Wenn zwei Liebende den Frühsommer zusammen erleben, scheint die Sonne umso schöner. Tatjana, die weibliche Hauptfigur im „Onegin“, hat dieses Vergnügen mit der Titelfigur allerdings nie. Man kann sich kaum eine Lovestory denken, die noch mehr schief ginge, obwohl ein starkes Band zwischen beiden Beteiligten besteht. Dennoch fasziniert dieses ungleiche Paar, als sei es gerade erst und speziell für unsere Zeit ersonnen. Titelheld Eugen Onegin kann sogar als Sinnbild des modernen Mannes gelten, der für sich alle nur möglichen Freiheiten in Anspruch nimmt und sich dank finanzieller Unabhängigkeit auch gut damit durchsetzen kann. Onegin aus dem Ballett von John Cranko ist in dieser Hinsicht noch stärker autonom als der in der Literaturvorlage des Puschkin’schen Versromans.
In Stuttgart tanzen derzeit zwei Besetzungen den Helden der scheinbaren Unabhängigkeit: Friedemann Vogel und Jason Reilly. Reilly beherrscht mit seinen ausgeprägt kraftvollen Bewegungen und seiner männlich-muskulösen Statur das inoffizielle Fach „Macho ohne Wenn und Aber“ wie aus dem Effeff – so auch etwa als Stanley, den er aktuell in der „Endstation Sehnsucht“ von John Neumeier tanzt.
Friedemann Vogel hingegen ist von der Statur und Körperlinie weniger so ein burschikoser Durchsetzer; er hat ein zarteres, feines Naturell, das ihn eher zu einer Neuinterpretation zwingt. Ob das gelingt? Vogels Onegin ist ein Ausbund an Raffinesse und Charme, an überraschender Neugier – und, statt nur an Lebensüberdruss, auch an einer Art berechnendem Gelangweiltsein. Dieser Onegin verachtet seine Mitmenschen nicht aus einer kaltschnäuzigen Arroganz heraus, sondern weil er sich wirklich mit ihnen langweilt; obwohl er sich Mühe gibt, die Welt und ihre Geschicke ernst zu nehmen. Allein, es kommt ihm alles hohl und oberflächlich vor. Darum ist er ein Leidender – und nicht aus einer depressiven Verstimmung heraus.
Seine späte Wendung zum reuigen Liebenden, dem schlagartig klar wird, was er an Lebensqualität ohne die süße Tatjana verpasst hat, ist von bestürzender Selbsterkenntnis begleitet – das ist selten so akzentuiert und wundervoll anzusehen.
Er wurde hier, in Stuttgart, geboren. Das gilt nicht nur für Friedemann Vogel, sondern auch für Onegin, Crankos Titelheld. Auch sie, Tatjana, stammt entsprechend aus dem Schwäbischen. Sie kennen sich seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts, und sie können und wollen seither nicht mehr voneinander lassen. 1965 wurde „Onegin“ uraufgeführt, zunächst ohne durchschlagenden Erfolg. Im Gegenteil: Die Kritik verriss, das Publikum reagierte distanziert.
Die Zeit war für dieses Männerbild einfach noch nicht reif. Zudem hatte Cranko einen Prolog vorangestellt, der zeigte, wie Onegin zu seiner finanziellen Sicherheit kam: durch Erbschaft. Das nahm der Geschichte ein wenig den romantischen Schmelz. Bei der heute weltweit gezeigten Version fehlt dieser Prolog, das Thema „Erbschaft“ wanderte ins Libretto. Dort wird Onegin als „zukünftiger Erbe eines reichen Landgutes“ bezeichnet. Damit verspürt er eine gewisse Langeweile sozusagen von Kindesbeinen an; Geld ist nicht mehr sein Thema, und ob er in den zehn Jahren, die zwischen zweitem und drittem Akt vergehen, erbt oder nicht, wird nicht erwähnt. Denn: Onegin ist im Ballett (anders als im Roman und in der Oper) von vornherein ein Reicher. Man kann bestenfalls spekulieren, dass er, als er zur wahren Liebe findet, gar nicht mehr unter sozialem Druck steht, sondern durch sein Erbe finanziell endlich vollständig unabhängig wurde.
Bei der Uraufführung tanzte Ray Barra, dieser begabte Allrounder, den Onegin. Durch eine Verletzung musste er seine Tanzkarriere beenden, und mit Heinz Clauss als Onegin wurde das ganze Ballett 1967 stark überarbeitet. Cranko hatte ja ursprünglich mit Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn premieren wollen – aber die Leitung des Royal Ballet hatte es abgelehnt, ein Ballett zu diesem aus der Oper bereits weltbekannten Stoff zu bringen. Wer weiß, wie ein etwaiger Londoner „Onegin“ ausgefallen wäre… man darf mutmaßen, dass die Tänzerqualitäten von Rudi und Margot für ein ganz anderes Flair gesorgt hätten, womöglich wäre etwas à la Ashton dabei herausgekommen. Als Barra sich verletzt hatte, engagierte Cranko einen Londoner Solisten als Ersatz – mit dem wiederum Marcia Haydée nicht gut zurecht kam, sodass Cranko immer wieder nahe daran war, den „Onegin“ vom Spielplan zu schaffen. Tatsächlich wurde er für eine Saison ausgesetzt – bis mit Heinz Clauss der tänzerische Erneuerer der Titelfigur kam. Jetzt erst wurde „Onegin“ langsam das, was er heute ist.
