängigkeit von ihr.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Soraya Bruno und Lucio Vidal vom Staatsballett Berlin tanzen in „Blind Mind“, dem preisgekrönten Stück von Arshak Ghalumyan: intensiv und expressiv. Foto: Arkadiy Shafirov

Es ist ein Stück über Menschlichkeit und Freiheitsdrang und auch über jene Art Heldentum, die in unserer Gesellschaft viel zu kurz kommt.

Denn wann entscheiden wir uns schon dafür, jemandem zu helfen, ohne die eigenen Belange in den Vordergrund zu stellen? Die moderne Umsetzung des Stücks, in dem alltägliches Mobiliar wie Tisch und Stuhl eine Mit-Rolle spielt, täuscht keineswegs über die tiefsinnige Parabel, die es erzählt, hinweg.

Der Titel, sagt Arshak, sei eigentlich nicht so wichtig. Dennoch zeugt der aus einem Reim bestehende Stückname „Blind Mind“ von viel Sprachgefühl – und von einem für Choreografen unerlässlichen Talent, eine Botschaft in griffige Zeichenhaftigkeit zu übersetzen. Hier ist es zudem so, dass der Titel einen wichtigen Hinweis auf die Interpretation der Blindheit des männlichen Protagonisten erteilt: Der Blinde auf der Bühne steht für eine Blindheit des Geistes, des Gemüts, der Seele, die man viel öfter vorfindet als körperliche Blindheit, die sich auf das Sehvermögen bezieht.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Das Profilbild von Arshak Ghalumyans Facebook-Account zeigt ihn bei der kreativen Arbeit vorm Spiegel: So oder so oder interessant, oder? Foto: anonymous

Blind war Arshak jedenfalls nicht, als er nach Abschluss seines Studiums in Hamburg 2004 zum Staatsballett Berlin, zu Vladimir Malakhov, kam. Er hatte viele Angebote: Neumeier wollte ihn, das Semperoper Ballett wollte ihn, Ivan Liška in München hätte ihn auch unter Vertrag genommen. Aber Arshak ging dorthin, wohin auch sein Schulfreund Gevorg Asoyan ging, den er noch aus Armenien kannte und mit dem auch in Hamburg die Studienzeit durchlebt hat. Gemeinsam wollten sie mit verschiedenen choreografischen Stilen neue Tänzerwelten für sich erobern, sich dabei stützend zur Seite stehen.

Es ist übrigens keine Liebschaft, die die beiden jungen Männer seit der Teenagerzeit verbindet, sondern eine Freundschaft, die bis heute anhält, und die in Eriwan begann.

Es fällt im übrigen auf, dass Armenien, ähnlich wie das Gebiet der heutigen Ukraine oder auch die Region Moskau, immer wieder hervorragende Tänzer hervor bringt. Man kann das auf die Gene schieben oder auf gute Ausbildungsstätten – und auch auf das hohe Ansehen, das Ballett in diesen Regionen genießt. Was Tänzer mit der Endsilbe „-yan“ im Nachnamen angeht, so kann man jedenfalls schon von einer „Armenian Connection“ sprechen!

Und siehe da: Sieben junge Männer, die sich von der Ballettschule in Eriwan kennen, tanzen derzeit im deutschsprachigen Raum. Karen Azatyan, der seit einer Saison in Hamburg lebt und zuvor in München Erster Solist war, gehört dazu, ebenso wie Tigran Mikayelyan, der noch heute beim Bayerischen Staatsballett Erster Solist ist.

Ein weiterer Armenier wird mit dem Solisten Arman Grigoryan in der kommenden Saison aus Zürich nach Berlin kommen – man könnte schon von einem Club sprechen, was aber nur deshalb überhaupt so ist, weil Armenien ansonsten mit Deutschland sehr wenig zu tun hat, verglichen mit anderen osteuropäischen Staaten.

Jährlich organisieren die sagenhaften Sieben ein Ballettevent. Dieses Jahr erinnern sie an die Opfer des Genozids an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs. Noch heute handelt es sich ja um ein politisches Tabu; insbesondere die Türkei wehrt sich immer wieder dagegen, das Unrecht und die schwere Schuld, die das Osmanische Reich damals auf sich lud, einzusehen. Mit der Ballettkunst darauf aufmerksam zu machen, ist so ungewöhnlich wie notwendig!

