„Onegin“ braucht keine Fan-Fiction. Die Figuren darin sind so rund und ins Puzzle passend, dass jede künstliche Zusatz Makulatur wäre. Die Welt der Liebenden, sie ist hier kein Traum, aber ein Universum für sich. Der Meisterchoreograf John Cranko schuf Ende der 60er-Jahre nach dem satirisch-romantischen Versroman „Eugen Onegin“ von Alexander Puschkin ein höchst ernst zu nehmendes Tanzdrama. Es geht um Liebe, Liebe und Liebe – und um den Tod, der als Lehrmeister die Beziehungen erst zerschneidet und dann rückwirkend entlarvt. Jetzt steht „Onegin“ wieder auf dem Spielplan vom Bayerischen Staatsballett – und der Jubel mit standing ovations am Ende des gestrigen Abends im Münchner Nationaltheater mag schon für sich sprechen.
Laurretta Summerscales tanzte mit Bravour die schwere Partie der Tatjana, und die Wandlung dieses zunächst rückhaltlos verknallten, später klug um Fassung ringenden weiblichen Wesens zeigt sie so glaubhaft, als tanze sie die eigene Biografie. Ihr Onegin, der sie fast krankhaft verliebt macht, ist der virtuose Osiel Gouneo: Er zeigte gestern alle Facetten der versnobten Arroganz eines Weltbürgers, der doch in der eigenen Eitelkeit verharrt. António Casalinho ist das Gegenstück zu diesem selbstbewussten russischen Dandy Onegin: Casalinho brilliert als Poet Lenski erst mit verliebter Frische, dann mit Hitzköpfigkeit, schließlich mit todessehnsüchtiger Melancholie. Auch seine Partie hat außer lyrischer Grandezza die Anmutung von einem Parforce-Ritt durch die Emotionen. Lenskis Verlobte Olga wiederum wird von Margarita Fernandes mit Verve und Schwung interpretiert. Sie ist das mustergültige Ausbund an Jugend und Charme, an Naivität und Hingabe. Anders als im Roman von Puschkin lässt Cranko sie nach dem Tod Lenskis nicht umschwenken und einen zuvor von ihr abgewiesenen Verehrer heiraten. Olga bleibt im Ballett „Onegin“ so in Erinnerung, wie sie im ersten Akt agiert: als liebliches, aber leicht zu beeindruckendes, später kummervoll bittendes Mädchen.
Doch zunächst lernt man die Familie von Madame Larina (als Personifikation der gutmütigen Fürsorge zu sehen: Séverine Ferrolier) kennen: Landadel, nicht arm, aber nicht protzig. Der Vater verstorben, wohl lange schon, die beiden Mädchen herangewachsen und beide noch unverheiratet. Ihre einstige Amme, von der Spitzenschuh-Verwalterin des Bayerischen Staatsballetts, Elaine Underwood, mit unbeirrbarer Diensteifrigkeit gegeben, gehört als liebevolle Dienerin fest zum Bestand.
Man erfreut sich des sommerlichen Gartens, da kommt Besuch: Lenski und Onegin brechen in das von Frauen geprägte Gefüge ein wie das lächelnde Unheil im vornehmsten Outfit. Lenski mit seinem Sonnenschein-Gemüt tanzt voll spritziger Zuneigung einen Pas de deux mit seiner Verlobten. Ach, es tut so gut zu sehen, wie die jungen Leute es genießen, ein so gut geratenes Paar abzugeben!
Onegin jedoch, mit immer leicht finsterer Miene, ist für die belesene Tatjana, eine Vorläuferin der russischen intellektuellen Frauen der Moderne, die Überraschung ihres Lebens. Ein Blick von ihm – und sie schmilzt dahin. So einen Mann kannte sie bisher nur aus ihren Büchern… mysteriös und kühl wirkt er, und dennoch scheint er so sehr etwas Besonderes zu sein.
Das Ensemble begeistert mit Spagatsprungreihen, die die Damen an den Händen ihrer Kavaliere zwei mal diagonal über die große Bühne vollführen. John Cranko ist mit dieser Passage ein Coup gelungen, wie ihn die wenigsten weltbekannten Ballette bekommen: eine unverwechselbare, Gänsehaut treibende, so kurze wie prägnante Gruppensentenz.
Die Jungs hier dürfen auch mal zeigen, was sie können, wenn sie mit großen Sprüngen die Szenerie des Gartens entern. Die Mädels kichern dazu mit ihren langen, schlaksigen Armen – und tanzen einen griechischen Folklore-Ringelreih, der dennoch ganz echt russisch wirkt. Das liegt zum Teil auch an der Partitur: Kurt-Heinz Stolze machte durch neue Orchestrierungen und Arrangements aus verschiedenen Stückauszügen von Peter I. Tschaikowsky einen einzigen cineastischen Ohrenschmaus voller Pathos und Eleganz; so russisch, dass Tschaikowsky selbst wohl mit „karaschó“, „okay“, zugestimmt hätte.