Denn 1969 wurde er, im Zuge eines Gastspiels in den USA, erneut choreografisch verfeinert – zum letzten Mal. Der Siegeszug des „Onegin“ um den Erdball begann, streng gesehen von New York aus, wo man ein großes Faible für das „Stuttgart Ballet“ hatte und auch den in Deutschland noch nicht so akzeptierten „Onegin“ bejubelte.
Als Tatjana war in allen drei Fassungen Marcia Haydée, die legendäre Cranko-Muse und Crankos Folgedirektorin in Stuttgart, zu sehen: Eine Tänzerin, die trotz eher einwärts gerichteter Knie einen größtmöglichen Ausdruck ballettöser Eleganz und Leidenschaft zu bieten hatte. Ihr puppenhaft braves Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen sehr expressiv, wandelte sich ebenso wie ihr drahtig-graziler Körper mit den emotionalen Zuständen der von ihr dargestellten Figuren. Wenn Marcia eine Rolle tanzte, dann war sie diese Person auf der Bühne – und gerade die Tatjana machte sie schon dadurch begreifbar, dass sie in jedes Detail der Bewegungen konkrete psychologische Bedeutungen hinein legen konnte.
Das ZDF leistete sich eine Aufzeichnung, die jedoch, vermutlich auf Betreiben des Musikverlegers Adrian Thomé, der die Lizenzen der „Onegin“-Musik (eine Tschaikowski-Collage von Kurz-Heinz Stolze) verwaltet, sozusagen aus dem Archiv gestrichen wurde. Es gibt dennoch eine Bearbeitung der Aufzeichnung für 3sat, von der es ballett-journal.de gelang, Videostills zu erhalten. Darum kann sie hier mit historischen Eindrücken bebildet werden.
Die regulären Pressefotos von Hannes Kilian aus der Cranko-Ära stehen dem Stuttgarter Ballett leider angeblich nicht zur freien Herausgabe zur Verfügung – was juristisch als Ding der Unmöglichkeit gelten muss, denn hier müssten die Rechte der Erbin von Kilians Lizenzen mal gerichtlich der aktuellen Rechtsprechung angepasst werden. Pressefotos von Staatstheatern sind schließlich vom Staat bezahlte Werbefotos, und da kann es nicht sein, dass irgendwelche willkürlichen, an der kommerziellen Verwertbarkeit orientierten Beschränkungen die historisch konkrete Berichterstattung und auch die wissenschaftliche Dokumentation einschränken oder gar verunmöglichen.
Nun eignet sich – das zeigt sich schon beim Vergleich von Fotos – kaum eine andere Hauptrolle so sehr für unterschiedliche Interpretationen wie der Onegin. Es handelt sich bei jeder Neuinterpretation um die Erneuerung einer Ikone. Manche zeichnen ihn als richtig fiesen Chauvinisten – es gibt aber auch den ungeheuer stark an Weltverdruss Leidenden, der seine Freiheiten im Grunde gar nicht richtig für sich zu nutzen weiß. Diese Unterschiede setzen sich im zweiten Akt fort: Es gibt den radikal egoistisch handelnden Onegin, der mit rücksichtsloser Miene seinen ehemals besten Freund im Duell erschießt.
Es gibt aber auch den Zweifler, der das Duell am liebsten absagen würde, aber von Lenski nachgerade dazu gezwungen wird. Ein solcher Onegin ist Friedemann Vogel, und in der Vorstellung, die ich sah, fiel die fürs Duell entscheidende Ohrfeige, die Lenski Onegin erteilt, tatsächlich erst in der Szene bei Morgengrauen kurz vorm Duell. Damit provoziert Lenski Onegin ein zweites Mal, nach der Forderung auf Tatjanas Geburtstagsfest.
Normalerweise knallt diese Ohrfeige bereits ganz entschieden auf dem Fest zu Tatjanas Geburtstag (im Versroman von Alexander Puschkin, der Literarvorlage, ist es ihr Namenstag): Weil Onegin derart heftig mit Lenskis Verlobter Olga flirtet, dass Lenski vor Eifersucht ausrastet – und damit seinen eigenen Tod im Duell bewirkt.
Friedemann Vogel spielt auch dieses heitere Flirten im Walzertakt mit Olga, der Schwester von Tatjana, so intensiv und heftig, dass er damit das ganze Geburtstagsfest dominiert und den zweiten Akt sozusagen für sich entscheidet. Es ist aber auch ein heftiger Regelverstoß, den Onegin sich da leistet – zumal er vor allem Tatjana, deren Liebesbrief er als Belästigung empfand, frustrieren will.
Dabei fängt doch alles so gut an. Als er zu Beginn der Beziehung mit Tatjana zu einem Spaziergang aufbricht, markiert er den gut erzogenen, freundlichen, etwas gönnerhaften Dandy, der von seiner Lebenserfahrung scheinbar abgeben möchte.