Unter dem schlichten Titel „The Show“ findet das Event am 22. Juni im Gasteig in München statt. Tigran Mikayelyan präsentiert es. Eine sich aus internationalen Spitzentänzern zusammen setzende Truppe, die sich den Namen „Forceful Feelings“ gab, tanzt da zu traditioneller armenischer Musik – und stellt in ihren Tänzen die Geschichte Armeniens dar. In diesem Jahr jährt sich der Beginn des Genozids zum 100. Mal – bis zu 1,5 Millionen Menschen, so die Schätzungen, fielen ihm zum Opfer. Auch Arshak Ghalumyan hat in seiner Ahnenreihe Betroffene von diesem in Armenien nur „Katastrophe“ genannten historischen Horrorszenario.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Auszug aus der Werbung für „The Show“ im Münchner Gasteig: Die Geschichte Armeniens wird tänzerisch illustriert, ohne Auslassung des Genozids. Videostill: Gisela Sonnenburg

Armenien ist das einzige christliche Land in einer Umgebung verschiedener islamischer Länder. Seit 1991 ist es von der damaligen Sowjetunion unabhängig – zuvor gab es schon hohe armenische Bevölkerungsanteile in den angrenzenden Staaten.

Aber es gab für den Völkermord wohl auch verkappte materielle, nicht nur scheinbar religiöse Gründe: „Es gab damals in den türkischen Gebieten sehr reiche Armenier“, erzählt Arshak Ghalumyan. Man merkt, dass er sich viel damit beschäftigt hat und ihm das Thema nahe geht.

Es ist ja auch ungeheuerlich – aber typisch für diese Lobby-gesteuerte Gesellschaft – dass das Erinnern an den Holocaust nachgerade zu einer Dienstleistungsindustrie geworden ist, während der Genozid an den Armeniern noch immer weitgehend totgeschwiegen wird. Da ist es fantastisch, wenn hochrangige Künstler keine Scheu haben, sich zu engagieren. Und es ist ein Kennzeichen der jungen Generation von Balletttänzern, dass sie sich äußern und Position beziehen – und nicht im verquälten Schweigen verharren. Die Kraft, die man aus positiven Erlebnissen bezieht, steckt man auch in solches Engagement.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Einmalig: Arshak Ghalumyan als Prinz Achmed in „La Péri“ – von hübschen Damen umgarnt. Foto: Maria Helena Buckley

Nach unverhofftem beruflichen Glück befragt, erinnert sich Arshak an eine Vorstellung von Vladimir Malakhovs „La Péri“. Als dritte Besetzung der männlichen Hauptperson sprang er da mal für den verletzten Dmitri Semionov ein – und tanzte mit Superstar Diana Vishneva an seiner Seite. Die Liebesgeschichte der orientalischen Fee, die erst im Jenseits glücklich endet, hat so manchen Ballettfan zu Tränen gerührt – und Arshak konnte zeigen, dass er auch in einer klassisch-romantischen Prinzenrolle eine hervorragende Figur macht.

Die technischen Feinheiten fand er damals nicht das Schwierigste. „Zu schauspielern ist eigentlich das Wichtigste“, sagt Arshak, der auch in Maurice Béjarts „Ring um den Ring“ und in Heinz Spoerlis „Peer Gynt“ mit außergewöhnlichen Partien besetzt war.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Er steht kerzengerade in der Luft, hoch auf dem Platz springend, die schönen Füße akkurat gestreckt: Arshak Ghalumyan in „La Péri“, in einer klassischen Rolle mit viel Hingabe und Passion. Foto: Maria Helena Buckley

In „Peer Gynt“ tanzte er den personifizierten Tod – und hatte einen atemberaubenden Pas de deux mit „Vladi“ Malakhov, der die Titelrolle tanzte. Das Düstere wird an Arshak eben eher wahr genommen als das Helle – aber Arshak Ghalumyan hat viele Nuancen, bis hin zu gefühlvoll-romantischem Flair, das zwar nicht depressiv ist, aber auch mal melancholisch sein darf.

