Auch große Meister bauen manchmal Mist. John Inger, schwedischer Choreograf und Experte für Klamauk ebenso wie für Deftiges, scheitert langatmig an seinem Versuch eines modischen Verschnitts des Ballettklassikers „Schwanensee“. Das war abzusehen. Aber umso spektakulärer jemand heutzutage scheitert, desto geiler sind die Medien aufs Vorzeigen und Bejubeln. Zumindest, wenn genügend Staatsgelder im Spiel sind. Und so wurde diese neue, nur zwei Stunden lange „Schwanensee“-Version vom Semperoper Ballett heute live auf arte concert übertragen – und nach seiner Uraufführung vor einer guten Woche von den staatsgeförderten Medien mit viel Lob überschüttet. Das Ballettpublikum dürfte dennoch nicht gerade in Scharen dafür in die Semperoper kommen. Immerhin dafür war die Übertragung auf arte concert in diesem Sinn sehr wertvoll: gut für alle, die sich jetzt Lebenszeit und Anfahrtkosten sparen wollen. Denn nicht mal musikalisch überzeugt die Inszenierung; die sonst so hinreißende Sächsische Staatskapelle Dresden betrübt mit plumpem Bummbumm. Der Dirigent Thomas Herzog peitscht den weltberühmten Klangkörper ziemlich grob durch die Partitur. Aber vielleicht hat er damit auch nur versucht, sich dem neuen Ausdruck dieses Nicht-Schwanensee anzupassen. Denn es ist in der Tat ein Schwanensee ohne Schwanensee: Nicht mal ein Tümpelchen mit Enten ist zu sehen.
Gelangweilt wandte sich Johan Inger ab vom traditionellen Libretto des „Schwanensee“, das einst Modest Tschaikowsky, der Bruder des Komponisten Peter I. Tschaikowsky, erfand, um seinen Nichten und Neffen eine Freude zu machen. Auch von der weltweit bekannten Choreografie von Marius Petipa und Lew Petipa von 1895 ist bei Inger nichts geblieben, nicht ein einziges Zitat. Es ist ja schön, wenn jemand etwas Neues machen will. Aber wenn man dann nur in dumpfen Pseudo-Mythen wühlt und sich von anderen Künstlern Ideen für die Optik zusammenklaut, dann ist das Ergebnis wirklich nichts für Anspruchsvolle.
Das deutsche Märchen, das Inger besser gefiel als der bekannte „Schwanensee“, heißt „Der geraubte Schleier“. Es ist keine Überlieferung der Gebrüder Grimm, sondern von Johann Karl August Musäus, der es erstmals 1784 veröffentlichte.
Darin gibt es Schwanenmädchen, die nur dank ihrer Schleier fliegen können.
Eines dieser Mädchen – namens Zoe – wurde von einem späteren sächsischen Einsiedler geliebt, musste aber im fernen Mittelmeergefilde den bösen Fürsten Zeno von Naxos heiraten.
Inger zeigt die unglückliche Frau (getanzt von Zarina Stahnke) am Hof auf Naxos, wo im ersten Akt alle außer ihr schwarze Kleidung tragen. Ihr Gatte Zeno (Christian Bauch) vergnügt sich hemmungslos mit anderen Damen und behandelt seine Angetraute demonstrativ gewalttätig und sexistisch.
Trotzdem trägt sie gold-roten Brokat zu den fleischfarbenen Socken, die ihr die Spitzenschuhe ersetzen. Der Zuschauer soll Zoe offenbar gut erkennen, darum wohl die bunte Kostümwahl.
Lustig ist ihr Leben nicht, und die drastisch-plakative Weise, wie ihr Ehemann sie erniedrigt, soll vermutlich anrühren. Allerdings ist all das künstlerisch viel zu primitiv umgesetzt, und der Tanz – ob Soli oder Gruppentanz – wirkt lediglich oberflächlich-zappelig, mit deutlichen Anleihen bei David Dawson in den Posen und bei Renato Zanella für eine immerhin ansehnliche Nummer.
Bei Zanella ist auch das Kostüm für einen Prinzenersatz hier entliehen: Es scheint aus Zanellas Solo „Voyage“ zu stammen. Ein Mann in cremefarbenem Schlabberlook (weite Hose, weites Hemd, weites Jackett) durchschreitet in Zanellas Solo die Gezeiten seines Lebens symbolisch als Lebensreise. Vladimir Malakhov tanzte es – und es wurde weltbekannt.