Der berühmten Posengeste des Onegin – die rechte Hand mit dem Handrücken an die Stirne zu führen – verleiht Friedemann Vogel eine Note, die ich so noch nie zuvor sah: Musikalisch exakt ausbalanciert, führt er die Hand betont langsam zur Stirn, während die meisten Onegins sie zügig erheben. Dafür verbleibt Friedemanns Hand dann nicht lange dort, sondern wird – in einem „legato“ getanzten, äußerst geschmeidigen und anmuten Bewegungsfluss – rasch wieder herabgesenkt. Insgesamt hat diese Geste einen unwiderstehlichen Drive, etwas Zeitlos-Grüblerisches ebenso wie eine gewisse Heiterkeit – und auch etwas Ritualisiertes, so als sei sie ein Zitat eines Zitats: eine für diese Onegin-Pose absolut einzigartige Mischung.
Im schwarzen Frack ist der elegante Außenseiter Onegin aber auch gerade mit dem schönen Herrn Vogel wirklich ein Blickfang – alle anderen sind ja sommerlich-heiter und sozusagen alltäglich gekleidet.
Das Düstere, Melancholische, das Uneinnehmbare des Onegin verkörpert Friedemann Vogel mit der Anmutung eines leichtfüßig-Erhabenen, der nie konkreten Kummer erlebt hat, sondern seinen eigenen Gemütszustand stets als das einzig wirklich Wichtige im Leben empfand. Überraschend an Vogels Präsentation dieses Egozentrikers ist, dass er keineswegs als ekliger Narziss rüberkommt – sondern man versteht diese Seele eines stetig Suchenden, der nicht nur Zerstreuung, sondern auch Triumphe einsammelt wie andere Leute Höflichkeitsbezeugungen. Kurz: Friedemann ist der Charme in Person – kaum zu fassen, dass das bei einem Onegin funktioniert.
Er hat – und das war in diesem Fall sicher gut – zuvor den Lenski getanzt, bevor er ins Rollenfach des Onegin wechselte. Tatsächlich hat sein Onegin vielleicht darum diese liebenswerte Nuance, die klassischerweise dem „helleren“ Charakter des Lenski zugeschrieben wird.
Als gebürtiger Stuttgarter gelangte der hoch begabte Friedemann Vogel ohne große Umwege in die John Cranko Schule. Mit einem Stipendium erhielt er seinen letzten Schliff in Monte Carlo – und trat dann, mit den Weihen eines „Preispferdchens“, das etwa sowohl den Prix de Lausanne (1997) als auch den Erik-Bruhn-Preis in Toronto gewonnen hatte, eine richtige Shooting-Star-Karriere an.
Von Stuttgart aus gastierend, ist er, der nicht nur in Soli, sondern auch im Paartanz auffallend brilliert, einer der ganz Großen, die sozusagen reihum gereicht werden. Im Partnern ist er übrigens sichtlich so versiert, dass er wohl mit jeder Ballerina tanzen kann, als handle es sich um eine Neuausgabe von Anna Pawlowa. Das gilt auch für die Szene mit den verschiedenen Balldamen, die unmittelbar vor seinem Wiedersehen mit Tatjana stattfindet. Wenn Vogel sie hochhebt, gewinnen die hübschen Mädchen vom Stuttgarter Ballett noch mehr an Glanz und Grazie!
Vogels hauptsächliche Partnerin ist aber natürlich Alicia Amatriain, die die Tatjana tanzt. Die in Spanien geborene Absolventin der Stuttgarter John Cranko Schule wandelt damit nicht zum ersten Mal auf den Spuren von Marcia Haydée. Aber die Tatjana war für sie besonders wichtig, erzählte sie mir auf Nachfrage, weil sie sich darin erstmals als in einer wirklich bedeutenden Rolle besetzt empfand. Das war der Beginn einer großen Repertoire-Karriere!
Denn Alicia ist aktuell die Primaballerina in Stuttgart, ihre Vielseitigkeit ist kaum noch zu überbieten. Insofern weist ihr Künstlertum eine Parallele zu Marcia Haydée auf. Dabei ist sie optisch ein ganz anderer Typ: eher sportlich-dynamisch, darin durchaus an Natalia Osipova erinnernd, und betont schnörkellos-anmutig, mit geraden Linien, während Marcia sich hier durchaus Abweichungen von der Brillanz des Einfachen erlaubte.
Haydée sah Alicia Amatriain als Tatjana, ließ sie in ihrem Teatro Colón in Buenes Aires damit auftreten und lobte sie sehr – es läge der Haydée, der Doyenne der Cranko-Ballette, fern, ihre eigene Interpretation als allein gültige zu postulieren. Dennoch setzte sie mit ihrem Stil Maßstäbe, die auch heute noch – oft genug gegen den wechselnden Zeitgeschmack – für sich ihre Gültigkeit haben.
Alicia und auch die ebenfalls staunenswert grazil tanzende Elisa Badenes als Olga haben hingegen eine Frische und Unmittelbarkeit, die mitreißt. Allein, um zu sehen, wie die Badenes läuft – nämlich einerseits scheu und andererseits zielsicher, also wirklich wie ein Reh – lohnt sich der Besuch der Vorstellung!