Bei einem Spaziergang öffnet sich der dominante Onegin der ihn anbetenden Tatjana. Er tanzt für sie sein Weltschmerz-Solo, das weniger in technischer Hinsicht als vielmehr in Sachen Ausdrucksstärke die höchste Qualität vom Ballerino verlangt. Als er dann Tatjana in die Luft hebt, ist ihr, als würde das Leben erst jetzt beginnen.
Doch der schöne Mann zeigt sich spröde. Nur in Tatjanas Traum – in dem er aus dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer zu ihr kommt – ist er ein anschmiegsamer, geschmeidiger Liebhaber. Wieder hebt er sie, weit über seinen Kopf hinaus darf sie schweben – und Tatjana hat die stärksten Lust- und Glücksgefühle, derer sie fähig ist. Ist wirklich alles nur ein Traum?
Die Hebungen im Stück sind übrigens wesentlich. John Cranko hatte sie schon im Kopf, bevor das Stück als Ganzes entstand. Er wollte es eigentlich für Margot Fonteyn und Rudolf Nurejew in London kreieren. Aber weil Margot, nicht mehr ganz jung, hohe Hebungen nicht mochte, ließ sich das, was Cranko vorhatte, mit diesen Weltstars nicht machen. So fiel die Wahl auf Crankos Ballettwunder-Metropole Stuttgart, wo Marcia Haydée und Heinz Clauss als erste die Hauptrollen tanzten.
Crankos Tatjana ist eine ungewöhnliche, auch auffallend aktive junge Dame. Für die Frauenfiguren im 19. Jahrhundert hat sie viel Spielraum, sowohl in der äußeren Handlung als auch in der inneren, die die psychologischen Vorgänge beschreibt. Onegin ist ihre erste große Liebe, und was genau er in ihr anspricht und auslöst, wissen viele aus eigener Erfahrung.
Sie schreibt dem verehrten Junggesellen einen Brief. Den gibt er ihr jedoch zurück, und zwar in höchst demütigender Weise: Er zerbröselt ihn in ihre Hände, ausgerechnet auf einem Fest zu ihren Ehren. Wie nervös er dabei auf der Stelle tänzelt, aufpassend, dass ihn niemand mit diesem leicht durchgeknallten Mädchen sieht…
Tatjana gibt nicht auf. Sie tanzt bald darauf ein Solo für ihn, zeigt ihre Raffinessen und Geradheiten, ihre Pirouetten und Sprünge. Da springt er erbost von seinem Patience-Tisch auf, haut die flache Hand auf die Tischoberfläche. Was erlaubt sich dieses Girl eigentlich, er lässt sich doch nicht von ihr brüskieren!
Tatjana läuft weinend hinaus. Er geht ihr nicht nach. Er ist kalt wie ein Fisch.
Na, doch nicht ganz so kalt. Um Dampf abzulassen, beginnt er mit Olga zu flirten. Wie wild er mit ihr tanzt – das ist schon mehr als ein bisschen Gesellschaftstanz. Im Getümmel der Tanzlustigen fallen sie auf. Olga macht große Augen: Dieser Onegin ist wirklich ein Charmebolzen!
Das wiederum ruft Lenski und dessen leicht entflammbare Eifersucht auf den Plan. Olga bemerkt aber nicht, wie sehr er gereizt ist. Er soll das ruhig aushalten, ist doch nur für ein paar Tänze. Gar nichts hält Lenski aus. Er erbost sich, er legt sich mit Onegin an – und fordert den Lebenserfahrenen zum Duell.
Ein letztes großes Solo tanzt dieser tragische Poet Lenski, er tanzt es nur für sich, für Gott, für den Mond. Er bereitet sich darauf vor zu sterben und doch hofft er aufs Überleben. Cambrés und Arabesken, beschwörend erhobene Arme und sanfte Pirouetten – António Casalinho ist ein schmachtender Lenski, wie er im Buche steht.
Onegin versucht noch, ihn vom Duellvorhaben abzubringen. Umsonst. Der Junge will es wissen, und wenn Onegin nicht schießt, wird er von seinem ehemaligen Freund selbst totgeschossen. Lenski fällt im Nebel einer sich zum Ende neigenden Vollmondnacht.
Zehn Jahre sind vergangen, da sehen sich Tatjana und Onegin wieder. Er hat graue Schläfen bekommen. Sie fand einen Ehemann, Fürst Gremin, der sie so liebt, wie sie es verdient: mit respektvollen, nicht mit demütigenden Gesten.
Matteo Dilaghi gibt einen fantastischen Gremin ab. Er ist sehr attraktiv, wirkt gefestigt, ist ein glamouröser Fürst, keine hausbackene Notlösung. Onegin kennt ihn von früher, sieht ihn jetzt mit Tatjana – im lachsroten Kleid – tanzen, und er ist entsetzt vor Eifersucht.
Das ehemalige naive junge Mädchen ist zur selbstbewussten Frau gereift. Jeder Mann sieht da zwei Mal hin. Onegin noch öfter. Er kann die Augen nicht abwenden von ihr. Er will sie haben. Jetzt will er sie haben, da sie einem anderen gehört.