„Ich mag Kreativität“, sagt er, „darum arbeite ich auch gern mit verschiedenen Menschen.“ Verschiedene Stile – das reizt ihn als Tänzer, immer wieder. Als Choreograf verfolgt er hingegen eine ganz bestimmte Herangehensweise, eine, die von den jeweiligen Tänzern, dem „Material“, das er vor sich hat, ausgeht. Weshalb er bei Neueinstudierungen seiner Werke auch generell abändert und die Choreo den Tänzern gemäß anpasst. Er habe eine Geschichte im Kopf, einige Bilder, sagt er, wenn er anfange zu choreografieren. Darauf basiert alles – und wenn er seine Intention den Tänzern zu vermitteln vermag, läuft die Kreation sozusagen wie von selbst. Das gegenseitige Verständnis von Choreograf und Tänzern ist hier maßgeblich! – Eine sehr moderne Haltung zur Choreografie übrigens, und typisch für die jungen Leute, die von Neumeier, Forsythe oder Duato geprägt sind.

Seit 2011 ist Arshak Ghalumyan ja bereits Solist, und eine herausragende Erfahrung in dieser Zeit war das Duett in „Herman Schmerman“ von William Forsythe. „Ich habe es mit Nadja Saidakova getanzt, und sie ist eine wundervolle Tänzerin, von der ich wirklich viel gelernt habe“, sagt Arshak. In der Tat: Saidakova, die übrigens gerade ihr erstes Kind erwartet, ist eine der ganz Großen unter den in Europa tanzenden Primaballerinen (nicht in Metern gemessen, sondern an Können und Ausstrahlung, selbstredend). Als skurril-zeitgenössisches Paar in Forsythes Kreation wirkten sie anheimelnd, authentisch, witzig. Und da war dieses Band aus Gefühl, das nur Tanzpaare auf der Bühne verbindet – olé!

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Arshak Ghalumyan mit Krasina Pavlova im Pas de deux „Heute ist das Gestern von morgen“ von Raimondo Rebeck – ein modernes Paar im Liebes-Clinch mit der unaufhaltsam verrinnenden Zeit. Foto: Bettina Stöß

Apropos Frauen – bevor sich die eine oder andere Ballettfreundin Hoffnungen macht, sei mitgeteilt: Arshak Ghalumyan ist glücklich vergeben, an die Berliner Solistin Krasina Pavlova, die seit gut einem Jahr mit Rollen wie „Odette / Odile“ in „Schwanensee“ zur Starsolistin aufgebaut wird. Sie kommt aus Bulgarien und studierte an der John Cranko Schule in Stuttgart. Arshak musste um sie kämpfen: „Sie war das erste Mädchen, das mir so richtig gefiel“, sagt er. Er gestand ihr seine Liebe, obwohl sie damals noch anderweitig gebunden war. Dann hatte auch er eine andere Partnerschaft – aber schließlich fanden Krasina und Arshak zusammen. Vor rund zwei Jahren war das. Gute Freunde waren sie schon vorher, jetzt sind sie verlobt und werden im Sommer heiraten.

Ein schönes Paar. Bei Gala-Auftritten war das auch schon öfters auf der Bühne zu sehen. So tanzten sie Raimondo Rebecks Pas de deux „Heute ist das Gestern von morgen“ – und genossen die modern-anspruchsvolle Gestik dieses Tanzes. „Man kann von jedem etwas lernen“, lautet denn auch Arshaks Philosophie.

Besonders gern lernt der derzeit von Berlins Ballettintendant Nacho Duato, mit dem er schon vor einigen Jahren, als Duato als Gast sein Stück „Arcangelo“ in Berlin coachte, einen guten Draht hatte.

Duato wählte ihn aus, um in „Static Time“ die entscheidende Partie zu tanzen. Es geht um den Tod, den Arshak (wie schon in „Peer Gynt“) personifiziert. Duato kreierte im Angedenken an einen Freund, der an Krebs verstorben war. Arshak illustriert nun in den Pas de deux mit dem ruhig-souveränen Tänzer Dominic Hodal, wie der Tod einem Menschen immer wieder nahe kommt, ihn umklammert, ihn niederringt, ihn nochmal gehen lässt – aber irgendwann endgültig besiegt.