Badenes stammt aus Valencia, in Spanien, wo ein Lehrer sie prägte, der die gute alte John-Cranko-Schule vertrat. Er erzählte stets beseelt von Stuttgart, seinem Mekka – und nährte in Elisa den Wunsch, mal in der schwäbischen Metropole zu tanzen. Nach Absolvierung eines Stipendiums in London an der Royal Ballet School ging dieser Wunsch in Erfüllung: Mit nur 17 Jahren wurde Elisa Badenes, die übrigens, wie Friedemann Vogel, sowohl in Lausanne als auch in Toronto gewann, als Elevin ans Stuttgarter Ballett engagiert, wo sie seit 2013/14 Erste Solistin ist. Ihre „Giselle“ gilt bereits heute als wegweisend, so kühl-entrückt und doch fragil-zerbrechlich interpretiert Badenes sie.
Als Olga sprüht Elisa Badenes nur so vor Lebenslust und Gegenwartsbezug – es ist ein Mädchen, das nicht wissen will, woher die Menschen kommen, mit denen es zu tun hat, und das auch nicht an die etwaigen Folgen dessen denkt, was sie mit ihnen unternimmt. Ihre Zuneigung zu Lenski ist von Selbstverständlichkeit getragen – und ihr Flirten mit Onegin von spontaner Begeisterung.
Ganz anders verhält sich Tatjana den Männern gegenüber. Sie ist die Überlegte, Zurückhaltende, die über den Intellekt Feuer fängt. Alicia Amatriain beginnt das Spiel, indem sie im ersten Bild von „Onegin“ weder streng noch traurig als Lesende auf dem Bauch liegt und regelrecht herum lümmelt. Sie lächelt dabei, schelmisch und ein wenig verwegen. Man kann sich vorstellen, dass sie möglicherweise erotische Literatur liest, die sie in eine bestimmte Stimmung versetzt. Als sie in den Spiegel schaut, in dem ihre Schwester Olga ihren Verlobten eintreffen sah, erblickt sie darin den ankommenden Onegin – und verfällt ihm von diesem ersten Augenblick an. Sein schwarzer Frack, sein Status als Sonderling – all das mag dazu angetan sein, ihre erotische Fantasie ins Laufen zu bringen.
In ihrem Traum kulminiert ihre Vorstellung von ihm zu einem romantisch-lieblichen Ideal: Er tritt in ihrer Fantasie aus dem Spiegel in ihr Schlafzimmer, wie ein positiver Geist, und er ist so nett, charming und devot, dass sie sich gar nicht gegen ihn wehren kann. Hebungen und geführte Pirouetten geben ihr das Gefühl, begehrenswert und schön zu sein; im flatternden Nachthemd lässt sie sich weit über seinen Kopf hinaus hochheben; sie genießt es, als wäre es das erste Mal, dass sie von einem Mann überhaupt träumt.
Liebe – diese Fetischisierung eines Menschen kann einen ja überkommen wie eine Naturgewalt. Wie eine Krankheit, gegen die nur sie selbst als Kur hilft. Was Tatjana durchmacht, gehört zur Grundausstattung des zivilisationsbegabten Wesens: Liebe ist keineswegs eine irrationale, fürs Gemeinwohl eher unwichtige Angelegenheit. Egal, ob sie sich erfüllt oder unerwidert bleibt: Sie ist die treibende Kraft des Lebens, viel stärker, als man oftmals zugeben möchte.
Tatjana überlegt denn auch nicht lange, sondern schreibt Onegin einen verfänglichen Brief. Im Programmheft in Stuttgart ist er abgedruckt, und zwar in der Version seines Erfinders Alexander Puschkin, in einer gängigen Übersetzung. „Wer bist du, Engel oder Teufel, / Versucher oder Schutz und Freund?“ Und weiter: „Gleichviel! Es ruht ja mein Geschick / Von nun an doch in Deinen Händen.“
Dennoch ahnt sie, dass ihr Herzblut bei ihm nicht so gut ankommt: „Wie mich Wort um Wort / Schon reut – ich fühle Scham und Grauen…“ schreibt sie am Ende. Dennoch will sie sich ihm anvertrauen, die zarte Verbindung zwischen ihm und ihr forcieren – für eine Frau im 19. Jahrhundert, die nicht einmal einen Beruf erlernt hat und die, abgesehen von der Zugehörigkeit zu einer ländlichen Gutherrnfamilie, sozusagen mittellos ist, hat Tatjana ziemlich viel Selbstvertrauen in diesem Moment. Oder ist es der Größenwahn der Verliebten, der sie zu diesem Brief treibt?
Friedemann Vogel als Onegin schaut umsichtig umher, bevor er ihr diesen Brief zurück gibt. Er will dabei nicht gesehen werden, denn die Art, wie er Tatjana mitteilt, dass er sie verschmäht, ist seelisch grausam: Er zerreißt den Brief in ihre Hände hinein, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt bereits weint, weil er ihr gestisch (verbal) unmissverständlich bereits einen Korb gab. Als Geste an ihrem Geburtstag ist all das nicht eben angebracht – und typisch für den rücksichtslosen Onegin, den nur bekümmert, die eigene Freiheit zu behalten und niemals in einen seiner Meinung nach unpassenden Ruf zu kommen.
Vogel tanzt diesen Onegin wie ziseliert, wie aus Porzellan gefertigt, keineswegs grobschlächtig noch Grobschlächtigkeit imitierend. Er ist der Leisetreter unter den Bösewichten. Und als er mit Olga flirtet, um Tatjana eifersüchtig zu machen, kennt er darin kein Maß mehr, er wird zum aus der Zeit und aus dem Raum gefallenen Verführer, der die Liebe um der Liebe willen liebt – kein Wunder, dass die Situation eskaliert und Lenski ihn zum Duell fordert.