Benno, so der Name des Gasts und Einsiedlers hier bei Inger, steht mit Vollbart und schlechter Laune in diesem Sommer-Outfit ziemlich dumm auf der Bühne rum. Er scheint sich nicht ganz wohzufühlen mit diesem schwarzen Hofstaat der Moderne, an dem er gelandet ist – und wenn dann auch noch konkreten Anlass, nur einfach so, Folklore-Tänzer auftauchen, guckt der gute Benno (Jón Vallejo) leider noch dümmer als sonst aus der hellen Wäsche.
Dabei ist Vallejo eigentlich ein so toller Tänzer. Aber hier ist sein Einsatz eine Verschwendung eines guten Tänzers an eine schlappe Rolle.
Als dann noch ein Matrosen-Blaustrumpf-Mädel ankommt und Benno ohne jeden Erfolg anbaggert, ist das Maß voll. Das ist nicht Satire, das grenzt an Diskriminierung. Hat Johan Inger was gegen clevere Frauen? Sind sie irgendwie unattraktiv, weil sie selbst aktiv werden statt abzuwarten?
Tatsächlich wirken auch der Torero und die Mädchen in weiten rot-schwarzen Röcken hier nur abgeschmackt. Nicht mal der Hofstaat schaut ihnen zu: Sie imitieren Folklore nur, um für Benno ein tänzerisches Ständchen zu geben. Gibt es da einen Sinn, der mit der Handlung in Zusammenhang steht? Fehlanzeige.
Das Bühnenbild sieht einen Halbkreis aus weißen Lamellen für den Hof vor und eine blaue Blase als verspiegeltes Oval oberhalb der Bühne für die so genannten weißen Akte. Logisch, dass diese hier nicht weiß sind.
Die Schwäne sind hier Mädchen in Ganzkörperkondomen mit irisierenden Schleiern. Und es gibt auch männliche Exemplare dieser Art.
Zur klassisch-pathetischen Musik von Tschaikowsky passen sie nicht.
Aber Benno tanzt mit den seltsamen Lebewesen, wenn auch ohne große Gefühle. Die bleiben hier sowieso ausgespart.
Zurück am Hof, sieht Benno, wie Zoe weiter von ihrem Fürsten erniedrigt wird. Ihr Schleier scheint ihr einziger Trost: die Erinnerung an ihre Jugend.
Nach nur einer Stunde ist schon Pause. Sicher stützt sich das Publikum in der Semperoper in Dresden durstig auf einen Sekt, eine Cola, ein Bier oder ein Wasser. Berührt dürfte es vom Bühnenkrawall à la Schwanentümpel nicht sein, auch wenn manche Medien das mal einfach so nach der Uraufführung verkündet haben.
Wir können heutzutage in Deutschland davon ausgehen, dass es nur noch wenige unbestechliche Kritiker gibt. Die meisten Medien sind scharf auf Knete und Zuspruch von der Politik und aus der Wirtschaft – und loben schon darum jeden Käse über den grünen Klee. Sonst gibt es ja womöglich bald kein Interview mehr mit der Lokalpolitik oder keine Lockanzeigen mehr vom Staatsballett.
Dieses übel riechende Schwanengerümpel, das Johan Inger da angerichtet hat, bestärkt mich dennoch darin, festzustellen:
Die großen, tollen Tage des Semperoper Balletts sind wohl vorbei.
Was jetzt dort läuft, soll Touristen und Clubbesucher anlocken, es bietet Berieselung und Verblödung satt.
Mit dem politischen Hintergrund des echten „Schwanensee“, der immerhin Aussagen über einen melancholischen Prinzen, eine verkrachte Herrschaft sowie über ein patriarchales Gefängnis für junge Mädchen, die zu Schwänen verzaubert sind, macht, muss sich in Dresden jetzt niemand mehr beschäftigen. Es genügt, sich nach dem Motto „das ist neu und toll pornografisch“ die Hucke volltanzen zu lassen.
Nach der Pause kommen die Männer des schwarzen Hofstaats auf die Bühne, um mit den jungen Hofdamen, die immer noch schwarze Tutu-Anklänge tragen, ein bisschen umherzuhupfen. Ob hier gebalzt werden soll oder ob man einfach nur froh ist, dass man tanzen kann, bleibt unklar.
Das Gezappel, das Johan Inger anrichtet, wirkt jedenfalls so banal und beliebig wie moderne Tanzgymnastik zum Aufwärmen. Nicht mal an das Niveau von Revuetanz kommt Inger hier heran.
Psychologische Tiefe hat da nichts.
Immerhin kann Johan Inger für sich verbuchen, einige sehr interessante, witzige, leidenschaftliche Stücke gemacht zu haben. Da darf vielleicht auch mal was daneben gehen. Besorgnis erregend ist nur, dass Inger nicht mehr jung ist, und man befürchtet, dass er nie wieder zu seiner alten Form zurück findet. Zu stark brechen hier Anspruch und Bühnenrealität auseinander.
