„Wer geht schon ins Kino, um dann schluchzend den Heimweg anzutreten? Niemand!“, meinte die Tänzerin und Theatertechnik-Erfinderin Loie Fuller und irrte gewaltig. So begabt und erfolgreich sie zeitweise in ihrer eigenen Sache war – sie war diese Frau am Ende der Belle Époque mit den großen, wirbelnden Tüchern, die an Armstangen aus ihrem Gewand wuchsen – so sehr schätzte sie das Publikum in Sachen Kino falsch ein. Aber auch wenn das Melodramatische nicht ihr Ding war: Sie selbst war eine Pionierin und unermüdliche Schöpferin einer nie endenden Performance. Sabine Krayenbühl und Zeva Oelbaum haben 2022 eine filmische Dokumentation über die Künstlerin erstellt, die jetzt auf arte concert zu sehen ist. Die Schwäche des Films bildet allerdings vor allem die erste halbe Stunde, in der es nur um die rein technischen Effekte von Loie Fuller und um deren Fortsetzung in der Kunst- und Theatergeschichte geht. Aber dann!
Nach gut 32 Minuten kommt Popstar Shakira ins Bild und raubt einem den Atem: mit einer original bei Loie Fuller abgekupferten, allerdings in grellrote, sichtlich kostbare Seide getauchten Tuch-Show. Eine Mitarbeiterin erklärt, worum es dabei geht: Die am Körper der Sängerin blütenblattähnlich hochgewirbelten Tuchtrassen stehen in Shakiras Song „No“ für die erfolgreichen Emanzipationsbestrebungen einer Frau, die sich aus einer destruktiven Beziehung löst. Es ist das Paradoxon der Kunst, dass manchmal die Form einen fast gegenteiligen Inhalt meint. Hier steht das kunstvoll drapierte, hochgerüstet artifiziell agierende Stoffzeug für einen Akt der Befreiung!
Ohne Bildung kein Pardon, ohne Wissen kein Genuss – wer nicht wenigstens fühlt, dass so eine Befreiung vom falschen Leben niemals ohne Beteiligung des Verstandes geschieht, hat wohl keine Welterfahrung gesammelt.
Ab dann weiß man schließlich auch, wovon in der Doku die ganze Zeit die Rede ist, wenn Loies Zeitgenossen oder auch ihre künstlerischen Nachfahren von dem enormen Ausdruck ihrer an riesenhafte Orchideen- und Lilienblätter erinnernde Tuchbewegungen schwärmen.
Es ging Loie offenbar nicht nur um pure Poesie, um die Naturhaftigkeit von stilisierter, dennoch auch wilder Bewegung – sie benutzte den Textilstoff auch als Verlängerung ihres Körpers, mehr noch: anstelle ihres Körpers.
Und sie konnte sich von ihrer eigenen Hässlichkeit befreien, indem sie ihren gedrungenen, molligen Körper unter den Stoffmassen versteckte und anstelle des Körpers die Seide tanzen ließ.
Von Jennifer Tipton, der US-amerikanischen Lichtdesignerin, die schon für Jerome Robbins in „Dances at a Gathering“ und „The Concert“ die eigenartig-stimmungsvollen Lichträume schuf, bis zu Robert Wilson, dem ebenfalls aus den USA stammendem Schauspielregisseur, berichten hier eine ganze Reihe von prominenten und weniger bekannten Künstlern, inwiefern sie Loie Fuller bewundern oder von ihr inspiriert wurden. Manchmal wirkt da zwar was an den Haaren herbeigeredet, oft aber machen die Verbindungen heutiger Kunst zu den Anfängen der Moderne durchaus viel Sinn.
Anekdoten über Martha Graham sind dabei ebenso amüsant zu hören wie die Stories aus dem Leben und Werk der geehrten Loie Fuller. Diese hatte als gerade noch junge Frau, nachdem sie zuvor viele Jahre Schauspielerin mit mittelprächtigem Erfolg gewesen war, einen Tanzauftritt als Schmetterling.
Die Art, wie sie ihre großen, bunten Stoffflügel bewegte, verschaffte ihr viel Applaus und Zuspruch – und sie erkannte, dass ihr Körper zwar nicht für den normalen Bühnentanz geeignet war, sie mit ihren starken Armen und mit lieblich-anmutigen Bewegungen aber durchaus eine eigenwillige Illusion erzeugen konnte, indem sie Textilien zu Kunstwerkzeugen machte.