Als Lenski gab in der Vorstellung, die ich sah, Constantine Allen sein Debüt. Der noch blutjunge Tänzer, der erst 2012 von der John Cranko Schule ins Ensemble wechselte und der als Newcomer in Stuttgart gilt, zumal er bereits zumErsten Solisten ernannt wurde, ist die ausgesprochene Wahl von Ballettchef Reid Anderson. Er befand, wie er mir auf Nachfrage bestätigte, dass Constantine jetzt soweit sei, den Lenski zu tanzen. Jeder, der ihn am letzten Samstag beim Debüt sah, muss mir allerdings darin Recht geben, dass hier noch nachzubessern ist. Insbesondere im zweiten Akt, aber auch schon im ersten wirkte Constantine in den Details inhaltlich noch zu unsicher, zu ungeschliffen für einen galant-leichtfüßigen Lenski, dessen Liebe zu Olga so hell leuchtet und der dennoch so höllisch leicht fürs Totschießen zu entflammen ist.
Der bildhübsche Allen legt den Lenski aber auch keineswegs traditionell an. Vielleicht wurden Anderson und seine Ballettmeister von dem staunenswerten Marian Walter inspiriert, der in Berlin kürzlich eine atemberaubende Neuinterpretation der Rolle abgeliefert hat (siehe April-Text zu „Onegin“ unter „Staatsballett Berlin“). Reid Anderson saß in dieser legendären Vorstellung im Publikum, und er saugt als oberster Statthalter sowieso begierig jede neue Arbeit im Kosmos der Cranko’schen Möglichkeiten auf – auch in Hamburg ist er diese Saison schon als Zuschauer im „Onegin“ zu sehen gewesen.
Die Nennung mehrerer Städte, in denen „Onegin“ getanzt wird, muss einen kleinen Einschub erlauben: Tatsächlich gibt es international viele hochkarätige Besetzungen und absolut sehenswerte Inszenierungen dieses bedeutenden Balletts.
An die elementare, tiefsinnige Interpretation, die Wieslaw Dudek in Berlin seit Jahren immer wieder als Onegin zuverlässig zeigte (bis er im April sein Bühnen-Ade damit tanzte), kann aber per se kaum jemand von jüngeren Tänzern herankommen. Dudek war nicht in jeder großen Rolle ein solcher Burner – aber als Onegin war er derart einleuchtend und in jeder Sekunde auf der Bühne körperlich beredt, dass es fast nicht zu glauben ist, dass die Rolle schon lange vor seiner Zeit als Tänzer und nicht erst für ihn kreiert wurde.
Und auch die beiden aktuellen Lenskis in Berlin – Dinu Tamazlacaru und Marian Walter – sowie auch Alexandr Trusch in Hamburg verdienen an dieser Stelle noch einmal Erwähnung (siehe Texte unter „Staatsballett Berlin“ und „Hamburg Ballett“). Von Polina Semionova als Tatjana gar nicht zu reden – Polina ist nun mal nicht ohne Grund eine der führenden Starballerinen weltweit.
Und wo ich gerade beim Berliner Loblied bin: Das Corps de ballet ist meistens hübsch anzusehen im „Onegin“. Aber was die jungen Damen und Herren vom Corps des Staatsballetts Berlin an Synchronizität in allen Schwierigkeitsgraden – auch bei den seriellen Spagatsprüngen des Damen-Corps – und dennoch auch an individuellen, lieblich-erfreulichen Expressionen abliefern, ist sagenhaft und meiner Ansicht nach nicht zu toppen.
Das Staatsballett Berlin hat den Esprit von „Onegin“ im Leib, es ist „Onegin“. Davon kann man nur lernen, egal, wo man tanzt. Insofern war es vielleicht auch kein Zufall, dass jetzt eine wegweisende Neudeutung des Lenski von Berlin ausgeht.
Dieser neue Lenski – made alone by Marian Walter und fast zufällig so entstanden (und keineswegs am Reißbrett der Förderanträge!) – ist nicht mehr nur von Lyrik, Todessehnsucht und Selbstzerstörung im Format. Er hat vielmehr fast etwas Bodenständiges, so gut gelaunt taucht er auf. Dieser Bengel ahnt natürlich nicht, mit wem er sich da anlegt, wenn er Onegin zum Duell fordert – und man möchte ihm am liebsten eine Warnung auf die Bühne zurufen: Vorsicht, Lenski, gib Acht, Onegin ist dir weitaus überlegen!
Das gilt auch für Constantine Allen, der im übrigen aus dem amerikanischen Indiana kommt und auf Hawaii aufwuchs. Dann wurde er in der Kirov Academy of Ballet in Washington ausgebildet, eine sehr technisch arbeitende Schule, die auch den Rock-the-ballet-Maker Rasta Thomas hervor brachte. Zwei Jahre an der John Cranko Schule in Stuttgart waren danach für Allen unerlässlich. Er erhielt den Grand Prix beim Tanzolymp Berlin und fiel vor allem in modern-abstrakten Balletten beim Stuttgarter Ballett absolut positiv auf. Seit 2014 ist er Erster Solist dort – und tanzte schon den „Othello“ von Neumeier und den „Ewigen“ im „Lied von der Erde“ von MacMillan.