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Arshak Ghalumyan und Dominic Hodal in „Static Time“, der ersten Kreation von Nacho Duato fürs Berliner Staatsballett: zwei Männer, die wie Tod und Leben miteinander ringen. Foto: Fernando Marcos

„Dieser Prozess der Kreation war für mich sehr wichtig“, Arshak bestätigt, was man vermutet. Und lobt seinen Chef: „Nacho gibt einem wirklich Freiheiten bei der Kreationsarbeit, das ist wunderbar zu erfahren. Man merkt, dass er im Innern auch ein Tänzer ist. Er ist jemand, der Tänzer nicht in eine Box sperrt, sondern der abwartet, bis vom Tänzer kommt, was er braucht.“ Das sei besonders wichtig – und der Redefluss von Arshak beschleunigt sich, um das zu unterstützen: „Wir haben jeder eine unterschiedliche Dynamik, uns zu bewegen. Wenn ich nur einen Schritt choreografiere, wird dieser eine Schritt, wenn ihn ein anderer Tänzer ausführt, nicht mehr derselbe sein. Die Message ist dann vielleicht schon eine andere.“

Darum, so Arshak, sei es wichtig, dem Tänzer zu sagen, worum es gehe. Die Schritte entwickeln sich dann gemeinschaftlich, zwischen Choreograf und Tänzer – und die persönliche Note einer Choreografie, auch einer bestimmten Interpretation, bleibt so erhalten.

So aufregend die Kreationszeiten auch sind – sie sind im Tänzeralltag eher eine Ausnahme. Was bleibt, ist die Rolle, die oft jahrelang vom selben Tänzer getanzt werden wird. Die Auftritte damit sind zwar nicht Routine, aber das Ziel des Tänzerdaseins – ihm ordnet sich alles unter.

Auch das morgendliche Training im Ballettsaal mit den Kolleginnen und Kollegen dient der Perfektion auf der Bühne. Fortschrittsdenken ist angesagt: Man will sich verbessern, stetig, und bloß nicht hinter die eigenen Befähigungen zurückfallen.

Barbara Schroeder, die früher im Ballett der Berliner Staatsoper Unter den Linden tanzte, achtet auf ihre „Schäfchen“, sie ermuntert und ermahnt sie mit sehr persönlicher Zuwendung. Sie hat halt den Überblick, sieht die einzelnen Tänzer sich entwickeln und voran kommen. Sie kennt deren Schwachpunkte und ihre Stärken. Sie weiß, was sie von wem verlangen kann – und wie sie die talentierten Jungs und Mädels noch weiter bringt. Streng ist sie trotzdem, das gehört im Ballett dazu.

Sonst würde sich ja kein Mensch jeden Tag so sehr körperlich und geistig anstrengen wollen, wie es Profi-Tänzer nun mal tun müssen!

Arshak Ghalumyan tanzt und choreografiert mit persönlicher Note.

Lässig wartet er ab, ob die Titelrollen noch kommen… Arshak Ghalumyan vom Staatsballettt Berlin mal ganz unprinzlich an einem der seltenen freien Nachmittage. Foto: Gisela Sonnenburg

Arshak wird von der Ballettmeisterin gelobt, als er eine mehrfache En-dedant-Pirouette hinlegt: „Schön, Arshak!“ Aber als er bei einer Allegro-Sprungkombination nach den bildschönen und blitzschnell absolvierten Assemblés nicht ganz korrekt in der fünften Position landet, da korrigiert sie ihn. Ups! Und siehe da: Arshak lächelt verlegen und wiederholt die Sprünge, dieses Mal, aha, sehr fein die Füße in der fünften Position parallel setzend.

Auch die Tours en l’air gelingen tadellos, und als es nach dem offiziellen Ende der „class“ heißt: „Manège – wer möchte?“ – da prescht Arshak Ghalumyan vor und beschreibt mit lauter Spagatsprüngen entgegen dem Uhrzeigersinn eine Rotunde, flirrend vor Energie. Wie ein Magier zieht er da den Kreis, und beim zweiten Mal erlaubt er sich einen „Corsaire“-reifen Trick, bei dem sich sein Körper mit angezogenen Knien mehrfach in der Luft umdreht, während die Unterschenkel ein zappelndes Eigenleben führen.

Ha! Witzig und seriös zugleich, macht so etwas staunen – und hat, obwohl es „nur“ ein Training ist, doch so viele Farben des Tänzers Arshak Ghalumyan in sich. Man freut sich darauf, diese wieder auf der Bühne schillern zu sehen.
Gisela Sonnenburg

„Duato / Kylián“ am 13. Juni in der Staatsoper im Schiller Theater Berlin

„Vielfältigkeit. Formen von Stille und Leere“ am 22. und 29. Juni  in der Komischen Oper Berlin

www.staatsballett-berlin.de

„Forceful Feelings: The Show“ am 22. Juni im Gasteig (Carl-Orff-Saal) in München 

 

 

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