Weihnachten an der Quelle Auf arte und arte concert locken zahlreiche Sendungen zum Thema Ballett – aber nur „La Source“ aus Paris - mit Karl Paquette – überzeugt

"La Source" lockt auf arte

„La Source“ brilliert online und einmal nächtens auf arte, mit der eleganten Ludmila Pagliero vom Ballett der Pariser Opéra als Quellenfee Naila. Videostill von arte: Gisela Sonnenburg

Weihnachten und Ballett sind ein festes Paar. In den großen Opernhäusern werden „Der Nussknacker“, „Dornröschen“, „Schwanensee“, „Cinderella“ und, beim Hamburg Ballett, das „Weihnachtsoratorium“ getanzt. Weitere Märchenstücke, oft mit Musik und Tanz bestückt, haben an kleineren Bühnen Konjunktur. Seine Jahresbestzeit erlebt der Tanz in diesen Tagen aber auch im Fernsehen. Nur: Gut gemeint und wirklich gut sind nicht dasselbe. Da protzen der Kultursender arte und seine Online-Mediathek arte concert in dieser weihnachtslichternen Zeit mit Sendungen über Tanz und Ballett. Doch kaum was davon ist wirklich sehenswert. So gibt es online die groß angekündigte Doku „Sternstunden der Musik: Rudolf Nurejews Schwanensee“ von Anne-Katrin Peitz. Doch man merkt sogleich: Da stimmt was nicht. Denn die Musik vom „Schwanensee“ wurde von Peter I. Tschaikowsky komponiert. Nurejew war ein berühmter Ballerino, der zudem choreographierte. Er steht für tänzerische Sternstunden, aber nicht für „Sternstunden der Musik“. Schleicht sich da ein Mangel an Bildung bei arte ein?

Das liegt insofern nahe, als die Autorin Anne-Katrin Peitz Expertin für klassische Musik ist, nicht aber für Ballett. So wird hier nur der erste „Schwanensee“ von Nurejew verhandelt, den dieser 1964 in Wien inszenierte. Davon, dass die ziemlich kitschig aufgemachte Version in Wien später (2014) eine stilvolle Neuausstattung von Luisa Spinatelli erhielt, erfährt man in Peitz‘ Doku nichts. Auch davon, dass Nurejew selbst den „Schwanensee“ 1984 in Paris zum zweiten Mal inszenierte, und zwar viel raffinierter, schweigt Peitz.

"La Source" lockt auf arte

Rudolf Nurejew mit Mitte 20 als Prinz Siegfried in „Sternstunden der Musik: Nurejews Schwanensee“ auf arte, eine Aufnahme von 1964 beim Wiener Staatsballett. Videostill von arte: Gisela Sonnenburg

Stattdessen lässt sie den von Daimler bezahlten Tanzmogul Eric Gauthier zu Wort kommen. Er kann nur dümmliche Werbesprüche absondern und kennt sich im historischen Ballett nicht aus. Auch eine frühere Ballerina aus Wien ist keine prickelnde Zeitzeugin. Nur Charles Jude, ehemals ein Startänzer, hat sicher recht, wenn er sagt, dass Nurejew Feinde hatte, weil er so arrogant war.

Wenn man Rudi dann als Prinzen mit türkisblauem Lidschatten und grellrotem Mund wie ein Revue-Girl aufgebrezelt tanzen sieht, wirkt das Phänomen Nurejew eher lächerlich als faszinierend.

Um sich auf diesen 60er-Jahre-Stil einzulassen, steht auch die ganze Show aus Wien von damals – mit Anne-Sophie Mutter an der Solo-Violine – gesondert bei arte online. Es ist ein „Schwanensee“ zum Staunen, mit durchaus originellen Einfällen – und vor allem mit der letztlich durch jedes Kostüm durchscheinenden Tanzkunst von Rudolf Nurejew und Margot Fonteyn, einer legendären Bühnenpartnerschaft.

Aber schon die nächste „Schwanensee“-Doku auf arte concert ist wieder eine Mogelpackung: „Swan Song: Ein neuer ‚Schwanensee‘“ von Chelsea McMullan ist eine lobhudelnde Referenz an die ehemalige kanadische Ballettdirektorin Karen Kain. Sie inszenierte in Toronto einen „Schwanensee“. Weil sie selbst nicht choreographieren kann, engagierte sie für das Neuarrangement ihren Protegé Robert Binet, der mit seinem langweiligen Stil auch in Deutschland schon auffiel.

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Dass Kain, als sie noch Tänzerin war, auch mal von Rudolf Nurejew gepartnert wurde, macht sie nicht zur Superqueen des Balletts. Im Vergleich zum dritten „Schwanensee“-Stück auf arte concert ist das Ding aus Kanada allerdings noch pures Gold, denn es enthält immerhin die Originalchoreographie von Marius Petipa und Lew Iwanow von 1895. Deren Arbeit ist genial und unkaputtbar.