Allen hat dieses Flair von jugendlicher Unbeschwertheit, das im Ballett so außerordentlich hilfreich ist. Dem neuen Weg von Lenski ist dieses Naturell natürlich zugetan – fast hat man den Eindruck, dass der junge Mann zu Tode kommen wird, ohne zu wissen, wieso. Man möchte ihn alarmieren, aufwecken, ihm sagen, dass das Leben ohne Umsicht gefährlich ist!
Aber es würde ja nichts helfen, aus Ballett so eine Art Kasperletheater zu machen, auch wenn in früheren Zeitaltern das Sprechtheaterpublikum sich häufig lautstark an den Aufführungen beteiligte. Hier indes greift das Räderwerk der Psychologie, in der Ehre und Krieg nah beieinander liegen.
Lenski, der froh gemute junge Held, fällt Onegin zum Opfer – durch eigene Schuld.
Der Schuss ist punktgenau intoniert – und es wird Zeit, darauf hinzuweisen, dass das Zusammenspiel von Musik und Tanz wohl nirgendwo so intensiv und gelingend ist wie in Stuttgart. Das wird zum Einen an der Company liegen, an den Solisten wie am Corps, das sich strikt musikalisch verhält. Wenn etwa Elisa Badenes Tatjana ihr Buch zurück gibt, so ist das eine tänzerisch-musikalische Geste, die in den Klängen des von Kurt-Heinz Stolze potenzierten Tschaikowski eine akustische Entsprechung findet. Solche Details sind göttlich in Stuttgart!
Zum Anderen liegt der musikalische In- und Output aber auch am langjährigen Musikdirektor des Stuttgarter Balletts, an James Tuggle. Schon, dass es seinen Posten überhaupt gibt, zeigt, welchen Stellenwert man der Musik am Stuttgarter Haus einräumt. Der Amerikaner, der von Beginn seiner Karriere bis heute international gastiert, hat sich erst in Stuttgart auf Ballett spezialisiert und mit dem Staatsorchester Stuttgart einen einzigartigen Klangkörper für Ballett definiert. Dieser Sound ist unverwechselbar und sollte jeden Ballettfreund akustisch sensibilisieren. Den Einstieg präsentierte Tuggle auffallend zügig, während er das Tempo im weiteren Verlauf langsam absenkte.
Besonders hervorzuheben war am Samstag ein Bratschensolo im zweiten Akt – auch für solche Brillanz aus dem Orchestergraben hat man im Ballett Sinn.
Leider aber, und das muss ich doch mal rügen, werden in den Stuttgarter Programmheften die Besetzungen nur ungenügend angezeigt. So werden die spielenden Mitglieder des Staatsorchesters gar nicht namentlich erwähnt und von den Tänzern nur die Solisten und das Corps als komplette Angestelltenmasse, nicht aber, wer vom Corps an diesem Abend und in welcher Szene tanzte. Dabei springen einige der jungen männlichen Tänzer – zum Beispiel so tollkühn und extravagant – und ohne Zwang, denn die Choreografie ist hier leicht zu Gunsten der Springer moduliert – dass man wirklich gern ihre Namen wüsste, um sie sich zu merken. Ein Publikum, das sich mit Tänzern anfreunden möchte und nicht nur die Eliten, sondern auch die „normalen“ Ballettkünstler lieben lernen möchte, sieht sich da geneppt. Ich bitte um Überarbeitung dieser Anonymisierung, was sicher ein langfristiger Prozess sein wird.
Dafür gibt es eine „Stuttgarter Spezialität“, die man an anderen Häusern auch gern hätte: Die Solisten signieren in den Pausen im Foyer im ersten Rang für die Fans Bücher, Kalender, Schreibblöcke und Spitzenschuhe. In Kostüm und Make-up stehen sie da, lächeln und kritzeln ihre Namen aufs Papier – fabelhaft.
Im Interieur des Opernhauses in Stuttgart ist derweil etwas herauszufinden: Jürgen Rose, der ja für viele Inszenierungen des „Onegin“ die Ausstattung besorgte und der ohnehin der Titan unter den Bühnen- und Kostümbildnern für Ballett ist, schuf sein Ambiente für die Stuttgarter Bühne nicht ohne Hintersinn.
Tatsächlich findet sich zum Beispiel im ersten Rang ein Entrée, dessen Ehrenkranz-Emblematik an den legendären „Onegin“-Vorhang mit den Initialen „E.O.“ für „Eugen Onegin“ erinnert. Und überall im Haus befinden sich biedermeierlich inspirierte Möbel und kunsthandwerkliche Friese, die diesen Stil aufgreifen. Da könnte so manche nett gestaltete Nische im Haus glatt auch Teil des Bühnendekors von „Onegin“ sein!
Das lässt interpretatorische Rückschlüsse zu. „Onegin“ spielte für Cranko also nicht nur in Russland. Sondern auch in Stuttgart! Onegin, Tatjana, Olga, Lenski, auch Gremin, der Tatjana heiratet – all diese Personen könnten auch heute und sogar in Deutschland leben… und sie hätten noch immer denselben Schönheitssinn, dieselbe Ästhetik, dieselben Ideale und Werte – und denselben Durst nach persönlicher Unabhängigkeit und Autonomie wie Onegin.