Sie war da allerdings schon über 30 Jahre alt – und gerade ihre eigene Berufs- und Lebenserfahrung half ihr, selbständig eine neue Sache zu entwickeln.
So experimentierte sie, erfand die großen Stangen, um die ärmeligen Auswüchse ihres Tanzkostüms zu lenken – und sie wurde rasch kopiert, was ein Zeichen für ihren Erfolg war. Zwischen den USA, Berlin und Paris pendelnd, schaffte sie es bald, den Direktor und das Publikum der Folies Bergères in Paris zu begeistern. Das war ihr offizieller Durchbruch: Loie Fuller war jetzt nicht mehr zu halten, ein Weltstar mit einem großen Soloprogramm, das mehr Show als Tanz war, aber dennoch auch von den Zeitgenossen schon ganz ernst genommen wurde.
Die generelle Bedeutung des Bühnenlichts steigerte Fuller, indem sie ihre Gewandmassen als Projektionsfläche für bunte Farbräusche nutzte. Als wahre Heroine des Lichts ließ sie Lichtfilter anfertigen, also bemalte Glasscheiben, und wurde nicht müde, mit solchen Schablonen zu experimentieren. Zu Beginn ihrer Amtszeit als Tuchtänzerin war es auf der Bühne noch fast schummrig – später ließ sie bis zu zehn Scheinwerfer auf ihrer zweiten Haut aus Seide tanzen. Sie benutzte übrigens elektrisches Licht, womit sie am Theater eine der ersten oder sogar die erste überhaupt in ihrer Zeit war.
Mitunter entstanden ihre Inszenierungen aus der situativen Zusammenarbeit mit den Lichttechnikern. Manchmal aber übte sie auch allein die ganze Nacht lang im Theater neuartige Schritte, die im Lichtzauber groß rauskommen konnten.
Was in der Doku zu kurz kommt, ist der Inhalt der Tuchtanzkunst der Fuller. Das sei hier nachgetragen. Tatsächlich waren es Naturphänomene, denen sie mit künstlerischen Mitteln auf die Schliche kommen und diese, gleichermaßen erhöht, nachstellen wollte. Die Titel ihrer Tänze sprechen da Bände: „La Serpentine“ („Die Schlangenlinie“); „La Violette“ („Das Veilchen“); „Le Papillon“ („Der Schmetterling“); „La danse du feu“ („Feuertanz“).
Fuller traf sich mit den Größen ihrer Zeit. Mit dem Bildhauer Auguste Rodin, mit dem Dramatiker George Bernard Shaw. Aber auch mit Physikern und Radiologen. Sie erfand immer neue Tricks und Kniffe, um ihrer Tuchtanzkunst neue Impulse einzuhauchen.
Ob manche der Substanzen, die die Kostüme von ihr und ihren gelegentlich mit auf die Bühne geschickten Tänzerinnen farblich fluoreszierend verzierten, krebserregend waren, lässt sich nur noch erahnen. Aber eben auch nicht ausschließen. Mehrere ihrer Tänzerinnen erkrankten später an Krebs – und auch sie selbst ertastete den gefährlichen Knoten in ihrer linken Brust.
Sie starb verarmt, auf der Flucht vor ihren Gläubigern, am 1 Januar 1928. Da war sie schon längere Zeit wieder aus der Mode gekommen; ihr Stern am Erfolgshimmel strahlte nur wenige Jahre. Immerhin aber konnte sie ihre lesbische Liebe zu ihrer jüngeren Gefährtin Gab Sorère fast offen ausleben, in einer Zeit, in der man dieses nur sehr wenigen Frauen erlaubte.
Die starke Nachwirkung, die man Loie Fuller heute zuschreibt, gilt vielleicht auch der Tatsache, dass man die Effekte von buntem Theaterlicht auf „tanzendem“ Textil immer wieder neu erfindet, sowie man sich in einer großen Robe ins Scheinwerferlicht stellt. Jedes Kind übt in seinem Leben mal mit Gardinenstoff oder einem Vorhang vor dem Spiegel ähnliche Vorgänge. Da erinnert man sich später im Theater jedes Mal wieder an die drollige, tapfere, armstarke Loie – und auch an ihren Kampf um eine Kunst, die ihr Leben war.
Gisela Sonnenburg