Zur wimmernden Violine, die hierher aus dem anderen Tschaikowsky-Ballett „Dornröschen“ implantiert wurde (so etwas ist generell okay), kommt erstmal wieder Zoe herein. Dieses Mal trägt auch sie Schwarz. Es steht ihr. Sie tanzt, offenbar verliebt, mit Theo (Joseph Gray), ihrem gut gebauten Vertrauten. Ein ganz hübscher Pas de deux, aber der jungen Mann verbeugt sich offenkundig nur als Untertan vor ihr.
Und wieder kommt eine Anleihe von David Dawson auf die Bühne: Die Hofmänner haben schwarze Stöcke statt Schwertern, mit denen sie Macht demonstrieren. Man erinnert sich an „Tristan + Isolde“ von Dawson, das er 2015 fürs Semperoper Ballett kreierte. Was war das für ein ästhetisch-erhabenes Erlebnis!
Hier bleibt alles bodennah, ohne jene Magie, die Ballett – auch modernes – ausmachen sollte.
Die Männer rotten sich zusammen und laufen hektisch auf der Stelle.
„Deutschland muss kriegstüchtig werden“ – zu diesem grauenvollen Diktat des Verteidigungsministers Boris Pistorius passt diese Szene haargenau.
Und in kleinen Gruppen üben die Männer und auch Frauen weiter wie Soldaten in Schwarz die Aggression, wiewohl das zur lieblichen Walzermusik von Tschaikowsky absolut nicht passt.
Fast versteht man den Dirigenten, der das hier vielleicht am liebsten hinschmeißen möchte. Jedenfalls klingt es so.
Auch wenn die Tänzer laut kreischen und rufen, so passt das überhaupt nicht zur Musik, zum Ambiente oder auch nur zum neu erfundenen Szenario von Inger. Es soll halt nur irgendwas los sein auf der Bühne. Und das reicht nicht.
Über allem schwebt oft ein großer weißer Neonreif – eine Anleihe bei „Nijinsky“ von John Neumeier, was wirklich ein großartiges Ballett ist, das gern als im Handel erhältliche DVD / BluRay sich selbst oder anderen geschenkt werden darf.
Weiter geht’s mit der Zeitvergeudung à la Inger: In Zeitlupe wird eine Schlacht der Schwarzen gegen gelbgold gewandete Krieger geschlagen – am Ende sind alle, auch die Gelbgolden, tot.
Soll das ein Plädoyer für Pazifismus sein? Eher kommt es fatalistisch rüber, Motto: Wo Waffen eingesetzt werden, sterben die Leute halt. Ist eben so.
Unser Gast auf der Bühne kommt mit einer weiblichen Begleitung in einer Art Schlafanzug aufs Leichenfeld. Und er tanzt mit einem Sterbenden, zufällig ist es der zweite Prinzenersatz Theo (Joseph Gray), Zoes Vertrauter und Pas-de-deux-Partner, den Benno durch das Rollen am Boden zum Leben erweckt.
Sie tanzen einen Paartanz. Sind sie Brüder im Geiste? Benno geht. Theo zieht erstmal die Jacke aus. Klar, es ist heiß, wenn man mit einem anderen Mann tanzt. Die beiden schütteln einander die Hände. Puh, das sieht die Queer-verbliebte Politik aber gern.
Der zweite Teil ihres Paartanzes bginnt mit synchronen Hüpfern, bis sie umeinander stiefeln, als seien sie zwei Kinder.
Theo will wohl mehr… aber kommt er damit an? Bei Roland Petit („Proust Pas de deux“) wird hier auch geklaut, ohne dass Johan Inger an die Brillanz des bekannten Männerpaartanzes von Petit heran kommt.
Für echte Ballettliebhaber ist das Ganze unerträglich dröge.
Sogar, als Benno einen Schwächeanfall hat und Theo ihn auffängt, wähnt man sich in einer Art missratenem Kindertheater.
Und dann weist Theo, wieder zu Kräften gekommen, Benno zurück – tanzt und stiefelt aber dennoch weiter um ihn herum.
Im Lichtoval oben spiegeln sich jetzt wieder die Ganzkörperkondome. Benno ist anscheinend fasziniert und will herausfinden, wer davon Männlein und wer Weiblein ist.
Dazu erschallt die berühmte Schwanensee-Musik… Aber es gibt Tierfilme, die noch eher dazu passen als diese Gehupfe hier.
Benno erleidet prompt einen Herzinfarkt. Kein Witz. Er kippt um und ist tot.
Theo schließt ihm die Augen, faltet Bennos Hände und senkt trauernd den Kopf. Na, das ging schnell. Im Ballett dauert ein Theatertod sonst meist etwas länger. Und ist auch ergreifender anzusehen.
Dafür zappelt es weiter bei den Ganzkörperkondomen. Theo ist davon jetzt entzückt. Das Mädchen im Schlafanzug kommt dazu und nimmt die Leiche mit, die somnambul von selbst gehen kann.
Ja, es ist ein ziemlicher Murks.
Und weiter hoppeln die Ganzkörperkondome ohne Schleier, die nicht wirklich etwas Konkretes darstellen, so, wie sie dastehen.
Es ist so peinlich. So krampfhaft auf modern gemacht… Große Balletttruppen im Ausland dürften jetzt über Dresden lachen.
Was für ein Absturz!
Von der zurecht hoch gelobten David-Dawson-Stil-Truppe, die zudem zeitweise die schwierigen Stücke von William Forsythe mit Weltklasse tanzte, zu so einem anspruchslosen Gehampel… das ist nur noch schlimm.
Da wird der kommende Ballettdirektor namens Kinsun Chan – der vom Tanztheater aus St. Gallen in der Schweiz kommt und auch nicht viel drauf hat – nicht mehr viel verderben können.
Ein herziger Pas de deux von Odette (Ayaha Tsunaki), einem jungen Mädchen, mit ihrem bisexuellen Liebhaber Theo versucht, etwas rauszureißen. Lustig sind sie hier, die zwei, kindhaft und verspielt. Aber passt diese Szene zu der schwerblütigen Musik? Nein!
Und was hat Theo eigentlich so aufgelockert? Macht es müde Krieger munter, wenn sie einen Freund sterben sehen?
Dann kommt Theo auch noch mit einer Luftpumpe an, die per Fuß bedient wird, und mit der man normalerweise Luftmatratzen aufpumpt.
Hier bläht er damit Odettes Bauch auf. Odette ist also eine Art Matratze?
Es ist so geschmacklos, dass man meinen könnte, die Gattin von Robert Habeck, die 2021 ein dümmliches Kinderbuch verfasste, habe das Szenario erfunden. Am Ende schreit Odette. Das war zu erwarten.
Das sollte die Geburt sein. Theo hält flugs ein Baby im Arm, gibt es der jungen Frau. Ein geschniegelter Typ namens Kallisto erscheint und ist verständnislos. Er geht auch gleich lieber wieder.
Mit irgendeinem Märchen hat dieses Gemisch aus Sinnlosigkeit und Aktionismus definitiv nichts zu tun.
Bei Musäus gibt es übrigens ein Mädchen namens Kallista, und zwar ist sie die Tochter der unglücklichen Zoe. Hier aber soll es wohl keine typische Märchenstruktur geben – Inger lässt lieber drauflos hampeln.
Und die Ganzkörperkondome sind wieder da. Wir haben sie schon vermisst.
Theo fühlt sich als Vater mit Baby von ihnen ausgestoßen. Sie machen ihre Party jetzt ohne ihn. Und dann wird seine Frau auch noch von den hoppelnden Kondomen entführt.
Oder ist es eine postnatale Depression, die sie da mittanzen lässt? Erst im Pas de deux mit Baby kommt sich das Paar wieder näher. Theo will wohl noch ein Kind.
Schließlich taucht aber Zoe, die gedemütigte Fürstin, auf – und ist enttäuscht, dass Theo ohne ihre Einwilligung eine Familie gründete. Sie klärt (wohl aus weiblicher Rache) Odette darüber auf, dass auch sie eine Schwänin ist, sie gibt ihr den Schleier – und Odette tanzt und tanzt damit, als sei sie schon immer psychisch labil gewesen.
Zurück bleibt Theo, jetzt oben ohne, mit verstörtem Gesichtsausdruck. Gebt ihm was zu essen, er sieht so hungrig aus! Vorhang.
Das Publikum, durchsetzt von Claqueuren, jubelt und pfeift, ist begeistert und aufgeputscht. War ja auch schön laut und geil. Und das genügt heutzutage, um ein Opernhaus in Erstaunen zu setzen. Eine traurige Entwicklung, aber absehbar.
Als nächstes wird man die klassische Musik zerzupfen und zersetzen und Jazz, Rockpop sowie reichlich E-Musik (original vom Computer und von jedem Halbwüchsigen zu bewerkstelligen) hinzumischen. Das passt dann besser zum Gehupfe.
Leute, hebt eure DVDs mit klassischem Ballett gut auf!
Gisela Sonnenburg
Bis 16.03.24 auf arte concert anzusehen.