Als die junge Ballerina Ana Torrequebrada vom Hamburg Ballett nach ihrer Wunschrolle gefragt wurde, nannte sie die Marie im „Nussknacker“ von John Neumeier. Jetzt ist es soweit: Ana, die schlanke Spanierin, die so jung wie das Jahrhundert ist, dazu eine frühlingshafte Maigeborene, tanzte gestern die Partie der kindlichen Marie, die an ihrem 12. Geburtstag ahnt, dass sie dem Erwachsenwerden nicht entkommen wird. John Neumeier verlegte bekanntlich die Handlung des Ballettmärchens „Der Nussknacker“ zur Musik von Peter I. Tschaikowsky vom Weihnachtstermin auf den Kindergeburtstag. Ein üppiges, detailfreudiges Bühnenbild im Stil der Belle Époque, also der Gründerzeit um 1900, die auch Sigmund Freuds „Traumdeutung“ hervorbrachte, bietet den Rahmen für das kunterbunte Familienleben von Konsul Stahlbaum. Er und seine Gattin haben fünf Kinder, von denen Marie in der Mitte steht: an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Und so träumt sie von Schönheit und Liebe, von internationalem Frieden und familiärem Verständnis, von Glück und Harmonie – und von so viel Aufregung dazu, wie sie nur das Theater bieten kann.
Marie ist zunächst allein auf der Bühne. Denn der Mensch, gerade der noch nicht selbständige, ganz junge Mensch, ist in seinem tiefsten Herzen ein einsames Wesen. Aber Marie ist nicht melancholisch. Sie ist voller Begeisterung für alles, was sie umgibt. Sie bewundert den Nippes im Regal und nimmt ihre olle Stoffpuppe und ihr feines Miniatur-Theater ganz ernst.
Ihre große Schwester Louise – in der Besetzung mit Madoka Sugai eine hochvornehme, elegante, dennoch auch irgendwie praktisch veranlagte junge Dame, die Primaballerina am Hoftheater ist – kommt dazu. Und sie hat auch schon das erste Geburtstagsgeschenk dabei, frivolerweise im Dekolleté: Ein buntes Band flattert für Marie, aus Seide ist es, und ob sie es als Haarband oder als Gürtel verwenden wird, ist noch nicht ausgemacht.
Die gesittete Party, unter dem spitzenmäßigen musikalischen Dirigat von Simon Hewett, kann jedoch beginnen: Tanten und Onkel, die Freunde des Verlobten der großen Schwester, weitere Verwandte, die weiblichen Zwillinge, also Maries jüngere Geschwister, sowie fünf Freundinnen von Marie, ihre Großeltern und natürlich auch Maries Bruder im Teenager-Alter mit seinen Freunden, allesamt Kadetten finden sich ein und empfangen den Ehrengast, den Ballettmeister und Chef von Louise, namens Drosselmeier.
Alessandro Frola, superjung und superhübsch, brilliert als Ballettmeister Drosselmeier, dessen Vorbild für Neumeier bei der Kreation kein geringerer als Marius Petipa selbst war. Seine Sprünge sind sanft, lautlos und von faszinierendem Aplomb wie die eines Panthers. Aber sein Gesicht spiegelt die empfindsamen Züge eines Selbstverliebten, der dennoch alles gibt, um Perfektion zu erzielen. Er ist sensibel und verletzlich, dieser Drosselmeier, im Gegensatz zu anderen Interpretationen, die ihn eher versponnen und egozentrisch zeichnen.
Louis Musin als kecker Fritz, der Bruder von Marie, der Kadett ist, bringt jungenhaften Drive und fröhliche Stimmung en gros mit.
Alexandr Trusch als Günther, der Leutnant ist und mit Louise verlobt, ist keine Neubesetzung, sondern vielmehr legendär: als Ballerino sowieso und in dieser Partie besonders, ein Highlight für sich. Mit unnachahmlicher Geschmeidigkeit und Kraft, mit sanftmütiger Ausstrahlung bei herzhaften Sprüngen und Gesten bezaubert er regelmäßig das Publikum. Wenn er eine Dame hebt, so ist das glaubhaft: Er möchte beschützen und erheben, beglücken und bewahren.
Mit Madoka Sugai entpricht er einer Idealbesetzung des „Louisengünthers“, also des schillernden Paares junger Erwachsener, die auf dem Weg sind, das Zentrum und sogar die Spitze der Gesellschaft zu werden.
Diese beiden Ausnahmesolisten bieten dann auch gen Ende des Ballettabends den Grand Pas de deux, den großen Paartanz: Sie im klassischen Tutu, er in kleidsamen Strumpfhosen.