Was sich hingegen der Choreograph Johan Inger jüngst beim Semperoper Ballett in Dresden leistete, grenzt an einen Skandal. Auch dieses Machwerk hält arte concert online parat: Ballett muss spektakulär zerstört werden, so lautet offenbar eine aktuelle Kulturdoktrin des Westens.

Inger lässt, was hier im Ballett-Journal auch ausführlich nachzulesen ist, unter dem Titel „Schwanensee“ zur Musik von Tschaikowsky eine selbst gebastelte Story mit Gehopse auffahren, die weder inhaltlich noch formal zur Musik passt und auch in sich kaum Sinn ergibt.

Da residiert ein sexistischer Fürst über einen schwarz gekleideten Hofstaat. Die gedemütigte Fürstin hat einen Schleier, mit dem sie fliegen kann. Hoppelnde Ganzkörperkondome ersetzen die Schwäne. Mal stirbt wer am Herzkasper, mal schwängert ein Mann ein Mädchen, indem er ihr mit einer Fußpumpe den Bauch aufbläht. Das Baby macht ihn dann zum Außenseiter. So einen Murks muss man nicht gesehen haben.

"La Source" lockt auf arte

Russisch inspirierte Ballettfolklore gibt es auch in „La Source“ vom Ballett der Pariser Oper auf arte und arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Utopie und Gesellschaftskritik – das sind Merkmale von hochwertigem Ballett. Und auch dem gibt arte 2023 noch eine letzte Chance: mit „Naila, die Quellenfee (La Source)“ in der Inszenierung von Jean-Guillaume Bart, mit dem hinreißend lyrischen Karl Paquette vom Ballett der Pariser Oper in der männlichen Hauptrolle.

„La Source“, „Die Quelle“, ist ein romantisch-klassisches Stück, das viel zu selten aufgeführt und inszeniert wird. Für große Compagnien, die einen großen Reigen mit maliziöser Tanzkunst bedienen können, ist es eine Herausforderung und ein Anlass für Triumphe in der Publikumsgunst.

Die Musiken stammen von Ludwig Minkus und Léo Delibes – gleich zwei erfahrene Ballettkomponisten spielen hier also mit. Alles in allem: ein Hochgenuss!

Man findet das rund zweistündige Video derzeit online aber nur auf dem Tagesprogramm („TV-Programm“) vom 23. Dezember 23 bei arte, und nicht bei arte concert in der Rubrik „Klassik“, wo es eigentlich hingehört. Ist das nun technisches Versagen oder ein Akt der Zensur?

Die hervorragende Aufzeichnung stammt jedenfalls von 2011. Darum tanzt ja auch noch der großartige Karl Paquette darin, der mittlerweile seinen viel bedauerten Bühnenabschied nahm.

Die Geschichte rankt sich um die aufopfernde Liebe einer Fee, die ihrem Liebsten zum irdischen Glück mit einer anderen verhilft – und dafür sogar ihr Leben gibt. Wer nun sagen will, das sei antifeministisch, greift zu kurz: Immerhin sind hier zwei Frauen in Hauptrollen besetzt, und es geht sehr wohl um die Gefühle der einen und um das Kalkül der anderen.

Der Mann, der zwischen ihnen steht, wirkt fast wie ein Spielball der erotischen Kräfte, zumal die Quellenfee Naila einen kräftig-schönen Begleiter hat.

"La Source" lockt auf arte

Ludmila Pagliero als gutherzige Fee und Karl Paquette als blindwütig Liebender in „La Source“ beim Ballett der Pariser Oper – zu sehen auf arte. Videstill: Gisela Sonnenburg

Die Originalchoreografie von 1866 stammt von Arthur Saint-Léon, der auch für Ballette wie „Coppélia“, „Das bucklige Pferdchen“ und „La Vivandière“ verantwortlich zeichnete. Er war ein international agierender Mann, der in Paris, Sankt Petersburg und Rom arbeitete. Das war nämlich im Ballett und in der klassischen Musik auch damals schon üblich.

Und arte übertrug vor 2022 nicht selten weltbedeutende Aufführungen aus dem Bolschoi in Moskau und dem Mariinsky Theater in Sankt Petersburg.

Erst der Hass der heutigen Nato-Staaten auf Russland, welches sie selbst seit 1999 unbotmäßig bedrängt und mit völkerrechtswidrigen Nato-Ost-Erweiterungen unter Druck gesetzt haben, unterbindet seit 2022 den regen Austausch in der Kultur, der seit Jahrhunderten auch die europäischen Künste geprägt hat. Damit knüpft die Nato direkt an die Politik von Adolf Hitler an. Denn selbst im Kalten Krieg gab es unter den Kunsteinrichtigungen von Ost und West staatlich geförderten Austausch: mit Gastspielen, Ausstellungen, Einstudierungen.