Er kündigt seinen Besuch in einem Brief an. Sie ist alarmiert. Bittet Gremin, bei ihr zu bleiben. Der lacht nur. Das schaffst du schon allein!
Er hat ja keine Ahnung…
Der letzte Pas de deux dieses Stücks ist legendär. Ganz große Weltklasse. Wie ein räudiger Hund kommt Onegin in Tatjanas Zimmer, scharwenzelt um sie herum, versucht, sie demütigst für sich zu gewinnen. Ach! Er fasst sie an der Hand an, packt sie an der Taille. Er sitzt mit ihr am Boden. Er kniet vor ihr. Immer wieder versucht er, sie zu erregen. Sie zu faszinieren, sie zu vereinnahmen.
Er küsst sie von hinten auf die vom Kleid unbedeckt bleibende Schulter.
Er hält sie, wenn sie ihre Attitüden vollführt. Er dreht sie, wirbelt sie, hält sie fest und noch fester. Fester, als es jemand anderes sich auch nur vorstellen könnte.
Aber sie entkommt ihm immer wieder. Kurz, bevor sie weich wird, kurz, bevor sie bereit ist, die Ehe zu brechen, besinnt sie sich. Entzieht sich dem Charmeur.
Selbstschutz ist es wohl auch, nicht nur die Treue zu ihrem Ehemann.
Ist einem Onegin zu trauen? Sicher nicht. Am Ende würde er sie herabsetzen, wie er es früher so gerne tat. Dafür gibt sie sich nicht her. Oder doch?
Ihre ethischen Werte und auch ihre soziale Sicherheit sind ihr wichtiger als ein stürmisches, vor allem in die Jugendzeit passendes Liebesglück, das sie ohnehin schon verpasst hat. Tatjana bleibt stark. Sie zerreißt Onegins Brief an sie, gibt ihm die Schnipsel. Und sie weist ihm die Tür. Er flüchtet, ist schockiert von ihrer Härte. Und doch wissen beide: Solange sie leben, solange sie fühlen und denken können, werden sie einander nicht vergessen.
Die Musik rollt dramatisch auf uns zu, kommt uns ganz nahe. Tatjana senkt ihre geballten Fäuste. Sie hat sich selbst besiegt.
Im Publikum wird geschluchzt. Geseufzt. Einzelne Tränen kullern, manche Zuschauende schniefen. Es ist so schön. So traurig, so edelmütig, so hehr. So rührend.
John Cranko hat in seinem Werk nie wieder diese Gefühlstiefe erreicht. Es ist das ganz große Kino, das ihm da gelungen ist. Nicht zu toppen, nicht zu vernachlässigen. So ein Stück will gehegt und gepflegt werden. Es ist gut, dass viele Compagnien weltweit „Onegin“ im Repertoire haben. Aber sie sollten das Tanzdrama auch regelmäßig entstauben, neu einstudieren, mit Leben füllen. So wie jetzt das Bayerische Staatsballett.
Ganz kühn kommen einem Gedanken wie der, dass die Abwechslung das halbe Leben ist. Könnte man „Onegin“ nicht mal in neue Gewänder stecken? In eine neue Szenerie?
Die Ausstattung von Jürgen Rose ist in sich stimmig und weltbeliebt, und auch andere, die zum Beispiel von Elisabeth Dalton für „Onegin“, sind an seine Designs angelehnt. Aber man könnte „Onegin“ doch auch in viel bunteren, knalligeren Farben tanzen lassen, um den sinnlichen Charakter des Stücks zu betonen. Tatjana müsste am Ende keine mokkabraune Langeweile tragen. Die Mädchen im Garten müssten kein Butterblumengelb zeigen, es ginge auch ein himmlisches Blau. Und die Jungs müssten daselbst nicht ärmlich in Braungrün auftreten, sie könnten muntere russische Folklore tragen, mit roten Kosakenhemden. Vielleicht hat Jürgen Rose, der 2019 in Stuttgart einen anderen modernen Klassiker, nämlich „Mayerling“ von Kenneth MacMillan neu ausstattete, Lust, den „Onegin“ ein zweites Mal einzukleiden?
Das sind nur so einige Gedanken zur Erneuerung von modernen Klassikern. Vello Pähn, der Dirigent, zerstreut sie. Er dirigierte „Onegin“ gestern mit Sorgfalt und Temperament, mit schwingenden Steigerungen und mitreißenden Solomelodien. Ach, man hat es längst lebenslang im inneren Ohr: wie hier die Klarinette das Motiv der brodelnden Leidenschaft hinhaucht.
Wie sie mit jedem Bruchteil einer Sekunde sanft, aber unbarmherzig zu verstehen gibt, dass sie nie aufgeben wird. Wie sie uns klar macht, wie diese Liebe ist: unauslöschlich.
Gisela Sonnenburg / Franka Maria Selz
www.bayerisches-staatsballett.de
P.S. Und während Sie dieses hier lesen, hat schon eine zweite Besetzung in München den „Onegin“ in Angriff genommen: mit Madison Young als Tatjana und Jakob Feyferlik als Eugen Onegin. Bestimmt auch sehr sehenswert!