Aber auch beim Tanz mit der kleinen Marie bewährt sich die ungebrochene Power von Trusch als Günther: Er ist in Maries träumerischen Backfisch-Gedanken der Märchenprinz. Und es ist ihm ein Vergnügen, für den tänzerischen Spaß diese Illusion zu erfüllen.
Als Marie von Drosselmeier ein Paar schimmernde Spitzenschuhe als Geschenk erhält, wird der Traum vom Tanzen für sie konkret. Allerdings klappt das mit dem Spitzentanz noch nicht ganz so.
Nach der Feier schleicht sie sich nochmal zurück ins Wohnzimmer, um ihre Spitzenschuhe anzuziehen. Und sie schläft zwar, ermattet vom intensiven Erlebnis des Geburtstags, ein – aber genau darum geht es hier erst richtig los.
Im Traum erscheint ihr Drosselmeier in seinem am bayerischen König Ludwig IIorientierten Outfit mit Kräuselwelle und Blümchenweste. Frola trägt übrigens aufgedruckte, geöffnete rosa Lilien auf der Weste, während andere Versionen der Weste – etwa auch in München oder in Dresden – kleinteilige Blüten aufgestickt zeigten. Die rundum beliebte Ausstattung von Jürgen Rose lässt halt manchmal (aber nur manchmal) Spielraum für individuelle Gestaltung.
Vor allem aber kennt Drosselmeier den Weg ins Hoftheater, und dorthin nimmt er Marie, die den Nussknacker, ein weiteres Geschenk, im Arm hält, mit.
Probe ist angesagt! Wie einst bei Harald Lander, einem dänischen Choreografen, erstrahlt das Bühnenlicht im Hintergrund, während davor als schwarze Silhouetten die Tänzerinnen wie in einem lebendigen Scherenschnitt ihr Training an der Ballettstange absolvieren.
Louise trägt eine Stola aus Wolle zum Aufwärmen – und ihr Pas de deux mit Drosselmeier ist auch als Gala-Einlage weltberühmt, erinnert er doch an ein Foto, das den Ballettmeister Enrico Cecchetti mit Anna Pawlowa im Ballettsaal zeigt: eine poetische Passage im hektischen Probenbetrieb.
Drosselmeier rast ansonsten hektisch hin und her, verbessert, berät, schimpft, feuert. Eine junge Tänzerin verliert ihren Job und weint. Marie ist betroffen.
Aber als Günther erscheint, nicht zufällig in derselben Uniform, wie sie auch der Nussknacker trägt, ist alles wieder gut. Zum ersten Mal tanzt Marie so, wie sie tanzen möchte – sie kann es und es wird anerkannt. Günther partnert sie mit der gleichen Aufmerksamkeit, wie er es mit einer Erwachsenen tun würde. Und Marie träumt mit ihrem disziplinierten Körper, der sich anmutig in Arabesken und Passés verbiegt.
Ana Torrequebrada ist eine natürlich wirkende Marie, quirlig und niedlich, und sie wirkt nie domestiziert, nicht gezwungen. Die Entwicklung vom Kind zur jungen Frau, die sie in ihrem Traum antizipiert, stellt sie mitreißend und glaubhaft dar.
Eine weitere Neubesetzung dieser Partie stellt diese Saison Olivia Betteridge dar: hübscher, süßer und neckischer als Ana, aber ebenfalls von kindlicher Anmut und tänzerischer Neugier. Auch ihr gelingt die zu zeigende Metamorphose vom etwas trampeligen Backfisch zur zierlichen Tänzerin scheinbar mühelos.
Zu Neujahr wird dennoch Alina Cojocaru, seit Jahren versiert als Marie, mit Alessandro Frola als Drosselmeier den Startschuss ins neue Jahr geben.
Staraufgebote ohne Ende – das bietet „Der Nussknacker“ von Neumeier nachgerade traditionell.
Auch im zweiten Teil, dem nach der Pause, der damit beginnt, dass Marie und Meister Drosselmeier über eine Leiter aus dem Orchestergraben auf die Bühne krabbeln, zeigen die Virtuosen vom Hamburg Ballett, was sie können.
Marie ist hier noch tiefer in ihren Traum eingestiegen – und befindet sich in einer Potpourri-Aufführung mit Auszügen aus lauter Drosselmeier-Stücken.
Einige stammen davon mit Sicherheit in ihrer Urversion von Petipa. Aber Neumeier hat, welch Kunstgriff, sich die künstlerische Freiheit herausgenommen, mit Drosselmeier eben auch einen eigenständigen Künstler zu erschaffen. Dessen Werk wiederum obliegt den Wünschen seines Schöpfers, also Neumeier.
Der „Lebende Garten“, der an „Le Corsaire“ erinnert, ist dabei, „Die Schöne von Granada“ ebenfalls, die eine willkommene Gelegenheit für spanische Flamenco-Folkore ist. Drosselmeier tanzt hier selbst mit, wie so manches Mal bei den bunten Nummernballettchen – eine wirklich tanzintensive Partie.