Dass Onegin aber auch gerade dadurch nicht nur seinen Freund, sondern auch Tatjana verliert, begreift der Dandy dann erst gen Ende des Tanzdramas. Als er nach zehn Jahren die einst Zurückgewiesene wieder sieht, ist sie die Gattin des Fürsten Gremin, dem sie gerade in Alicia Amatriains Interpretation eine gefestigte innige Zuneigung entgegen bringt. Der „Rote Pas de deux“, den Tatjana traditionell im roten Abendkleid tanzt, ist denn auch von einer berauschenden Schönheit hier, Nikolay Godunov als Fürst ist ein zurückhaltender, souveräner Mann – und Onegin, der zuschaut, wird vor Eifersucht fast aufgefressen.
Friedemann Vogel spielt hier aber nicht nur die wie ein Flächenbrand aufstrebende Eifersucht, sondern vor allem eine beißende Selbsterkenntnis: Er sieht ein, was er alles verpasste, als er sich gegen Tatjana entschied. Ein Abgrund aus Lieblosigkeit und emotionaler Kälte – so erscheint ihm sein Leben jetzt, und diese Nuance habe ich noch nie bei einem Onegin so deutlich gesehen. Denn die meisten betonen, was auch ganz legitim ist, die neue Leidenschaft in Onegin für Tatjana, gekoppelt mit der Eifersucht, die sie Onegin hier erst recht begehrenswert erscheinen lässt.
Friedemanns gestische Einsichtsfähigkeit verleiht der Figur des Onegin aber eine zusätzliche Dimension und eine Tiefe, die der doch oft recht oberflächlich erscheinende Freigeist sonst so nicht haben kann. Es ist ein Genuss, diese Momente mit ihm auf der Bühne mit zu erleben.
Es ist also nur logisch, dass er sie wiedersehen will. Als er ihr seinen Besuch in einem Brief ankündigt – im Programmheft in Stuttgart ist er abgedruckt – scheut er sich nicht, ihren damaligen Brief fast wörtlich zu zitieren: „mir schwand / Die letzte Kraft zu widerstreben; / An Ihrem Urteil hängt mein Leben, / Mein Schicksal ruht in Ihrer Hand…“
Der Pas de deux zwischen den beiden ist denn auch von ausgesuchter Delikatesse. Friedemann Vogel und Alicia Amatriain bieten sich hier ein tänzerisches Gefecht der Liebe und der Leidenschaften, wie es sein soll: voll technischer Präzision, aber auch voll „sprechender“ choreografischer Texte.
Alicia, die hier mitunter irgendwie was Russisches an sich hat, ist dabei bestimmt vom Einerseits-Andererseits, vom Hin- und Hergerissensein zwischen Ja und Nein, ihre Tatjana ist eine Frau zwischen Nachgebenwollen und Hartbleibenmüssen. Nein, sie schmilzt nicht automatisch dahin, wenn sie ihren Onegin endlich mal wieder allein in ihrer Nähe sieht – aber wirklich standhaft zu bleiben, fällt ihr auch schwer. Ein wenig erinnert Alicia mich an Silvia Azzoni vom Hamburg Ballett, die in dieser Szene ebenfalls keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass es sich um Selbstüberwindung handelt, die Tatjana sich hier abringt, und dass es ihr keineswegs um eine neue Auslotung des Verhältnisses zu Onegin geht. Das ist die Variante, die Polina Semionova tanzt und spielt, absolut unanfechtbar toll, übrigens.
Alicias Tatjana geht es weniger um den neuen Onegin als vielmehr um ihr eigenes neues Leben. Dazu hat sie allen Grund: Ihre Ehe mit Gremin ist von bezauberner Schönheit.
Aber die Lust, die ein Onegin verspricht, lockt eben schon. Und Friedemann Vogel zieht hier alle Register, mit Verve legt er sich vor ihr hin, so wie sie sich am Ende ihres „Spiegel-Traums“ vor ihm hinlegte: die Arme über dem Kopf gerundet, in verehrender Haltung. So endete der „Spiegel-Traum“, und mit genau dieser Geste, nur spiegelverkehrt, beginnt Onegin sein Werben um Tatjana. Allerdings legt er sich nicht einfach vor ihr hin, sondern umfängt sie im Heruntergehen des Oberkörpers mit seinen Armen: es ist sozusagen die männliche Variante dieser Bewegung.
Diese Inbesitznahme allein verfehlt aber noch ihre Wirkung. So ergreift Alicias Tatjana erst beim dritten Mal die Hand, die Onegin alias Friedemann Vogel ihr von unten – weil er am Boden sitzt – anbietet. Im Original hat er sie zu diesem Zeitpunkt bereits fest im Griff, wenn sie um ihn herum in die verschiedenen Himmelsrichtungen einige Schritte geht, als wolle sie vor ihm flüchten. Und auch im Folgenden wehrt sich Alicias Tatjana weitaus heftiger als die meisten anderen. Erst im weiteren Verlauf des Pas de deux wird sie langsam, langsam empfindsam für seine Werbung. Und dreht sich dann um – und umarmt ihn. Sie ihn!
Am Ende hat er sie fast soweit, dass sie seinem Drängen nachgibt. Ob es nur um einen einmaligen sexuellen Akt geht, den Onegin will, oder ob von einem Leben in der Zukunft die Rede ist – wir wissen es nicht. Denn die Worte des Balletts sind zwar mitunter sehr deutlich, ganz eindeutig sind sie aber selten und in diesem Paartanz wären sie sogar verheerend langweilig.
Auf dem Höhepunkt der Spannung hat das Paar dann die technische schwierigste Passage zu bewältigen: den doppelten „Hexensprung“. Hier erweisen sich Friedemann und Alicia als wahre Könner, die hochgradig konzise Komplikation mit lockerem Spiel zu vereinbaren. Da legt er sie wörtlich flach, um sie dann in einen vertikalen Spagatsprung emporzuziehen – tadellos gelingt dieses. Wow!
Den bald darauf folgenden zweiten Spagatsprung, der klassischerweise ebenfalls vertikal ist, vollführt Alicia als grandios weit geöffneten horizontalen Spagatsprung an Friedemanns Hand – eine nicht unübliche Variante, die man des öfteren sieht, die aber selten von so großer Herrlichkeit wie hier ist.
Alicias fantastischen, nicht überstreckten, aber weit gesprungenen Grand jetés sind ohnehin jedes Mal eine Augenweide und ergänzen Friedemanns gefühlte Dreimeter-hoch-Sprünge: ein sprunggewaltiges Paar, die beiden, die zudem noch im Augenspiel Höhen und Tiefen der Liebe ausloten.
Man muss dazu sagen, dass nicht alle First-Class-Ballerinen diese „Hexensprünge“ makellos absolvieren. Das ist generell nicht so schlimm, sie sind nicht konstitutionell fürs Verständnis des Stücks. Aber toll ist es natürlich, wenn der Zuschauer solche Glanzstücke wie hier zu sehen bekommt!
Am Ende ist Alicias Tatjana dennoch klar: Er muss gehen. Er stört sie in ihrem neuen, soliden, brav-bürgerlichen Leben. Er verkörpert den Rausch, das Unberechenbare, das Nichtfassbare, das Nichthaltbare. Es könnte sie töten. Mit entschiedener Resolutheit weist sie ihn ab, er fleht, er bittet, geht noch einmal vor ihr zu Boden, umsonst – er muss fliehen vor ihrem Zorn, denn jetzt hat sie seinen Brief zerrissen und ihm gesagt, dass er sich zum Teufel scheren soll.
Höchste Liebe, tiefster Abgrund: Natürlich verpassen die zwei was. Aber Tatjana erspart sich und ihm auch was. Das peinliche Abkühlen der Leidenschaft, zum Beispiel. Oder es gäbe eine Katastrophe, wenn sie eine heimliche Liebschaft unterhielten – und dann aufflögen. Miteinander durchzubrennen, verspräche auch eher soziale Isolation als dauerhaftes Glück. Zumal Onegin nicht gerade als treusorgender Gatte profiliert ist.
Andererseits hätte ein Liebesabenteuer zwischen Tatjana und Onegin noch mannigfaltige Potenziale. Auch choreografisch!
Ist es also eine rigide, dumme, sogar nutzlose Moral, die Tatjana daran hindert, ihren Onegin als das anzunehmen, was er ist?
Als Hallodri und äußerst unsteter Verehrer, bei dem Treue nicht wirklich vorauszusetzen ist, verspricht er immerhin Lustgewinn durch Erfahrenheit und auch die Tiefe einer gewissen emotionalen Entjungferung – da er ja zuvor in keine Frau so verliebt war wie jetzt plötzlich in die anderweitig verheiratete Tatjana.
Und sie selbst? Schützt sie nur sich mit dem Verzicht auf die große Liebe?
Sie beschützt selbstredend auch ihre nette, liebevolle, zärtliche, fürs Seelenheil zudem harmlose Beziehung zu ihrem fürstlichen Ehemann. Es ist ja eine anständige, ehrbare, fast möchte man sagen: „schwäbische“ Ehe – und diese ist mit einer sozialen Position verbunden, die nicht zu verachten ist.
Aber was ist Geld, was ist gesellschaftliches Ansehen, wenn es um echte Gefühle geht?
Die Neureichen von heute werden mir Unrecht geben. Aber Glück und auch Gesundheit erringt man keineswegs, indem man sich den fanatischen Bedürfnissen des sozialen Aufstiegs unterwirft. Eugen Onegin weiß das – und das hat ihn auch immer stark und für die Zuschauer so faszinierend gemacht.
Gisela Sonnenburg
Wieder am 9. Juni im Opernhaus in Stuttgart
Jason Reilly aus Stuttgart als Stargast in Berlin:
www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-onegin-jason-reilly/
Hyo-Jung Kang, ebenfalls aus Stuttgart, als Stargast in Berlin:
www.ballett-journal.de/staatsballett-berlin-onegin-hyo-jung-kang/
Und in München gab es am 14. Juni 2015 eine „Onegin“-Doppelvorstellung, inklusive Lucia Lacarra als Tatjana, die damit aus der Baby-Pause wieder kam! Zwei Berichte dazu hier unter „Bayerisches Staatsballett“.
Interview in English with Tamas Detrich about 50 years „Onegin“ please here:
www.ballett-journal.de/stuttgarter-ballett-onegin-50-jubilee-2017-tamas-detrich/