Weil das klassische Ballett nun bekannterweise eine russische Domäne ist, muss man aber leider annehmen, dass in naher Zukunft kein Richtungswechsel in der unversöhnlich gewordenen westeuropäischen Kulturpolitik stattfinden wird.

Das Publikum im Westen soll sich zunehmend mit Hopserei ohne ästhetische Form-Inhalts-Beziehung abspeisen lassen, während wir das hochkarätige Ballett aus Russland nur noch übers Internet sehen.

"La Source" lockt auf arte

Ein Pas de trois mit action: „La Source“ vom Ballett der Pariser Oper auf arte, online und in der Nacht vom 23.12.23. Videostill: Gisela Sonnenburg

„La Source“ ist eine Ausnahme und verweist noch in die gute alte Zeit, als der Austausch der großen Ballettschulen und Compagnien zum normalen Bildungsprogramm gehörte. Die Pariser Oper brachte damit ein Juwel hervor – und auch, wenn es keine direkte russische Beteiligung an der Aufführung gibt, so gab es im Hintergrund, etwa bei den Aus- und Weiterbildungen der Künstler, doch immer diesen regen Austausch.

In der Nacht vom 23.12. auf den 24.12.23, um 0.20 Uhr, in der Geisterstunde vor dem Heiligen Abend also, wird das gute Stück nun auch auf arte im Fernsehen gezeigt (und nicht nur online). Es wurde übrigens kurzfristig um eine Stunde nach hinten auf diese Uhrzeit verlegt, denn wochenlang war von arte 23.30 Uhr als Beginn angegeben. Jetzt rutschte der arte-Lieblingsgeiger Daniel Hope mit einer eher läppischen Sendung dazwischen.

Irgendwie hat man den Eindruck, dass so viele Pannen bei der Bekanntmachung eines klassischen Balletts auf arte kein Zufall sind.

Es online anzusehen, bringt aber auch sehr viel (vorausgesetzt, man findet es):

"La Source" lockt auf arte

Ein anmutiges Corps de ballet tanzt in „La Source“, einer Aufzeichnung aus Paris, zu sehen auf arte. Videostill: Gisela Sonnenburg

Isabelle Ciaravola als schöne, aber kalte Nouredda und Ludmila Pagliero als warmherzige Quellenfee Naila beeindrucken zutiefst, und das Corps de ballet tanzt so hervorragend, dass man bezweifelt, ob das Ballett der Pariser Oper jemals wieder an diese seine tänzerischen Höhen herankommen wird.

Absolutes Highlight aber ist Karl Paquette, der in der Partie des vor Liebe fast blinden Djémil seine Paraderolle hatte. Welche Schönheit bringt doch jene Hormonverwirrung mit sich, die man Liebe nennt!

Paquette verkörpert diesen Liebenden vorzüglich, zeigt auch dessen Gewissensbisse und dennoch den obsiegenden Egoismus der Liebe.

Daran ist nichts kitschig, auch wenn das Environment mit Feen und Waldgeistern nicht eben realistisch anmutet. Aber die Psychologie der Story ist brandheiß – und wer sich mal mit dem Thema „Ehescheidungen“ beschäftigt hat, weiß, wovon da die Rede ist.

Die Ungerechtigkeit der Gefühle war eben auch schon im 19. Jahrhundert ein großer Aspekt des Lebens.

"La Source" lockt auf arte

Ballett wie Musical ohne Gesang: „A Christmas Carol“ aus der Finnischen Nationaloper in Helsinki, zu sehen online auf arte concert. Videostill: Gisela Sonnenburg

Die Anstrengungen von arte, möglichst jeden Geschmack und vor allem den etwas kommerzielleren in diesem Jahr zu bedienen, sind damit noch nicht vollendet. Eine ziemlich grobschlächtig-folkloristische Charles-Dickens-Vertanzung aus dem Opernhaus von Helsinki kam auch noch ins Programm, und sie passt wenigstens zum Weihnachtsthema: „A Christmas Carol“ („Ein Weihnachtslied“). Ab dem 23.12.23 ist es online – und nur online – auf arte concert verfügbar.

Eine kleine Warnung: Dickens-Vertanzungen sind künstlerisch nicht risikolos.  Das Ding aus Helsinki  hat denn auch den Anstrich eines Musicals ohne Gesang und strotzt nur so vor sozialen Klischees. Böse reiche Menschen stehen gegen die Normalität und die Herzensfreude der Ärmeren. In den heutigen Zeiten, da alle nach Geld, Macht und Erfolg streben, als seien diese drei Dinge bereits der Sinn des Lebens, hat es der Dickens-Kitsch aber echt schwer.

Mein Tipp: Lieber „La Source“ ein zweites oder auch drittes Mal anschauen. Künstlerische Qualität geht nämlich immer vor.

In diesem Sinne wünscht das Ballett-Journal eine frohe Weihnachten und eine bestmögliche Jahresendzeit!
Gisela Sonnenburg

www.arte.tv

 

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