„La Fille du Pharaon“ zur orientalisch inspirierten Musik entspricht ägyptischen Fantasien eines modern-klassischen Pas de deux, mit himmelblau wehendem Schleier in der Hand sowie den Pyramiden und dunstiger Sandwüste am Horizont. Anna Laudere und Edvin Revazov tanzten gestern dieses Juwel, das an exorbitant schönen Linien alles toppt, was man an Adagio-Tanz im neoklassischen Bereich kennt.
„Esmeralda und die Narren“, Victors Hugos Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ entlehnt, begeistern mit spritzig-clowneskem Flair.
Silvia Azzoni, mit 50 Jahren die Grande Dame vom Hamburg Ballett, fasziniert seit Jahrzehnten in dieser Partie. Und immer noch wirkt sie mit ihren blonden Zöpfen so jung und aufgekratzt, so graziös und wendig wie als Mädchen. Sechs Kavaliere tragen und wirbeln sie durch die Luft, als Narren kostümiert. Ein wahrer Jungbrunnen, dieses Stück!
„Der chinesische Vogel“ ist mit der blutjungen Lin Zhang hingegen ganz neu besetzt. Sie ist 21 Jahre alt und wurde in Peking und in Hamburg bei John Neumeier ausgebildet. Ihre Partie ist klein, aber fein und stellt, gerade was die Balance auf einem Spitzenschuh angeht, höchste Ansprüche. Und bitteschön: Sie ist eine drahtig-elegante Schönheit und leistet sich nicht einen Wackler.
Alessandro Frola partnert sie aber auch mit minutiöser Genauigkeit: Präzisionsarbeit, made in, nein, nicht in China, sondern in Hamburg, aber mit viel chinesischem Flair.
Olivia Betteridge, die andere neue Marie dieser Spielzeit, tanzte gestern vornehm-elegant im „Pas de Quatre“ der Damen, während Matias Oberlin und Karen Azatyan bei den „Variations des hommes“, den „Variationen der Herren“, brillierten.
Ein weiterer Höhepunkt: der russische Tanz, schon 1971 von John Neumeier als „Die tanzenden Leutnants“ kreiert. Mit ihnen passt der Tanz gut in den Plot und erinnert daran, dass wir uns im Traum der kleinen Tochter der Stahlbaums befinden. Aber: Er ist ein großer Auftritt für Fritz und seine Jungs, in der Besetzung von gestern also für Louis Musin, Artem Prokopchuk und Emiliano Torres.
Mannshohe Bocksprünge kennzeichnen die akrobatisch gefärbte Choreografie. Russische Folkloreschritte mit stürmisch-virtuosem Ausdruck sind zudem eingearbeitet. Furios und rasant, atemlos… Und wenn am Ende der kleine Fritz seinen Kumpels in die Arme springt und diese ihn auffangen und halten, sodass es aussieht, als könne er sich lässig da oben ausruhen, haben die drei alle Herzen des Publikums gewonnen. Soviel ist sicher, Vorstellung für Vorstellung.
Die gute Stimmung steigt denn auch gen Schluss immer noch mal an.
Der „Grand Pas de deux“ ist hier ja nicht nur ein vornehm zu zelebrierender Paartanz, sondern im Grunde ein Pas de trois, denn Marie, gestern also Ana Torrequebrada, darf mit den Großen mittanzen und eine Variation übernehmen.
Das ist die Zukunft, von der hier alle träumen: Menschlicher Tanz ohne Rassismus, ohne Ausgrenzung, ohne Diskriminierung, aber mit Lust und Laune, mit noblem Edelmut und von ekstatischer Schönheit.
Madoka Sugai, Alexandr Trusch und Ana Torrequebrada übermitteln diese Botschaft von John Neumeier in jedem Sekundenbruchteil.
Auch das „Ballabile“, das „Tanzlied“, das hier als Finale eingesetzt ist und alle Protagonisten des Aufführungstraums noch einmal vereint, reißt mit hinein in eine Welt, die keine Ungerechtigkeit und keine Dummheit kennt.
Kein Wunder, dass Marie eigentlich gern in ihrer Traumwelt bleiben würde. Als sie erwacht, ist es noch tiefe Nacht – und sie befindet sich im ihr vertrauten Wohnzimmer der Stahlbaums. Aber ihre Liebe zum Tanz und zum Theater wird sie nicht vergessen!
In diesem Sinne wünschen wir den Künstlern und Ihnen den bestmöglichen Rutsch ins neue Jahr – und vergessen Sie nicht Ihre Liebe zur Schönheit und zur Wahrheit. Prost Neujahr 2024!
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz